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Militärisches Zeremoniell

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Als Militärrituale lassen sich die zeremoniellen Auftritte uniformierter Militärs ausserhalb von Kampfeinsätzen bezeichnen.

Historisch-systematisch

In Militärritualen tritt der jeweilige seinen Bürgerinnen und Bürgern als die bewaffnete Macht entgegen, aus der er sich ursprünglich begründet hatte. Die emotional erhebende, das Nationalbewußtsein stärkende Geste einer bewaffnet und formiert aufmarschierenden Armee enthält immer auch den subtilen auf die in letzter Instanz gewaltsame militärische Durchsetzbarkeit der geltenden - und also in einem sehr materiellen Sinne 'herrschenden' - Ordnungsvorstellungen. Öffentliche Militärrituale verweisen subtil auf vergangene Militäreinsätze - und zwar nicht nur in Kriegen, sondern auch in Bürgerkriegen. Hieraus resultiert die implizite Drohung, die bewaffnete Macht könne auch in Zukunft eingesetzt werden. Das Monopol legitimer Gewalt und seine mächtigste Institution, das Militär, begegnen den Staatsbürgern in den Militärritualen. Diese militärischen Staatsrituale gemeinsam mit der modernen Staatlichkeit entstanden. Die Entstehung moderner Staatlichkeit wiederum ist untrennbar verbunden mit der historischen Herausbildung einer bestimmten Produktionssphäre und -form, des Kapitalismus. Dessen Rahmenbedingungen (z.B. Privateigentumsordnung, Vertragssicherheit) wiederum werden letztinstanzlich durch den Staat gewaltsam mit Hilfe von Polizei und Militär aufrechterhalten. Die periodisch vollzogenen Militärrituale halten die die Möglichkeit und damit die Drohung dieser Gewalt im zivilen Alltagsbewußtsein symbolisch aufrecht.

Verschiedene Typen von Militärritualen

Die teilweise spektakulären Zeremonien der Militärrituale haben einen hohen Öffentlichkeitswert, sind auf die Teilnahme der Zuschauer und auf die große, erhebende Geste angelegt, sprechen zum Gefühl und zum Auge - und das nicht erst, seitdem es das Fernsehen gibt, für das sie allerdings besonders ergiebiges Material liefern. Jede dieser Formen enthält selbst alle wesentlichen Merkmale eines Militärrituals. Die spezifische Wirkung jeder dieser Formen beruht allerdings auf der besonderen Bedeutung bzw. Ausprägung je bestimmter Merkmale.

  1. Militärische Initiationsrituale: Jeder Rekrut legt am Ende seiner Grundausbildung sein Gelöbnis ab und wird zum Soldaten. Das Gelöbnis läßt sich als militärisches Initiationsritual betrachten. Die Disziplinierungsfunktionen lassen sich sehr gut mit Theorien über Kontrolltechniken und Internalisierung von Zwängen (Foucault) und faktisches Sprechen bzw. Anrufungen (Althusser/Butler) beschreiben.
  2. Protokollarische Empfangsrituale: Jeder Staatsgast wird mit 'militärischen Ehren' empfangen und verabschiedet. Bei der öffentlichen Darstellung des Treffens mit Staatgästen bilden die Ehrenformationen den Rahmen. Der militärische Staatsempfang ist ein protokollarisches Ritual, bei dem nicht nur gegenseitiger Respekt, sondern auch die jeweilige Souveränität - symbolisch repräsentiert durch 'Ehrenkompanien' und militärische Musikkapellen, die die Nationalhymnen abspielen - demonstriert wird. Visibilität und Visualisierung (Münkler) bilden hier die zentrale Funktion.
  3. Ehren- und Trauerrituale: Besondere Persönlichkeiten der hohen Staatspolitik bekommen bei besonderen (nationalen oder internationalen) Anlässen an ihrer Residenz eine Wache. Je nach Bedeutung der Persönlichkeit und des Anlasses stehen zwei bis viele Soldaten gut sichtbar, aber ohne tatsächlichen Schutzauftrag, z.B. vor dem Haupteingang. Eine solche Wache hat ausschließlich die Funktion der Ehrerbietung: Formalisierte Vorgänge der Ehrerweisung beschreibt Goffman als Interaktionsrituale.
    • Daneben erhalten Menschen - meist Männer -, die sich im Laufe ihres Lebens besonders um den Staat verdient gemacht haben - entweder indem sie erfolgreich Staatspolitik betrieben haben oder indem sie als Soldaten im Einsatz für den Staat getötet wurden - ein Staatsbegräbnis mit Militärbeteiligung. Das Staatsbegräbnis als Ehrenritual für einen Toten bildet den Sonderfall des Trauerrituals.
    • An bestimmten Jahrestagen und zu bestimmten wiederkehrenden Anläßen finden Kranzniederlegungen statt. Die Geschichte des Ortes und des Datums etwa in Form der gehaltenen Reden oder der den Gedenktag umrankenden öffentlichen Diskussionen stehen dabei immer im Mittelpunkt. Über die Verbindung von erhabener militärritueller Geste und Präsentation einer spezifischen Geschichtsinterpretation wird hier Vergangenheitspolitik (Frei) gemacht. Kulturelles Gedächtnis (Assmann) gestützt. History Wars (Linenthal, Engelhardt) über den Soldatengräbern ausgetragen. Hier handelt es sich um Erinnerungs- bzw. Gedächtnisrituale.
  4. Die großen und kleinen Armeen der Welt zeigen sich und ihr Gerät üblicherweise bei Militärparaden. Die mehr oder weniger großartigen und beeindruckenden Aufzüge und Demonstrationen militärischer Potenz und Präsenz stellen integrative Imponierrituale dar: Die soldatische Masse flutet in den militärischen Kollektivkörper. Diese Flut (Theweleit) zieht die zivilen Zuschauer in den Bann und vereint sie in ihrer Faszination. Die spezifisch deutsche Form des Imponierrituals ist der Große Zapfenstreich - eine musikalisch und religiös aufgeladene Miliärfeierlichkeit zu ganz besonderen staatlichen oder militärischen Anlässen.

Inhaltlich-funktional

  1. Militärritual ist Staatsritual: Jedes Ritual enthält eine Botschaft. Das katholische Ritual hat mit der christlichen Botschaft z.B. einen solchen Inhalt, da wird das Mysterium der Transubstantiation zelebriert. Wenn eine politische Gemeinschaft nun wie der Staat sich darstellt, indem er seine organisierte Macht aufmarschieren läßt, zeigt sich im Ritual die Substanz eben dieses modernen Staates. Er ist historisch-systematisch charakterisiert dadurch, daß er das Monopol physischer Gewaltsamkeit beansprucht und ausübt. Dieses Monopol physischer Gewalt ist das Hauptcharakteristikum des modernen Staates - von daher ist es logisch und konsequent und alles andere als anachronistisch, wenn in der symbolisch-rituellen Imaginierung und Reproduktion von Staatlichkeit das Militär die zentrale Rolle spielt.
  2. Militärrituale stiften Gemeinschaft. Indem sie das nach Innen (Militär-Innen, Staats-Innen) tun, definieren sie immer (explizit oder implizit) ein Außen und bekommen damit die Auswirkung, gerade auch Nicht-Zusammengehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit bewußt zu machen und haben eine aktive Abwendung verschiedener gesellschaftlicher Gruppierungen zur Folge. Hier ergeben sich Anknüpfungspunkte zum unterschwelligen Rassismus aus der Mitte der Gesellschaft und zur Verminderung der Akzeptanz gegenüber alternativer Geschlechterarrangements - immer vorausgesetzt, daß der männliche Teil der Gesellschaft sich überwiegend in die Symbolik der Rituale einzubinden bereit ist.
  3. In den Militärritualen findet Entpolitisierung von Politik durch Symbolisierung statt. Gewisse Symbole werden politisiert. Auf einer politischen Ebene wird sehr viel über Symbole, Kultur - z.B. 'Leitkultur' -, also über die sog. 'weichen Tatsachen' diskutiert. In diesem Sinne 'weich' ist auch die typische politische Rede anläßlich solcher militärrituellen Veranstaltungen über Gemeinschaft und Gemeinsamkeit. Und bezeichnenderweise schafft es auch die Gegenrede trotz ernstgemeinter kritischer Motivation i.d.R. nicht, dieser 'weichen' Rede Härteres entgegenzusetzen. Politik findet dann - durchaus kontrovers - auf auf einer anderen Ebene statt. Auf dieser Ebene werden zusätzlich Begriffe eingeführt wie Nation oder 'unsere Geschichte'. Herrschaftliche Politik braucht diese Begriffe und all die Symbole, Rituale und symbolischen Handlungen, weil Handlungseinheit produziert werden muß. Ginge es unumwunden um konkrete soziale Prozesse, dann wäre letztere kaum in dem Maße herstellbar. Soziale Widersprüche, unterschiedliche Interessenlagen lassen sich durch Militärrituale mit einem symbolischen Überbau überlagern.

Hauptsächlich aufgrund der historischen und der funktionalen Dimensionen bilden die öffentlichen Gelöbnisse der Bundeswehr einen der Hauptanstoßpunkte für die Protesttätigkeiten antimilitaristischer und pazifistischer Gruppen und Bewegungen.