Geschichte des Antisemitismus bis 1945
Antisemitismus ist ein von Judengegnern eingeführter Begriff, der Diskriminierung und Verfolgung von Juden als Gruppe begründen und rechtfertigen sollte. Er stützte sich historisch auf rassistische Vorurteile und untermauerte damit einen völkisch, nationalistisch und sozialdarwinistisch begründeten Judenhass.
Diese Ideologie formte sich nach 1789 in verschiedenen europäischen Staaten als Säkularisierung des mittelalterlichen christlichen Antijudaismus. In fast allen Ländern Europas und den USA lassen sich bis 1945 und auch danach antisemitische Tendenzen feststellen.
Besonders im deutschen Kaiserreich und in Österreich formierte sich der Antisemitismus als politische Bewegung, die im Lauf des 19. Jahrhunderts zunehmend aggressiv judenfeindliche Ziele propagierte und anstrebte. Darauf konnte der Nationalsozialismus seine Judenverfolgung aufbauen, die schließlich zum Holocaust (Schoa) führte.
Dieser Artikel konzentriert sich auf die Entwicklung der antisemitischen Ideologie von 1789 bis 1933. Die Rolle des Antisemitismus im „Dritten Reich“ behandeln ausführlich die Artikel Holocaust und Zeit des Nationalsozialismus.
Seit 1945 ist Antisemitismus in Europa keine staatlich propagierte und praktizierte Ideologie mehr. Es existieren jedoch nach wie vor antisemitische Vorurteilsstrukturen und aggressive Tendenzen gegen Juden. Diese werden in den Artikeln Antisemitismus nach 1945 und Antisemitismusdebatte beschrieben. Ihre wissenschaftliche Erforschung in Vergangenheit und Gegenwart behandelt der Artikel Antisemitismusforschung.
Offene antisemitische Äußerungen und Handlungen gelten in der Bundesrepublik Deutschland und in der Republik Österreich nach den Erfahrungen der NS-Zeit als Straftaten: Sie können z.B. als
- Volksverhetzung,
- bei entsprechendem Material als Verbreitung von Propaganda verfassungsfeindlicher verbotener Organisationen oder Parteien oder
- bei besonderen, schwerwiegenden Bedrohungen oder Tätlichkeiten als Landfriedensbruch bestraft werden.
Überblick
Der neuzeitliche Antisemitismus definiert Juden nach ihrer Abstammung, nicht ihrer Religionszugehörigkeit. Das unterscheidet ihn vom Antijudaismus: Diese christliche Judenfeindschaft begann mit der Entstehung der Kirche seit 70 n.Chr., prägte das Mittelalter und trat nach der Aufklärung in Mitteleuropa zurück. Doch sie beeinflusste und begleitete die Entstehung des Antisemitismus, so dass sich beide Phänomene kaum voneinander trennen lassen.
Der Begriff wurde 1873 von dem deutschen Journalisten Wilhelm Marr als fehlgeprägtes Synonym für den Judenhass eingeführt. Obwohl er sich - wörtlich genommen - gegen alle zur semitischen Sprachfamilie gehörenden Völker richtet, wurde dieser Begriff nie gegen die ebenfalls semitischen Araber, Aramäer, Amharen oder andere semitische Völker verwendet, sondern gezielt nur gegen die als „Rasse“, nicht als Religionsgemeinschaft betrachteten Juden.
Seit dem Holocaust bezeichnet Antisemitismus im weiteren Sinn alle judenfeindlichen Tendenzen, die in Verbindung mit typischen, stets wiederkehrenden Klischees auftreten. Die Mechanismen, durch die pauschale Judenbilder immer wieder entstehen, gelten als Beispiel für Bildung von Vorurteilen und politische Instrumentalisierung daraus konstruierter Feindbilder (Wolfgang Benz).
Aber während Rassismus sonst eher eine Minderwertigkeit der verachteten Gruppe unterstellt, wird „den Juden“ bzw. dem "Weltjudentum" ein übergroßer Einfluss, Gefährlichkeit und Machtstreben bis hin zur Weltherrschaft unterstellt. Um dies zu bestätigen, verallgemeinern Antisemiten stets vermeintlich oder tatsächlich problematische Handlungen aller Art, von einzelnen Juden, jüdischen Organisationen oder Nichtjuden, denen z.T. unterstellt wird jüdisch zu sein. Die stereotype Struktur dieses Weltbilds immunisiert sich dabei gegen außenstehende Korrektive – ein Merkmal aller klassischen Verschwörungstheorien.
Ein eigenständiges Phänomen ist jedoch, dass Antisemitismus oft „antimoderne“ Bewegungen begleitet. Er lastet negative Begleitumstände von komplexen gesellschaftlichen Vorgängen wie Industrialisierung, Urbanisierung, Globalisierung etc. gern „den Juden“ an und verbindet sich dabei mit anderen Ideologien wie Antikapitalismus oder Antikommunismus – bis hin zum gegenwärtigen Islamismus.
Antisemitisches Gedankengut ist in verschiedenen Ausformungen bis heute wirksam. Zur Sündenbock-Funktion trat seit 1945 ein „sekundärer“ Antisemitismus, der unbewältigte sozialpolitische Defizite und unverarbeitete Schuldgefühle wieder auf die Nachkommen der Opfer zurückprojiziert. Dieses Muster existiert selbst dort, wo keine persönlichen Beziehungen zu Juden mehr existieren und nicht das Judentum, sondern ihm zugeschriebene Eigenschaften abgelehnt werden. Dann spricht man von einem „strukturellen“ Antisemitismus.
Ein Arabischer Antisemitismus formierte sich schon seit 1918. Er verstärkte sich 1948 seit der Entstehung des Staates Israel und 1967 seit der Zuspitzung des Nahostkonflikts nochmals.
Die verschiedenen Zusammenhänge, übergreifenden Zeiträume und Arten des Phänomens illustrieren die Irrationalität antisemitischer Feindbilder, die sich gleichwohl über die Jahrhunderte als außergewöhnlich stabil und wandlungsfähig erwiesen haben.

Vorgeschichte
Die kirchliche Unterdrückung hatte das Judentum Jahrhunderte lang in ganz Europa isoliert. Zudem wurden Juden gezielt ausgegrenzt und häufig in Pogromen vertrieben und ermordet. Erste Judengesetze, die in den folgenden Jahrhunderten ähnlich übernommen wurden, erließ Justinian 564 im Corpus iuris. Seit der Spätantike war den Juden der Erwerb von Landbesitz und damit ein Leben als Bauer verboten, seit dem 9. Jahrhundert schlossen christliche Zünfte sie von allen „ehrenwerten" Berufen aus. Seit dem 4. Laterankonzil 1215 wurden sie auch offiziell in Ghettos gezwungen. So blieben ihnen nur wenige ökonomische Nischen, aus denen sie aber bald wieder vertrieben wurden. So beendeten die blutigen Massaker beim Ersten Kreuzzug 1096 den jüdischen Fernhandel; der Geldverleih wurde ihnen großenteils im Zusammenhang mit den Judenpogromen zur Zeit der Pest 1348 abgenommen.
Martin Luther sammelte in seiner Schrift Von den juden und iren lügen (Originaltitel) 1543 alle mittelalterlichen Vorurteile gegen Juden und überlieferte sie der Neuzeit. Die Reformation verstärkte die Tendenz zur Nationalreligion durch die Konfessionalisierung der Länder und die Interessengegensätze der Fürsten. Im politisch zersplitterten deutschen Sprachraum waren die Juden bis etwa 1670 aus den meisten Städten verbannt worden, konnten aber in ländlichen Regionen und Vorstädten ein Auskommen finden. Ganz wenigen gelang eine Karriere als privilegierte „Hofjuden“ wie Joseph Süß Oppenheimer, der 1738 in Stuttgart einem Justizmord zum Opfer fiel. Die Herrscher Preußens erlaubten den Juden zwar, in Berlin zu leben, begrenzten den Zuzug aber streng auf die Reichsten, denen sie hohe Abgaben auferlegten. So blieben Juden in Europa zu Beginn des 18. Jahrhunderts vom normalen bürgerlichen Leben weithin ausgegrenzt.
Aufklärung
Naturwissenschaftlicher Fortschritt und Humanismus veränderten seit dem Westfälischen Frieden von 1648 allmählich die Einstellung zur jüdischen Minderheit. Der religiös motivierte Antijudaismus erschien den Gebildeten nun als affektiver Aberglaube ohne rationales Fundament. Ihn gelte es ebenso zu überwinden wie den religiösen Judaismus.
In dieser Tradition bekämpften schon die englischen Deisten im 17. Jahrhundert das Judentum wegen seines angeblich irrationalen Offenbarungs- und Wunderglaubens, um damit zugleich das orthodoxe Christentum zu unterhöhlen. So drängte das aufstrebende Bürgertum den kirchlichen Einfluss auf die Gesellschaft zurück, übernahm aber zugleich einen Großteil der tradierten antijüdischen Denk- und Verhaltensmuster.
Voltaire (1694–1778) führte das Christentum auf seinen jüdischen Ursprung zurück und lehnte beide Religionen von Grund auf ab. In seinem Werk finden sich wiederholt Ausfälle gegen Juden als „betrügerische Wucherer“, „diebische Geldverleiher“, den „Abschaum der Menschheit“ usw.. Voltaire hielt diese Züge gar für angeborene, unveränderliche Eigenschaften der Juden. Trotzdem verteidigte er auch ihre Gewissensfreiheit und protestierte gegen damalige religiöse Verfolgungen.
Diderot (1713–1784) dagegen glaubte an die soziale Bedingtheit aller religiösen Erfahrung und damit an ihre Veränderbarkeit. Mit seinem Enzyklopädie-Projekt wollte er indirekt auch einen Beitrag zur Überwindung des jüdisch-christlichen religiösen „Wahns“ leisten.
Ähnlich wie Voltaire urteilte der Aufklärer Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) über „den Juden“: Er sei …ein unersättlicher, habgieriger Betrüger, besessen von einem skrupellosen Handels- und Schachergeist…, amoralisch, gerissen, hinterhältig und schmarotzerhaft. Er halte sich für viel zu intelligent, sei ausgesprochen anpassungsfähig, nutzlos und schädlich für die Umwelt, ein Paradigma des Bösen und eine Identifikation des Minderwertigen. So verglich er die Juden in seinen Sudelbüchern öfter mit Sperlingen, die damals als schlimme Flurschädlinge galten und massenhaft bekämpft wurden.
Sogar Immanuel Kant (1724–1804), der wie Goethe jüdische Mitbürger zu seinen besten Freunden zählte und in seinem Sittengesetz biblische Grundgedanken vernunftgemäß entfaltete, nannte Juden „Vampyre der Gesellschaft“ und meinte 1798:
- Die unter uns lebenden Palästinenser sind durch ihren Wuchergeist seit ihrem Exil in den nicht unbegründeten Ruf des Betruges… gekommen.
Er kannte wenig vom Judentum, grenzte es aber scharf gegen das überlegene Christentum ab. Er forderte von den Juden die Abkehr von ihren Ritualgesetzen und ein öffentliches Bekenntnis zu einem ethischen Gottesglauben, also zu seiner Vernunftreligion. Erst dann könnten sie Anteil an „alle(n) Rechte(n) des bürgerlichen Zustandes“ erhalten.
Auch Johann Gottfried Herder (1744–1803) hielt die Juden für „verdorben“, „ehrlos“ und „amoralisch“. Er glaubte, dass nur Erziehung sie bessern könne, und forderte kaum verhohlen die Selbstaufgabe des Judentums als Voraussetzung für seine nationale und kulturelle Integration in die jeweilige Nation. Von den wichtigen Theoretikern der Aufklärung war nur Montesquieu bereit, das Judentum in seiner Eigenart anzuerkennen.
Indem aufgeklärte Philosophie die allgemeine Vernunft gegen den christlichen Konfessionalismus und Dogmatismus stellte, kritisierten einige Denker des frühen 18. Jahrhunderts nun auch die Haltung zum Judentum als menschenunwürdiges Unrecht. John Toland (1670–1722), englischer Freidenker, sprach sich als Erster für eine Emanzipation der Juden aus. Vor allem Moses Mendelssohn (1729–1786) kämpfte für rechtliche Gleichstellung seiner Religion und ihre kulturelle Integration. Zugleich verlangte er eine innere Liberalisierung und Selbstaufklärung des Judentums.
Sein Freund Gotthold Ephraim Lessing (1729–1782) rief 1749 in seinem Lustspiel Die Juden dazu auf, die anachronistischen Vorurteile gegen sie aufzugeben. In seinem Drama Nathan der Weise (1779) forderte er die Toleranz aller Religionen, deren subjektive „Wahrheit“ objektiv unbeweisbar sei. Die Hauptfigur trägt deutlich Mendelssohns Züge und setzte ihm ein Denkmal. Lessing glaubte an die Aufhebung jedes religiösen Aberglaubens durch humanen Fortschritt und die pädagogische Erziehung des Menschengeschlechts (1781); auch den „jüdischen Kinderglauben“ an Tora und Talmud wollte er damit „überwinden“.
Von großem Einfluss war der preußische Archivar Christian Wilhelm Dohm, der 1781 eine Denkschrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden veröffentlichte. Darin forderte er das volle Bürgerrecht für Juden, allerdings nicht nur um der Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit willen, sondern um sie für den Staat nützlicher zu machen. Dieser für die Aufklärung typische Utilitarismus zeigte sich noch vorher in dem berühmten Toleranzpatent Kaiser Josephs II. vom 2. Januar 1781, das den Juden die Leibmaut (eine Kopfsteuer) erließ, die „Judenhäuser“ aufhob, in denen sie ghettoisiert worden waren, und ihnen weitgehende Gewerbefreiheit zugestand, „jedoch ohne Bürger- und Meisterrecht, wovon sie ausgeschlossen bleiben", wie das Patent eigens betonte. Diese neuen Freiheiten erkauften die Juden aber mit der Pflicht, ihre Kinder auf deutschsprachige, also meist christliche Schulen zu schicken. Auch ihre Berufe durften sie nur bei christlichen Meistern lernen. Ziel war also nicht die Toleranz, wie der Titel des Patents suggerierte, sondern die Juden „dem Staate nützlicher und brauchbarer zu machen“. Dies war Josephs großem Ziel untergeordnet, aus den multi-ethnischen Besitzungen der Habsburgermonarchie ein zentralistisch verwaltetes Reich mit deutscher Staatssprache zu machen. Zu diesem Zweck sollten auch die jiddisch sprechenden Juden an die christlich-deutsche Leitkultur angepasst werden.
Für die Pariser Revolutionäre von 1789 galt die Masse des Volkes, der „Dritte Stand“ im Unterschied zu Adel, Klerus und Königtum als Nation, die jedem, der dazugehören wolte, offenstand. Dementsprechend stellte die französische Nationalversammlung 1791 nach einem Antrag des Grafen Mirabeau die Juden allen Bürgern gleich, hob damit aber auch ihre bisherigen Sonderrechte – vor allem Gemeindeautonomie und Wehrdienstbefreiung – auf. Das zwang sie zur Assimilation. Die prinzipielle Gleichberechtigung aller Bürger des Landes unabhägig von ihrer Religion wurde auch nach dem Ende der Revolution beibehalten. Der Code civil, das von Napoleon 1804 erlassene bürgerliche Gesetzbuch, das auch in den Frankreich eroberten Territorien Gültigkeit hatte, gewährte zum Beispiel den Juden des Rheinlands oder Hamburgs zum ersten mal die bürgerlichen Freiheitsrechte. Dem demokratischen Verständnis der Nation wurde aber außerhalb Frankreichs, besonders in Deutschland, bald eine ethnische Definition gegenübergestellt: „Nation“ bezeichnete nicht den Rechtsstatus der gemäß den Menschenrechten als a priori gleich verstanden Bewohnern des Landes, sondern eine gemeinsame „Abstammung“ aller. Der Begriff grenzte sich nicht gegen die eigenen oberen Stände, sondern gegen Napoleons Eroberungen und die französischen Besatzer ab. Das richtete sich in vielen Ländern Europas dann gegen die Angehörigen aller als fremd oder feindselig empfundenen Völker und Gruppen. Nationalisten verbanden eine Reihe besonderer positiver und negativer Eigenschaften mit diesen und behaupteten damit einen angeblichen Nationalcharakter.
Emanzipation und Reaktion
In Berlin sorgte ein Gutachten Friedrich Schleiermachers 1810 dafür, dass der preußische Staat weiterhin den christlich-konfessionellen Religionsunterricht verbindlich machte. Ohne Teilnahme daran erhielten Juden keine Zugangsberechtigung zu Universitäten, so dass ihr sozialer Aufstieg weiterhin erheblich erschwert wurde. Zwar gewährte das preußische Judenedikt von 1812 ihnen grundlegende Bürgerrechte – freie Niederlassung, Grunderwerb, Militärdienst –, schützte aber nicht ihre Religionsausübung und schloss sie weiterhin von allen Staatsämtern aus. Es galt zudem nur für die schon eingebürgerten Juden, nicht für Neuankömmlinge und Juden, die sich bis dahin illegal in Preußen aufgehalten hatten.
Doch 1814/15 erlaubte der Wiener Kongress jedem Staat des Deutschen Bundes, den Juden ihre von Napoleon verfügten Rechte wieder zu nehmen. Dies geschah vielfach auch. So sahen intellektuelle und assimilierte Juden nun häufiger nur noch in der christlichen Taufe das „Entreebillet zur europäischen Kultur“ (Heinrich Heine), den Zugang zu akademischer Bildung und gesicherter Existenz. Juda Löw Baruch aus Frankfurt z.B. verlor 1815 seine Stellung als Verwaltungsbeamter und ließ sich 1818 auf den Namen Ludwig Börne taufen; ebenso die jüdische Autorin Rahel Varnhagen von Ense. Brendel Mendelssohn heiratete Friedrich Schlegel und wurde erst protestantisch, dann mit ihrem Gemahl katholisch.
Ab 1830 wurde die „bürgerliche Verbesserung“ der Juden wie der Bauern – ihre Gleichheit vor dem Staatsgesetz und soziale Integration – auch von deutschen liberalen Demokraten gefordert, die die Ständegesellschaft abschaffen wollten. Jüdische Patrioten wie Gabriel Riesser stellten sich gegen Konversion und Emigration und kämpften stattdessen für die volle Gleichberechtigung. Er sorgte dafür, dass die Frankfurter Nationalversammlung 1848 in die Grundrechte des deutschen Volkes einen Passus zur Religionsfreiheit aufnahm:
- Durch das religiöse Bekenntnis wird der Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte weder bedingt noch beschränkt.
Diese Erfolge machte die anschließende Periode der Reaktion erneut zunichte. Erst 1869 hob ein Gesetz des Norddeutschen Bundes den Ausschluss der Juden von Staatsämtern auf. Es wurde 1871 zum Reichsgesetz des Deutschen Reichs.
Romantik und Idealismus
Intellektuelle deutsche Idealisten und Romantiker wie Friedrich von Schlegel und Friedrich Schleiermacher waren zwar oft Demokraten und Förderer der Allgemeinbildung, zugleich aber auch glühende anti-aufklärerische Patrioten und Judengegner. Auch Johann Gottlieb Fichte äußerte 1793 in seinem später viel zitierten „Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution“:
- Juden Bürgerrecht zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel als das, in einer Nacht ihnen alle die Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein ander Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern und sie alle dahin zu schicken.
Selbst der umfassend gebildete Georg Wilhelm Friedrich Hegel widersprach zwar der volkstümelnden Romantik, sah Juden aber auch nur als Verkörperung der Entzweiung und materiellen Knechtschaft im Gegensatz zur griechisch-platonischen Freiheit des Geistes. Von ihm stammt der Satz:
- Der Löwe hat nicht Raum in einer Nuss, der unendliche Geist nicht Raum in dem Kerker einer Judenseele.
In der „Phänomenologie des Geistes“ schrieb Hegel:
- Das Schicksal des jüdischen Volkes ist das Schicksal Macbeths, der aus der Natur selbst trat, sich an fremde Wesen hing und so in ihrem Dienste alles Heilige der menschlichen Natur zertreten und ermordet, von seinen Göttern endlich verlassen und an seinem Glauben selbst zerschmettert werden musste.
1811 brachte Clemens Brentano seine antijudaistische Haltung u.a. durch den Beitrag Der Philister vor, in und nach der Geschichte für die Berliner Christlich-deutsche Tischgesellschaft zum Ausdruck:
- Die Juden, als von welchen noch viele Exemplare in persona vorrätig, die von jeder ihren zwölf Stämmen für die Kreuzigung des Herrrn anhängenden Schmach Zeugnis geben können, will ich gar nicht berühren, da jeder der sich ein Kabinett zu sammeln begierig, nicht weit nach ihnen zu botanisieren braucht; er kann diese von den ägyptischen Plagen übriggebliebenen Fliegen in seiner Kammer mit alten Kleidern, an seinem Teetische mit Theaterzetteln, und ästhetischem Geschwätz, auf der Börse mit Pfandbriefen und überall mit Ekel und Humanität und Aufklärung, Hasenpelzen und Weißfischen genugsam einfangen.
Auch der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi, der „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn und der Völkerkundler Ernst Moritz Arndt waren bekennende Judenfeinde. Sie begründeten jene Volkstums-Ideen, auf die rassistische Antisemiten später zurückgriffen. Arndt schrieb z.B. im Kontext der Zuwanderung russischer und polnischer Juden nach Westeuropa (zitiert nach Weltgeschichte im Aufriss Bd. 2, Diesterweg, Frankfurt/Main 1978, S. 191):
- …Die Juden als Juden passen nicht in diese Welt und in diese Staaten hinein, und darum will ich nicht, dass sie auf eine ungebührliche Weise in Deutschland vermehrt werden. Ich will es aber auch deswegen nicht, weil sie ein durchaus fremdes Volk sind und weil ich den germanischen Stamm so sehr als möglich von fremdartigen Bestandteilen rein zu erhalten wünsche. [...] Ein gütiger und gerechter Herrscher fürchtet das Fremde und Entartete, welches durch unaufhörlichen Zufluß und Beimischung die reinen und herrlichen Keime seines edlen Volkes vergiften und verderben kann. Da nun aus allen Gegenden Europas die bedrängten Juden zu dem Mittelpunkt desselben, zu Deutschland, hinströmen und es mit ihrem Schmutz und ihrer Pest zu überschwemmen drohen, da diese verderbliche Überschwemmung vorzüglich von Osten her nämlich aus Polen droht, so ergeht das unwiderrufliche Gesetz, dass unter keinem Vorwande und mit keiner Ausnahme fremde Juden je in Deutschland aufgenommen werden dürfen, und wenn sie beweisen können, dass sie Millionenschätze bringen.
Antijüdische Krawalle nach 1812
Die Reaktionen im Volk auf bürgerliche Emanzipation und intellektuelle Juden-Aversion ließen nicht lange auf sich warten. Besonders unter manchen Burschenschaften grassierten nationalistische und antijüdische Reflexe. Dies wurde schon 1817 auf dem Wartburgfest sichtbar. Jakob Friedrich Fries, Philosophieprofessor in Jena, hetzte seine Studenten zu einer Bücherverbrennung auf. Dabei wurde auch eine jüdische Schrift, die „Germanomanie“ von Saul Ascher mit dem Ruf Wehe über die Juden! ins Feuer geworfen. Dies veranlasste Heinrich Heine 1819 zu der weitsichtigen Vorhersage:
- Wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.
Im selben Jahr im August breitete sich eine Serie von Krawallen von deutschen Großstädten bis Kopenhagen und Amsterdam aus. Politisch und ökonomisch unzufriedene Handwerker, Bauern und Studenten gaben die Schuld an den Problemen der frühkapitalistischen Industrialisierung den Juden. Sie plünderten und zerstörten deren Häuser und Geschäfte, steckten Synagogen in Brand, misshandelten und ermordeten Juden mit dem Kampfruf:
- Nun auf zur Rache! Unser Kampfgeschrei sei Hep, Hep, Hep! Allen Juden Tod und Verderben, ihr müsst fliehen oder sterben!
„Hep“ war ein alter Kreuzfahrer-Ruf und stand für Hierosolyma est perdita (Latein: „Jerusalem ist verloren“), das auf die Massaker der Kreuzzüge anspielte. In den Flugblättern und Parolen der Krawallanten wurden Juden als „Gottesmörder“ angegriffen. Hier kam die langanhaltende kirchliche Indoktrination zum Vorschein. Die Aufklärung hatte also nur eine schmale Schicht von Gebildeten erreicht, von denen auch nur wenige das Judentum und seine Emanzipation vorbehaltlos akzeptierten. Sie wurden nicht von der Masse der Bevölkerung getragen.
Die Tradition antijüdischer Hetzschriften setzte sich auch im kirchenfernen Bürgertum fort: 1821 veröffentlichte Hartwig von Hundt-Radowsky den Judenspiegel. Darin propagierte er u.a. den Verkauf jüdischer Kinder als Sklaven an die Engländer, um weitere jüdische Nachkommen zu verhindern, und schließlich unverhohlen die Vertilgung und Vertreibung aller Juden. Solche Ziele waren also schon Jahrzehnte im öffentlichen Gespräch, bevor der „Rasse-Begriff“ für das Judentum aufkam.
Geschichte
Volkstums-Ideologie
Der Begriff „Semiten“ bezeichnete in der historischen Theologie des 18. Jahrhunderts die Nachfahren von Sem, des ältesten der drei Söhne Noachs (Gen. 9, 18). Eine „Völkertafel“ der Bibel (Gen. 10) erklärt eine Reihe damals bekannter Stämme und Ethnien als Nachfahren dieser Söhne. Sie teilt sie nach Herkunft und geografischen, aber nicht nach sprachlichen oder gar rassischen Merkmalen ein. Faktisch waren die auf Sem zurückgeführten Völker weder sprachlich noch ethnisch alle verwandt.
Die junge Sprachwissenschaft übernahm den Begriff für eine Sprachfamilie (Aramäisch-Hebräisch-Arabisch). In diesem Sinn benutzte ihn der deutsche Historiker Ludwig Schlötzer 1781 das erste Mal. 1816 bewies Franz Bopp die Verwandtschaft der Indogermanischen Sprachen, die er vom „Semitischen“ unterschied. Kurz darauf stellte die Völkerkunde „Semiten“ und „Arier“ einander als Volksgruppen gegenüber und hob sie von anderen Volksgruppen ab.
Von da aus gingen diese Begriffe in die Terminologie der Geisteswissenschaften ein. Bald wurde Andersartigkeit verschieden gewertet. Alle positiv verstandenen Werte wurden „Ariern“ zugeschrieben, „Semiten“ wurden dagegen nur negativ charakterisiert. Aus dem vermeintlich ethnischen wurde ein welthistorischer Gegensatz konstruiert: „Arier“ galten als zur künftigen Weltherrschaft berufene Bevölkerungsgruppe, „Semiten“ als ihre zur Unterlegenheit bestimmten Konkurrenten. Obwohl letztere anfangs auch Araber mit verwandten Sprachen umfassten, meinten deutsche Antisemiten damit stets nur Juden gegenüber „Germanen“.
1860 verwendete der jüdische Gelehrte Moritz Steinschneider, der zusammen mit Leopold Zunz die Wissenschaft des Judentums begründete, erstmals den Begriff „Antisemitismus“, als er den französischen Historiker und Philologen Ernest Renan wegen seiner „antisemitischen Vorurteile“ zur Rede stellte. Dieses Adjektiv nannte auch das preußische Staatslexikon von 1865, um eine dem „typisch“ Jüdischen entgegengesetzte Haltung zu kennzeichnen.
Rassismus und Vulgärdarwinismus
1853 veröffentlichte Arthur de Gobineau den Aufsatz Die Ungleichheit der Rassen, der die Theorie des Rassismus begründete. 1858 erschien die deutsche Übersetzung des bahnbrechenden Aufsatzes von Charles Darwin Über die Entstehung der Arten, der die Evolutionstheorie und moderne Genetik begründete.
Nun entstand der eigentliche Antisemitismus: Um ihren Judenhass zu untermauern und die „Judenfrage“ als Rassenproblem zu propagieren, beriefen sich Antisemiten zunehmend auf pseudo-biologische Argumentationsketten und bezeichneten Semiten und Arier seit etwa 1860 immer häufiger als biologische Abstammungseinheiten. Sie definierten das Judentum nicht mehr als Religionsgemeinschaft, sondern als eigenständiges „Volk“ mit eigener „Rasse“. Das verschloss Juden jede Möglichkeit, sich durch Übertritt zum Christentum sozial anzupassen.
Die freiwillige Taufe hatte sie früher meist vor weiterer Verfolgung geschützt; bei Zwangstaufen behielten andere Christen Vorbehalte gegen sie. Doch nun definierte man jeden als Juden, der von Juden – Vorfahren mit jüdischer Religion – abstammte, egal ob und wie lange er oder seine Vorfahren schon Christen waren. Damit war die Religionszugehörigkeit für Antisemiten nur noch als pseudobiologisches Merkmal wichtig, das Judesein zum unentrinnbaren Schicksal machte. Die Juden zugeordneten negativen Eigenschaften erschienen als „Erbgut“, das keinerlei Erziehung, Bildung, Integration und Emanzipation verändern könne. So wurden sie als nicht integrierbarer Fremdkörper in den europäischen Nationen dargestellt. – Darwin selbst distanzierte sich 1880 davon.
Der Rassismus verschärfte auch die allgemeine Fremdenfeindlichkeit: Er untermauerte die Ablehnung anderer Völker nach außen und ethnischer oder anderer Minderheiten nach innen. Völkisch definierte „Fremde“ konnten nun als „Artfremde“ eingestuft werden. So wuchs parallel zum Antisemitismus in ganz Europa z.B. die Ablehnung der Sinti und Roma oder – im Rahmen des Antislawismus – der Sorben.
Politischer Antisemitismus im Kaiserreich
Nach der gewaltsamen Reichsgründung von 1871 sollte der Patriotismus die zerrissene bürgerlich-liberale Gesellschaft einen. Minderheiten, vor allem den Juden, wurde oft ein Mangel an „wahrem Deutschtum“ unterstellt. Politisch-soziale Widersprüche und ökonomische Krisen im nationalen Einigungsprozess wurden ihnen angelastet.
Auf den Börsenkrach 1870 folgte 1873 im Gefolge einer weltweiten Depression ein Gründerkrach. Viele Bauern, Händler und Bürger verloren ihre Ersparnisse und mussten ihre Firmen aufgeben, während Großindustrielle und Bankiers Verluste besser auffangen konnten. Da sich unter letzteren relativ viele Juden befanden, machte der abstiegsbedrohte Mittelstand alle Juden für die Pleitewelle verantwortlich. Nun ergriff der Antisemitismus breite Bevölkerungsschichten: Viele neu gebildete Vereine machte diesen zu ihrem Programm.
Im selben Jahr erfand der Journalist Wilhelm Marr (1819–1904) den Begriff „Antisemitismus“. Er verwendete ihn anstelle von „Judenhass“, um diesen pseudowissenschaftlich zu untermauern. Damit übernahm er Gobineaus säkular-rassistische Ideen, kennzeichnete aber nur die Juden als besondere „Rasse“, um sie ideologisch besser ins Visier nehmen zu können. Dabei konnte er auf fortbestehende kirchliche, aufgeklärte und völkisch-nationale Judenbilder zurückgreifen.
Stärker ökonomisch argumentierte Otto Glagau (1834–1892) in einer vielgelesenen Artikelserie in der Gartenlaube (1874), dann mit Schriften über den angeblichen Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin (1875) und Bankerott des Nationalliberalismus und die 'Reaktion' (1878). Auch er wandte sich an ruinierte Mittelständler und Kleinbürger und mobilisierte deren überkommene christliche Vorurteile gegen Juden.
1879 gilt als Geburtsjahr des „modernen" Antisemitismus, in dem sich deutschnationale, antiliberale, antikapitalistische und rassistische Motive verknüpften und im Bürgertum reichsweit gesellschaftsfähig wurden. Undurchschaute Krisenphänomene, die die Industrialisierung, Kapitalisierung und Internationalisierung der Märkte begleiteten, wurden auf eine angebliche kulturelle, politische und ökonomische Dominanz der jüdischen Minderheit zurückgeführt. Das Judentum stand für eine Infiltration der Nation mit ihr fremden Ideen und Tendenzen, für Materialismus, Egoismus und kalten Rationalismus. Britischer Manchesterliberalismus und sozialistischer Internationalismus wurden gleichermaßen auf jüdisches Wesen zurückgeführt. So machte man die rechtlich-soziale Emanzipation der Juden als „Ursache" der Krisen aus und münzte sie in eine „Emanzipation von den Juden" um, die notwendige Bedingung für nationale Identitätsfindung sei.
In jenem Jahr erschien Marrs rassistisches Buch Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum. Es fand reißenden Absatz und erreichte schnell 11 Auflagen. Daraufhin gründete er die „Antisemiten-Liga“ als erste deutsche Gruppe, die sich dem Kampf gegen eine angebliche jüdische Bedrohung verschrieb. Ihr erklärtes Ziel war die Vertreibung der Juden aus Deutschland, Sprachrohr dafür war das Hetzblatt Deutsche Wacht, das Marr zweimal monatlich herausgab.
Im selben Jahr ergriff der Berliner Antisemitismusstreit monatelang die Hauptstadt und die Akademikerzunft: Der lutherische Hofprediger Adolf Stoecker (1835–1909) forderte die Begrenzung des vermeintlichen jüdischen Einflusses auf die Politik und eine „Rechristianisierung" der Gesellschaft. Dazu gründete er die religiös-antisemitische Christlichsoziale Partei. Seine Ideen wirkten stark auf den deutschnationalen Protestantismus ein. Der Historiker Heinrich von Treitschke (1834–1896) griff Stöckers Forderungen auf und schrieb in einem Artikel den verhängnisvollen, später von der NSDAP übernommenen Satz: Die Juden sind unser Unglück. Dagegen kritisierte sein angesehener Kollege Theodor Mommsen (1817–1903) die um sich greifende allgemeine Judenfeindschaft scharf. Zwar blieb Treitschke an der Humboldt-Universität isoliert; doch nun war die „Judenfrage" als „wissenschaftliches“ Thema etabliert.
Marrs Liga nutzte den öffentlichen Aufschwung ihres Themas 1881 für eine „Antisemiten-Petition“, die der hochdekorierte Veteran des deutsch-französischen Krieges Max Liebermann von Sonnenberg (1848–1911) initiierte. Er forderte u.a. eine separate Besteuerung von Juden, ihren Ausschluss von allen Regierungsämtern, vom öffentlichen Dienst und Bildungswesen sowie ein Verbot jüdischer Einwanderung nach Deutschland. 250.000 Bürger unterzeichneten die Petition; Sonnenberg brachte sie in den Reichstag ein. Im selben Jahr gründete er zusammen mit dem Lehrer Bernhard Förster (1853–1889) – einem Schwager von Friedrich Nietzsche – den patriotisch-konservativen Deutschen Volksverein sowie die Deutsche Volkszeitung. Diese half, das Schlagwort „Antisemitismus“ im ganzen Deutschen Reich zu verbreiten.
Glühende Antisemiten der 1880er Jahre waren auch:
- Dr. Ernst Henrici (1854–1915), der 1880 reichsweit antijüdische Hetzreden an die Landbevölkerung hielt und damit Wähler für seine Soziale Reichspartei zu gewinnen suchte.
- der Lehrer Hermann Ahlwardt, der landesweit gegen „Junker und Juden“ agitierte. 1890 behauptete er in seinem Buch Der Verzweiflungskampf der arischen Völker mit dem Judentum, alle Berufe und Stände seien vom jüdischen Wucher beherrscht, belegte dies aber nur mit seinen privaten Finanzproblemen.
- der als „Judenschläger“ bekannte Graf Pückler auf Branitz, der die Bauern seiner Region aufrief, Juden totzuprügeln.
- der Nationalökonom Eugen Dühring (1833–1921). Sein populäres Buch Die Judenfrage als Racen, Sitten und Kulturfrage von 1881 erklärte die Kluft zwischen Ariern und Semiten für unüberbrückbar und forderte, die Juden wieder in Ghettos zu zwingen. Er sah die Juden als „Drahtzieher“ der Krisenphänomene und sozialen Missstände der Industrialisierung, deren angeblich übermächtigen Einfluss es auszuschalten gelte.
Auf dem „Antisemitischen Kongress“ von 1882 versuchten diese Wortführer mit etwa 400 ihrer Anhänger gemeinsame Ziele zu finden. Dies gelang nur begrenzt, so dass das abschließende Manifest an die Regierungen und Völker der durch das Judenthum gefährdeten christlichen Staaten keine konkreten politischen Forderungen erhob. Der zweite, von Dühring dominierte radikalere Kongress von 1886 hatte nur noch 40 Teilnehmer.
Die Hetzpropaganda wurde umso intensiver: Ab 1885 verwendeten Marrs Zwanglose Antisemitische Hefte „Semitismus“ als feststehenden Sammelbegriff für alle bürgerlich-liberalen Erscheinungsformen: Aufklärung, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Kulturaustausch, individuelles Glücksstreben, Demokratie, Kapitalismus. Diese galten als Ausdruck einer „jüdischen", fremden Infiltration und Gegenkultur, die man als Nationalist und Patriot fundamental bekämpfen müsse. Die Juden seien die eigentlichen Urheber alles „Modernen“ und „Schädlichen“: Dieses Feindbild richtete sich vor allem gegen ihre rechtliche Gleichstellung und soziale Emanzipation. Es ersetzte die Analyse der tatsächlichen Ursachen der sozialökonomischen Probleme und Kritik an der Politik der Reichsregierung.
Bis 1890 erschienen im Kaiserreich an die 500 Schriften, die sich in diesem Sinne mit der „Judenfrage“ befassten. Hinzu kamen mindestens 120 antisemitisch ausgerichtete Tageszeitungen, Monatsblätter und Vereins-Publikationen. Sie bestätigten so oder so, dass die Mehrheit der Nation mit den zu ihr gehörigen Juden ein Problem hatte.
Auch parteipolitische Bestrebungen wurden verstärkt: Otto Böckel (1859–1923) gründete 1886 seine Deutsche Reformpartei, die sich noch im selben Jahr mit weiteren Gruppen zur Deutschen antisemitischen Vereinigung zusammenschloss. Böckel saß seit 1887 im Reichstag und trug sich dort stolz als erster „Antisemit“ ein. 1889 schlossen sich Stoeckers und Sonnenbergs Anhänger zur neuen Deutschsozialen Partei zusammen, Böckel gründete mit weiteren Gruppen 1890 die Antisemitische Volkspartei. Beide neuen Parteien forderten die Aufhebung der Emanzipationsgesetze, verhöhnten liberale Gleichstellungsparteien im Wahlkampf als „Judenschutztruppe“ und errangen bei den Reichstagswahlen desselben Jahres knapp drei Prozent der Stimmen.
1893 errangen beide Antisemitenparteien zusammen 18 Reichtagsmandate. 1894 vereinigten sie sich unter Führung Böckels zur Deutschsozialen Reformpartei. Ihr Programm baute auch auf den Rassentheorien von Houston Stewart Chamberlain (1855–1927) auf und redete erstmals von der „Endlösung der Judenfrage“. 1899 hieß es darin:
- Dank der Entwicklung unserer modernen Verkehrsmittel dürfte die Judenfrage im Laufe des 20. Jahrhunderts zur Weltfrage werden und als solche von den anderen Völkern gemeinsam und endgültig durch völlige Absonderung und (wenn die Notwehr es gebietet) schließliche Vernichtung des Judenvolkes gelöst werden.
Aufgrund innerer Uneinigkeit verloren sie danach jedoch wieder an Stimmen. Bei der Reichstagswahl 1903 erhielten sie nur 3,5 Prozent (11 Mandate). 1907 stellten sie noch sieben Abgeordnete. Sonnenberg saß bis 1911 im Reichstag. Keins der Ziele seiner Petition von 1879 wurde im Kaiserreich erreicht.
Aber der politische Antisemitismus war nicht an bestimmte Parteien gebunden. Seine Wirkung war weit größer, als deren Stimmenanteile vermuten lassen. Viele Vereine und Verbände waren und blieben seit 1880 antisemitisch eingestellt: u.a. der Bund der Landwirte, der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband für Angestellte, die Deutsche Turnerschaft, viele Studentenverbindungen, Alldeutscher Verband, Reichskammerbund, das angesehene Offizierskorps. Über andere Themen wie etwa die Flottenaufrüstung oder Schutzzölle gegen englische Importe konnte sich das Bild der „jüdischen Ausbeuter“ und ihrer „zersetzenden“ Demokratie-Ideen in breiten Bevölkerungsschichten festsetzen.
Jüdische Reaktionen
1879 erklärte der jüdische Historiker Harry Breßlau, „Juden“ und „Semiten“ seien nicht identisch. Er werde das Wort „Jude“ weiterhin verwenden, aber nur für die Herkunft, nicht die Religionszugehörigkeit von Juden:
- Um jedes Missverständnis auszuschließen, bemerke ich, dass ich diejenigen im Sinne dieser Erörterungen als Juden betrachte, deren beide Eltern als Juden geboren sind.
Damit reduzierte er Judesein seinerseits auf die Abstammung und trennte diese von der Religionszugehörigkeit. Doch diese Säkularisierung der Begriffe begünstigte nur die Gleichsetzung von Juden mit einer angeblichen „semitischen Rasse“. 1895 definierte der Brockhaus „Semitismus“ als Bezeichnung für das ausschließlich vom ethnologischen Standpunkt aus betrachtete Judentum.
Der jüdische Arzt Leo Pinsker bereiste unter dem Eindruck der Pogrome in Russland von 1881 ganz Europa. Er sah in dem Umsichgreifen des Rassenwahns eine „Judäophobie“, die er als eine Geisteskrankheit beschrieb: Ihm war das Erscheinungsbild vertraut, wonach sich gegenseitig verstärkende „Gewissheiten“ eine mentale Störung anzeigten. Er folgerte in seinem Aufsatz „Autoemanzipation“ 1882 daraus die Notwendigkeit eines eigenen jüdischen Landes und wurde damit ein Pionier des Zionismus.
Auf die vermehrte Propaganda und Parteienbildung der Antisemiten reagierten religiöse Juden und judenfreundliche Christen 1891 mit der Gegengründung des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus. 1893 bildeten Kreise des liberalen Bürgertums in Berlin den Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Doch diese hatten auf die generelle Entwicklung kaum Einfluss und suggerierten ihren Mitgliedern nur, doch irgendwie zur bürgerlichen Gesellschaft zu hören.
Unter dem Eindruck der Dreyfus-Affäre in Frankreich schrieb Theodor Herzl 1896 sein Buch Der Judenstaat, das den politischen Zionismus begründete. Ein Jahr darauf berief er den 1. Zionistenkongress nach Basel ein. Doch die meisten Juden rangen weiterhin um Anerkennung und Gleichberechtigung im Kaiserreich. Folglich meldeten sich viele freiwillig zur Front, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Sie wurden oft für besondere Tapferkeit ausgezeichnet und glaubten, dass ihre Eisernen Kreuze sie vor weiteren Verfolgungen schützen könnten.
Das Vichy-Regime lieferte Juden seit 1940 an Nazideutschland aus. Die Bevölkerung war gespalten: Viele Franzosen halfen, Juden zu verstecken, in den unbesetzten Teil Frankreichs zu schleusen und nahmen an der Resistance teil, während andere sie auslieferten.
Vom Antisemitismus zum Nationalsozialismus

Noch 1880 belegte der Begriff „Antisemitismus“ vor allem eine parteipolitische Zielsetzung gegen einen vermeintlich übergroßen jüdischen Einfluss. Nach Darwins Tod 1882 wurden dessen Theorien jedoch immer stärker rassistisch umgedeutet. So forderte z.B. Paul de Lagarde die Einheit von „Rasse und Volk“ unter Ausschluss des Judentums. Man redete nun nicht mehr von dessen negativen sozialen Einflüssen, sondern von der „Zersetzungskraft jüdischen Blutes“. Man argumentierte nun also gegen die „Vermischung“ der „Rassen“ und legte damit gedanklich eine Radikallösung nahe. Nun wurden auch „Halb“- oder „Viertel“-Juden zum Judentum gezählt, während die „arische Rasse“ immer stärker zur einheitsstiftenden Idee wurde.
1899 forderte der Brite Houston Stewart Chamberlain – ein Schwiegersohn Richard Wagners – in seinem Buch Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts als Erster die „Reinheit der arischen Rasse“ gegen „Vermischung“. Das Buch las Kaiser Wilhelm II. persönlich seinen Kindern vor und empfahl es als Lehrstoff für die Kadettenschulen. – 1914 gingen die beiden Antisemiten-Parteien in der Deutschvölkischen Partei (DVP) des Kaiserreichs auf. Deren Hamburger Programm forderte die „völlige Absonderung“ und zuletzt die unabwendbare „Vernichtung“ der Juden als „Weltfrage“ des 20. Jahrhunderts. Diese ideologische Zuspitzung bereitete dem Nationalsozialismus den Boden.
Zunächst überlagerte der Erste Weltkrieg die innenpolitischen Fronten und band alle Deutschen in vermeintlich patriotische Pflichten ein. Dies schmälerte die Popularität judenfeindlicher Propaganda nicht: Artur Dinter schrieb 1917 den Bestseller Die Sünde wider das Blut. Darin zeigte er, wie sehr antisemitische Stereotypen auch mit körperlichen Zuschreibungen verbunden waren. 1927 gründete er die antisemitische Geistchristliche Religionsgemeinschaft, für die er ein „judenreines“ Neues Testament herausgab. Damit wurde er zum Ideengeber der späteren Deutschen Christen.
Als die Novemberrevolution 1918 das Kriegsende und die Flucht des Kaiser erzwang, traten die ungelösten sozialen Gegensätze offen hervor: Der Krieg hatte sie nur verschärft. In der Nachkriegsnot nahm der Antisemitismus neuen Aufschwung. Reaktionäre Offiziere und große Teile des Bürgertums lasteten ihre Niederlage und die Auflagen des Versailler Vertrags den „jüdischen“ Führern der Arbeiterbewegung an. Republikfeindliche Antisemiten fand man seit 1919 in mehreren rechtsextremen und bürgerlich-konservativen Parteien, vor allem in der DNVP wieder. Der gestürzte Wilhelm II. selbst forderte die „Ausrottung“ der Juden.
Ein österreichischer Weltkriegsgefreiter hatte zugehört und setzte dies 20 Jahre später in die Tat um. Adolf Hitler übernahm den Antisemitismus nach eigener Aussage vom Wiener Bürgermeister und Publizisten Karl Lueger. In einem Brief vom 16. September 1919 schrieb er seine Haltung zur „Judenfrage“ nieder:
„Der Antisemitismus aus rein gefühlsmäßigen Gründen wird seinen letzten Ausdruck finden in der Form von Progromen. Der Antisemitismus der Vernunft jedoch muß führen zur planmäßigen gesetzlichen Bekämpfung und Beseitigung der Vorrechte der Juden, die er zum Unterschied der anderen zwischen uns lebenden Fremden besitzt (Fremdengesetzgebung). Sein letztes Ziel aber muß unverrückbar die Entfernung der Juden überhaupt sein.“
Hitlers „Schlüsselerlebnis“ war die Revolution 1918, die er wie die meisten Nationalisten als „Dolchstoß“ von „jüdischen Verrätern“ empfand. Sein Putschversuch in München 1923 reagierte ausdrücklich auf den dortigen Versuch der Räterepublik 1918/19. 1924 schrieb er in der Festungshaft seine Autobiographie Mein Kampf: Darin bekannte er sich offen zum Programm des Antisemitismus und kündete seine Strategie an, es politisch und militärisch durchzusetzen, um die Vernichtung aller Juden zu erreichen. Er sah darin eine Art Mission zur Befreiung der Menschheit vom angeblichen Weltjudentum, auf dessen Verschwörung gegen die „arische Herrenrasse" er den angloamerikanischen Kapitalismus und russischen Bolschewismus gleichermaßen zurückführte.
Für diese Ziele fand sich jedoch längst vor der Gründung der NSDAP ein aufnahmebereites Umfeld: Große Teile der deutschen Studenten- und Akademikerschaft huldigten ungebrochen dem Antisemitismus der Kaiserzeit. Die Deutsche Burschenschaft z.B. beschloss 1921 die Ausgrenzung ihrer jüdischen Mitglieder. Mit der Propagierung der „nationalen Revolution“ wurden viele Studentenverbindungen zum Steigbügelhalter des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbunds (NSDStB). Mit diesem Schlagwort fanden preußische Konservative, bürgerliche Monarchisten, faschistische Staatsbegeisterte und Volkstumsverehrer ihren gemeinsamen reaktionären Nenner.
Nach dem verheerend schlechten Ergebnis der NSDAP bei den Reichstagswahlen 1928, als sie sich mit nur 2,6 Prozent der Stimmen begnügen musste, erging die Weisung an alle Parteigliederungen, in ihrer Propaganda den Antisemitismus zurückzuschrauben, der vor allem in bürgerlichen Kreisen abschreckend wirkte. Stattdessen setzte die Partei in der Endphase der Weimarer Republik vor allem auf außenpolitische Themen wie den Young-Plan und die sozialen Folgen der Weltwirtschaftskrise. Sofort nach ihrer Machtergreifung verfolgten die Nationalsozialisten unter ihrem Regime ab Januar 1933 aber ihr altes antisemitisches Programm, die Juden aus der deutschen Gesellschaft zu verdrängen: In nie zuvor gekannter Schärfe und Konsequenz führten ihre Maßnahmen über Geschäftsboykotte, Emigrationsdruck, die Nürnberger Rassengesetze, Berufsverbote, die „Reichskristallnacht“, Enteignung („Arisierung“), Ghettoisierung bis zur Planung und Durchführung der „Endlösung der Judenfrage“ (Holocaust). Allein diese industriell organisierte Vernichtung des europäischen Judentums – im jüdischen Selbstverständnis Shoa („Unheil, Katastrophe“) genannt – forderte um die 6 Millionen Opfer.
Zwar wandten sich die Nationalsozialisten im Mai 1943 per Dekret offiziell vom Begriff „Antisemitismus“ ab. Der Nazi-Ideologe Alfred Rosenberg gab eine neue Sprachregelung vor, um den neugewonnenen arabischen Verbündeten gegenüber nicht den Eindruck zu erwecken, man „werfe Araber mit den Juden in einen Topf“. Doch dies spielte keine Rolle für die geschaffenen Tatsachen: Der Judenmord ging unvermindert weiter und wurde sogar noch intensiviert, als mit der verlorenen Schlacht um Stalingrad und dem Kriegseintritt der USA die Kriegsniederlage feststand.
Die nationalsozialistische Ideologie und Politik zielte von Anfang bis Ende auf die völlige Ausrottung des Judentums. Damit war eine rassistische Abwertung „semitischer“ und „slawischer“ Völker verbunden, auch wenn diese nicht primäres Objekt der Vernichtungsstrategie waren. Das deutsche Nazi-Regime steht daher für die unerreicht mörderische Umsetzung einer von Beginn an menschenverachtenden Ideologie.
Antisemitismus in anderen Ländern
Benelux-Staaten
In den Niederlanden erhielten Juden schon 1796 die vollen bürgerlichen Rechte und konnten sich danach frei entfalten und integrieren. Sie stiegen z.B. früh in hohe Staatsämter auf, waren Richter, Universitätsprofessoren usw.
In Belgien hatte das Reformierte Christentum mit seiner Wertschätzung des Alten Testaments ebenfalls eine positive Grundhaltung zum Judentum gefördert. Der Protestantismus war hier gegen den Antisemitismus immun. So lehnte Pfarrer Willem Ten-Boom in seiner Doktorarbeit von 1928 (Die Entstehung des modernen Rassen-Antisemitismus (besonders in Deutschland)) zwar nicht die Existenz von Rassen, aber daraus abgeleitete Sonderrechte und Feindschaften klar ab.
Frankreich
In Frankreich formulierte Gobineau 1858 seine Rassenlehre, die aber hier viel weniger Resonanz als im deutschen Kaiserreich fand. Sie wurde nur von wenigen Intellektuellen wie Ernest Renan und Drummont aufgegriffen.
Aber 1894 brachte die Dreyfus-Affäre den Antisemitismus weiter Kreise der Gesellschaft zum Vorschein. Reaktionäre Militärs, unterstützt von Monarchisten und Katholiken, verurteilten den Hauptmann Alfred Dreyfus, Elsässer und Jude, aufgrund gefälschter Papiere als Landesverräter. Als dies bekannt wurde, verweigerte man ihm jahrelang die Rehabilitation. Dies war der Anlass für Theodor Herzls Buch Der Judenstaat (1896), das den politischen Zionismus begründete.

Nach dem Ersten Weltkrieg trat der Antisemitismus in Frankreich zurück. Nur unter dem Einfluss von Charles Maurras kam es nochmals zu einem kurzen Aufflackern antisemitischer Stimmungen.
Während der Occupation unter dem Vichy-Regime wirkten französische Antisemiten aktiv an der Deportation von Juden in die deutschen Vernichtungslager mit. Auch ihre Propaganda erhielt Auftrieb: In Bordeaux unter dem „Inspektor für Judenfragen" Maurice Papon fand 1942 eine Wanderausstellung (Der Jude und Frankreich) viel Anklang. Die Zeitung La Petite Gironde schrieb:
- Der Volksmund sagt, bei einem Verbrechen müsse man stets nach der Frau suchen, die dahinter steckt. Fortan wissen wir, dass wir bei allen Miseren, Konkursen, finanziellen Katastrophen, Skandalen oder Kriegen nach dem Juden suchen müssen, der dahinter steckt.
Großbritannien
Im britischen Königreich vollzog sich die Judenemanzipation fast ohne öffentliche Debatte. Seit 1850 waren Juden nur noch vom Eintritt in das Parlament ausgeschlossen; diese letzte Rechtsschranke wurde 1856 aufgehoben.
Erst im Zuge der starken Einwanderung von fast 200.000 Ostjuden aus Polen und Russland um 1900 kam es zu Konflikten. Die Zuwanderer waren durch Sprache, Tracht und Sitten deutlich unterscheidbar und trafen meist völlig mittellos in England ein. Aus Furcht vor billigen „Lohndrückern“ streikten 1903 die Bergarbeiter von Süd-Wales gegen ihre aus Polen stammenden Kollegen und verlangten einen Einreisestopp für verarmte Ausländer. Diese Anti-Alien-Bill wurde 1905 gegen Proteste der englischen Liberalen erlassen.
Ein späterer Zusatz nahm allerdings aus religiösen und politischen Gründen Verfolgte davon wieder aus, so dass aus Russland und Rumänien vertriebene Juden weiterhin fast ungehindert einreisen konnten. Sie wurden relativ reibungslos integriert.
Im Ersten Weltkrieg entstanden auch in Großbritannien kleine Gruppen von Antisemiten, die aus nationalistischen Gründen vor allem deutsche Juden ablehnten, ohne damit größere Wirkungen zu erzielen. Bernhard Shaw stellte 1925 fest, es gäbe in seinem Land zwar antijüdische Vorurteile, aber diese seien nicht von Vorurteilen gegen Schotten, Iren, Walliser und alle Fremden verschieden. So wie man die Habsucht der Juden verhöhne, spotte man auch über den Geiz der Schotten. Von einem Antisemitismus könne für England keine Rede sein.
Trotz der enormen Zuwanderung von Juden, sozialen Konflikten und gleichzeitiger heftiger antisemitischer Propaganda auf dem Kontinent, vor allem in Deutschland, bewahrte sich Großbritannien also seine Liberalität und öffnete Juden alle sozialen Aufstiegschancen.
Ein Grund dafür lagen im hier traditionell starken aufgeklärten Philosemitismus, etwa von Dichtern wie Matthew Arnold und der Schauspielerin Mary Ann Evans, bekannt unter dem Pseudonym George Eliot. Ihr Aufsatz Die Juden und ihre Gegner, der leidenschaftlich und intelligent für die Verständigung und Aussöhnung mit dem lange geknechteten Judentum plädierte, fand 1880 viel Zustimmung.
Ein weiterer Grund lag im theologischen Interesse der englischen Christen an der heilsgeschichtlichen Rolle Israels. Dies führte 1850 zur Bildung einer „Israel-Bewegung“ (British Israel Movement), die auch kirchenoffizielle Theologen des Anglikanismus und Methodismus beeinflusste.
Doch 1930 entstand auch in England eine faschistische Strömung, die sich in der British Union of Fascists organisierte. Sie konnte aber keine entscheidende politische Macht erringen.
Österreich
Mit dem Toleranzedikt Josephs II. begann 1782 die Emanzipation der traditionell ghettoisierten, damals etwa 1,5 Millionen Juden Österreichs. Sie wurden zu allen Schulen und Hochschulen zugelassen und erhielten weitgehende Gewerbefreiheit. Einwanderung blieb ihnen aber ebenso verboten wie der Erwerb von Haus- und Grundbesitz und die Einfuhr jüdischer Schriften. Seit 1787 mussten sie deutsche, oft zudem diskriminierende Namen annehmen: z.B. Burda – „Fraß“ – oder Blumentritt – „der, der unschuldige, minderjährige Mädchen verführt“. 1788 wurde die Militärpflicht auf sie ausgedehnt.
Unter Kaiser Franz I. schränkten zahlreiche Sondergesetze diese Gleichstellungsansätze wieder ein. Jüdische Ausländer mussten z.B. täglich 30 Kreuzer zahlen und ihre Aufenthaltsberechtigung alle 14 Tage erneuern. Jüdische Hebammen durften nur im Notfall Christinnen entbinden. Die Hofkanzlei ignorierte 1815 eine Bittschrift der Wiener Juden, die Toleranz gesetzlich zu verankern.
Für monarchistische Beamte wie Friedrich von Gentz, den Berater Fürst Metternichs, waren Juden „geborene Repräsentanten des Atheismus, Jakobinismus, der Aufklärerei“. Das hinderte ihn nicht, etwa beim Wiener Kongress gern in den Salons von angesehenen Wiener Juden wie Fanny von Arnstein einzukehren.
Dennoch wurden die städtischen Juden Österreichs bis 1848 anders als in anderen Staaten des Deutschen Bundes ohne Pogrome sozialökonomisch integriert. Vor den Kriegen gegen Napoleon traten katholische Romantiker wie Friedrich Schlegel, Franz von Baader und Klemens Maria Hofbauer für ihre passiven Bürgerrechte ein, setzten aber auch antijudaistische Vorurteile fort. Der Staatsphilosoph Adam Müller verlangte 1823 in einem Gutachten das Heiratsverbot zwischen Juden und Christen und die Rücknahme erreichter Gleichstellung. Er setzte erstmals Judentum und Kapitalismus gleich.
In der Märzrevolution 1848 engagierten sich Akademiker, darunter viele gebildete Juden, meist für den Liberalismus. In den Armenvierteln Wiens dagegen wurde der Ruf laut: Schlagt die Juden tot!, begleitet von einzelnen Gewalttaten. Trotz solcher Aktionen brachte die Pillersdorffsche Verfassung den Juden endlich die ersehnten vollen Bürgerrechte und Religionsfreiheit. Dies nahm die Restauration zum Teil wieder zurück: 1851 mussten jüdische Beamte ihre Staatstreue beeiden, 1853 wurde Juden Grunderwerb erneut verboten, 1855 auch das Notariat und Lehrerberufe. Eigene Zeitungen blieben ihnen erlaubt, so dass sie im Verlagswesen häufiger führende Positionen errangen.
Daraufhin entstand eine antisemitische katholische Gegenpresse, die nun dauerhaft gegen das „demokratische Judengesindel“ hetzte und es mit Liberalismus, Kapitalismus und Kommunismus gleichsetzte. Führend darin war der Artillerieoffizier Quirin Endlich, der „Judenfresser von Wien“. Auch Eduard von Tellering, Journalist für die „Neue Rheinische Zeitung“ von Karl Marx, griff Juden in seiner Schrift Freiheit und Juden als „Wucherer“ (Vertreter des Kapitals) und „Freigeister“ (Vertreter der Demokratie) an, griff aber auch auf die alte Ritualmord-Legende zurück.
Flugblätter behaupteten schon 1848, Juden hätten aus Christensärgen Barrikaden gebaut und auf offener Straße Christenkinder geschlachtet, die Guillotine verlangt und Kreuze verhöhnt. Weiter hieß es:
- Wenn das Christusvolk kein Christentum und kein Geld mehr hat…, dann ihr Juden, lasst Euch eiserne Schädel machen, mit den beinernen werdet ihr die Geschichte nicht überleben.
Der Herausgeber der 1848 gegründeten „Wiener Kirchenzeitung“, Kaplan Sebastian Brunner, dichtete gegen aufgeklärte Philosophen in seinem bekannten Nebeljungenlied:
- Wir haben keinen Judengott mehr,
- Und hassen den Gott der Christen,
- Wir sind die keckste Rotte der Welt,
- Wir jüdischen Pantheisten.
Er versuchte, den „historischen Nachweis der Ritualmordlegende“ zu führen, erneuerte auch das Klischee vom Gottesmord, aufgrund dessen das Judentum verflucht sei, und folgerte:
- Solange die Juden Juden bleiben, nicht bloß der Abstammung, sondern auch dem Glauben nach, ist ihre Emanzipation überhaupt unmöglich…
Diese werde die Gesellschaft entchristlichen, so dass dann das Judentum herrsche. Dies werde Volkes Stimme nicht hinnehmen. Der folgende öffentliche Disput mit Ignaz Kurandas Ostdeutscher Post erregte internationales Aufsehen. Brunner unterlag vor Gericht in mehreren Zensur- und Beleidigungsklagen, was seinen Judenhass noch verschärfte. 1886 verfasste er ein Wanzen-Epos, in dem er Juden als „Ungeziefer“ und „Parasiten“, Antisemitismus als „Wanzenpulver“ bezeichnete. Er hetzte auch gegen Heinrich Heine und Ludwig Börne.
Albert Wiesinger folgte ihm 1867 als Redakteur. In dem Jahr wurde Österreich ein Verfassungsstaat: Seither nannte er die Regierung nur noch „Judenclique“ und führte eine ständige Sparte „Ghettogeschichten“ in die Wiener Kirchenzeitung ein, bis sie 1874 eingestellt wurde. Dem standen aber auch zahlreiche polemische Artikel liberaler Zeitungen, die von Juden geführt wurden, mit „Klostergeschichten“ und Priesterbeschimpfungen gegenüber.
Ab 1875 entstand in Österreich parallel zum Deutschen Kaiserreich eine „christlich-soziale“ bzw. „völkische“ Bewegung: Hauptvertreter war der Konvertit Karl Freiherr von Vogelsang, Redakteur der Wiener konservativen Zeitung Vaterland. Er sah das Land „mit Juden überschwemmt“,
- …weil der liberale Umschwung, mit dem man uns beglückt, durch und durch von jüdischem Geiste durchdrungen ist…uns selbst hat der Judengeist angesteckt, in unseren Institutionen ist er incarniert, unsere ganze Lebensanschauung, unser Handel und Wandel ist davon durchzogen…
Mit Sondergesetzen gegen Juden sei nichts gewonnen. Die Gesellschaft müsse sich wieder dem Christentum und der Ständegesellschaft zuwenden, dann werde sie die Juden „absorbieren“ und so die „Judenüberfluthung“ beenden. Er distanzierte sich 1881 von plumper „Judenhetze“, wie sie damals im Berliner Antisemitismusstreit hervortrat. Aber auch er griff die „goldene Internationale“ des „Finanzjudentums“ an und polemisierte gegen die angebliche Weltherrschaft des Hauses Rothschild, gegen arme „Hausierjuden“ und russische „schachernde und wuchernde Talmudjuden“. Wie Vogelsang sahen Prinz Aloys von Liechtenstein und der Moraltheologe Franz Martin Schindler Antisemitismus als natürliche Reaktion auf den Kapitalismus dort, wo Juden angeblich sozial privilegiert seien.
Offen rassistisch hetzte seit 1877 das Monatsblatt Österreichischer Volksfreund unter Carl von Zerboni: Talmudjuden wollten die regierende Race des Erdballs werden (Nr.1), Gegenwehr gegen die Verjudung sei nötig (Nr.5). Ab Nr. 9 stand über jeder Ausgabe in Großbuchstaben: Kauft nur bei Christen! Ab 1882 wurde das Blatt Presseorgan der aus verschiedenen antisemitischen Handwerkervereinen hervorgehenden „Österreichischen Reformpartei“ unter dem Rechtsanwalt Robert Pattai. Er sah „Manchester-Liberalismus“ und Judenemanzipation als identische Vorgänge und strebte dagegen einen gesunden Staatssozialismus“ an:
- Sollte es aber nicht gelingen, der Judenfrage durch diese notwendigen Reformen die Wurzel abzuschneiden und das natürliche Gleichgewicht wiederherzustellen, dann müssten eben die vielbegehrten Ausnahmegesetze gegen das Judentum notwendig werden.
Dies unterstützte Ludwig Psenner, seit 1884 neuer Herausgeber des „Volksfreunds“, den er bis 1897 führte. Er suchte wie Vogelsang in der Rückbesinnung auf „christliche Werte“ das Heilmittel gegen die „Verjudung“ der Kultur und Gesellschaft. Doch 1886 zerbrach die Reformpartei daran, dass ein radikaler Flügel unter Georg Ritter von Schönerer den großdeutschen „Pangermanismus“ zum Programm erheben wollte.
Daraufhin gründeten Psenner, Ernst Schneider und Adam Latschka einen Verein, aus dem 1887 die „Christlich-Soziale Partei“ (CSP) hervorging. Bei der Gründungsversammlung übertrafen sich die Redner, u.a. der Ungar Franz Komlossy und der Wiener Reichtagsabgeordnete Karl Lueger, gegenseitig in antisemitischen Hetzreden, die etwa 1.000 Anwesende mit stürmischem Beifall bedachten.
Für Regionalwahlen bildete die CSP sofort eine antiliberale Koalition mit deutschnationalen und antisemitischen Gruppen, die „Vereinigten Christen“. Der Antisemitismus war das Bindeglied, auf das alle Beteiligten sich einigen konnten. Das Programm forderte einen Einwanderungsstop für Juden, ihren Ausschluss aus Staatsdienst, Justiz- und Arztberufen, Einzelhandel und gemeinsamem Schulunterricht mit Nichtjuden. Im Deutschen Volksblatt wurde das Ziel umrissen:
- Radical antisemitisch, streng national und entscheiden christlich-social rühren wir alle Tage die Werbetrommel für die große Armee der Judenfeinde…,
um deren Vereinigung in einer einzigen großen Volkspartei zu erreichen. 1888 bei einer Kundgebung für Papst Leo XIII. errang Karl Lueger die Führungsrolle. Er forderte 1890 im Reichstag, die „Hauptursachen des christlichen Antisemitismus“ zu beseitigen:
- die „judenliberale Presse“,
- das „erdrückende Großkapital“, das in jüdischer Hand sei,
- die „Unterdrückung der Christen durch die Juden“;
- das „Martyrium der Deutschen“ unter den jüdischen „Raubtieren in Menschengestalt“.
So fand auch sein Parteifreund Ernst Schneider 1893, Österreich leide an einem contagiösen Geschwür, an dem die Völker und der österreichische Staat leider zugrunde gehen werden, wenn dieses Geschwür nicht beseitigt wird…: Es sind die Juden. Er forderte später in Niederösterreich als Ergänzung für ein Gesetz über die Tötung von Raubvögeln analoge Prämien für die Erschießung von Juden.
Die Einigung der Antisemiten misslang erneut: Die konservativen Katholiken wollten eher die Habsburger Monarchie retten, während die deutschnationalen „Demokraten“ ein antiklerikales großdeutsches Reich anstrebten. Dabei behauptete sich der „gemäßigte“ christlich-soziale Flügel: Schindler verfasste 1895 das Parteiprogramm der CSP, das die Ausbeutung angriff, „sie komme woher sie immer wolle“. Rassistischer Judenhass wurde abgelehnt; man wolle nicht das Judentum als Religion, aber den „Talmudismus“ und die mit dem Liberalismus gleichgesetzten „Reformjuden“ bekämpfen.
Der Papst segnete dies mit der Auflage ab, antisemitische Ausfälle zu unterlassen. Daraufhin musste Kaiser Franz Josef Karl Lueger 1897 schließlich zum Bürgermeister von Wien ernennen. Mit ihm war keine eindeutige Abgrenzung der CSP vom Rasse-Antisemitismus möglich.
Dies galt aber auch für Theologen wie August Rohling, dessen in 17 Auflagen verbreitetes Pamphlet Der Talmudjude (1871) den Antisemiten jahrzehntelang religiöse Argumente lieferte. Er wollte mit teilweise gefälschten Auszügen beweisen, dass der Talmud erlaube,
- …alle Nichtjuden auf jede Weise auszubeuten, sie physisch und moralisch zu vernichten, Leben, Ehre und Eigenthum derselben zu verderben, offen und mit Gewalt, heimlich und meuchlings; – das darf, ja soll, wenn er kann, der Jude von Religions wegen befolgen, damit er sein Volk zur irdischen Weltherrschaft bringe.
Darauf beriefen sich Antisemiten in politischen Versammlungen, u.a. der Wiener Handwerker Franz Holubek 1882:
- Wisst Ihr, was in diesem Buch steht? Die Wahrheit! Und wisst Ihr, wie Ihr in diesem Buch bezeichnet seid? Als eine Horde von Schweinen, Hunden und Eseln!
Dies löste Tumulte aus. Holobuk wurde wegen Störung der öffentlichen Ordnung angeklagt, doch freigesprochen, nachdem sein Verteidiger Robert Pattai vor Gericht aus Rohlings Buch zitierte. Als Rohling als Prozessgutachter zudem den Ritualmord als für Juden „außerordentlich heilige Handlung“ darstellte, warf ihm der junge Rabbiner und Reichsratsabgeordnete Joseph Bloch öffentlich Bereitschaft zum Meineid vor. Rohling zeigte ihn an; um das Verfahren zu ermöglichen, hob der Reichsrat Blochs Immunität auf. Sein Verteidiger, Dr. Josef Kopp, erreichte in zähen Verhandlungen die Zulassung von zwei ausländischen Gutachten zum Talmud. Darauf zog Rohling seine Klage vor Beginn der Hauptverhandlung zurück. Er musste die Prozesskosten tragen und verlor seine Professur für Bibelstudium.
Gleichwohl blieben seine Thesen und die Ritualmord-Legende unter Österreichs Katholiken lebendig. Der Pfarrer Joseph Deckert verglich 1893 in einem Predigtzyklus Türkennot und Judenherrschaft und verteilte gratis Broschüren, die den Ritualmord an Simon von Trient anhand von „Akten“ des Jahres 1475 zu beweisen angaben. Er beauftragte den Konvertiten Paulus Mayer für ein Monatsgehalt von 100 Gulden, ihm eine Schrift zu liefern, die den Ritualmord nach kabbalistischen und talmudischen Lehren „belegen“ sollte. Nach einer Vorabveröffentlichung zeigte Bloch Deckert, Mayer und den Herausgeber des Vaterlands an: Im Prozess wurden alle drei zu Haft bzw. Geldbußen verurteilt.
Dies hinderte Deckert nicht, seine Hetze mit antisemitischen Konferenzreden und Schmähschriften (1894–98) fortzusetzen. Darin hieß es z.B.:
- Darum, die Augen auf, mein christliches Volk, erkenne den ältesten und gefährlichsten Feind Deiner Religion; …wehre Dich Deines Glaubens; Du wirst dadurch auch Deine irdische Wohlfahrt sichern. Amen.
Deckert wurde 1896 vom Wiener Ordinariat verwarnt und erklärte daraufhin, Bloch habe ihn „in den Antisemitismus hineingehetzt“. Doch er hatte sich schon 1895 mit Karl Lueger solidarisiert:
- Nicht gegen die Religion der Juden ist der Antisemitismus gerichtet, obwohl der Talmud die Grundlage und das Grundübel des Judenthums bildet…sondern gegen die Rasse, insofern sie sich allen Nichtjuden, besonders aber den christlichen Ariern feindlich erwiesen hat und noch erweist. Darum hat der Rassenantisemitismus Berechtigung…
Als Bürgermeister Wiens war Lueger allzu radikale Hetze unangenehm. Antisemitismus sei ein sehr gutes Agitationsmittel, um in der Politik hinaufzukommen, wenn man aber einmal oben ist, kann man ihn nicht mehr brauchen, denn das ist ein Pöbelsport! Diesen trieb er vor 1914 vor allem gegen die „rote Judenschutztruppe“ der aufstrebenden Sozialdemokratie weiter.
Nach 1918 verschärfte die Christlich-Soziale Partei ihren Kurs gegen die Republik und den Zuzug von polnischen Juden aus Galizien. Einzelfälle von Schiebern und Spekulanten führten im Oktober 1919 zu einer „Massenkundgebung christlicher Wiener“, bei denen Landtagsabgeordnete die Ausweisung aller Juden aus Österreich verlangten. Das neue Parteiprogramm forderte 1926 die Pflege deutscher Art und die Bekämpfung der Übermacht des zersetzenden jüdischen Einflusses auf geistigem und wirtschaftlichem Gebiet. Parteichef Ignaz Seipel erklärte, dies sei kein Kurswechsel, sondern immer Tradition der Partei gewesen.
Der Publizist Joseph Eberle gab seit 1918 für die katholische Intelligenz die Zeitschrift Das Neue Reich heraus, die in der „Judenfrage“ bewusst auf mittelalterliche Lösungen setzte. Ihm „roch“ die parlamentarische Demokratie „zu sehr nach polnischen Ghettos“. Er schlug z.B. eine von Richard Kralik verfasste „Volkshymne“ mit dem Text vor:
- Gott erhalte, Gott beschütze vor den Juden unser Land! Mächtig durch des Glaubens Stütze, Christen, haltet festen Stand! Lasst uns unser Väter Erbe schirmen vor dem ärgsten Feind, dass nicht unser Volk verderbe, bleibt in Treue fest vereint!
Weitere radikale Antisemiten und Gegner der „Judenrepublik“ waren vor 1933 der Ethnologe Wilhelm Schmidt, der Sozialreformer Anton Orel, der Wiener Bürgermeister Ernst Karl Winter.
Der österreichische Klerikalfaschismus zog die Linien vom Mittelalter zur Gegenwartspolitik: Die katholische Presse in Salzburg hob 1920 z.B. das Verdienst der Kirche hervor, jahrhundertelang die jüdische Gefahr durch Sondergesetze abgewehrt zu haben. Bischof Dr. Sigismund Waitz warnte 1925 im Neuen Reich vor der „Weltgefahr“ des habgierigen, wucherischen, ungläubigen Judentums, dessen Macht „unheimlich“ gestiegen sei.
Ihm widersprach der Benediktiner Alois Mager, der erstmals den Antisemitismus überhaupt als halt- und rechtlos, ja unchristlich erklärte. In der Folgezeit rückte das Blatt von politischer Judenausgrenzung ab und warnte vor dem Ansteigen des Nationalsozialismus. Doch es bekämpfte den katholischen Antisemitismus weiterhin kaum: 1933 erschien in Graz ein weiteres Hetzpamphlet über die Protokolle der Weisen von Zion: Pfarrer Arbogast Reiterers Das Judentum und die Schatten des Antichrist.
Nach Adolf Hitlers Ernennung zum Reichskanzler verharmloste Österreichs Presse die beginnende Judenverfolgung in Deutschland: Nach dem Judenboykott des 1. April 1933 zitierte man Hermann Görings Erklärung, die NS-Regierung werde niemals dulden, dass ein Mensch nur deshalb irgendwelchen Verfolgungen werden sollte, weil er Jude sei. Der Philosophieprofessor Hans Eibl betonte die geschichtliche Schuld der Juden am Bolschewismus. Die Ausgrenzung von Juden wie Max Reinhardt aus dem Kulturleben Berlins wurde ebenso begrüßt wie die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933. Der Ethnologe Oswald Menghin bejahte in seinem Buch Geist und Blut den Zionismus aus „rassischen“ Gründen, da die Integration der Juden den „deutschen Volkscharakter“ verändern würde.
Wer den Maßnahmen der Nazis öffentlich widersprach, betonte meist im selben Atemzug, Assimilation und Bekehrung der Juden seien unbedingt nötig, um die von ihnen ausgehende „Gefahr“ zu vermeiden. Zugleich wurde oft die Rückkehr zum christlichen Ständestaat propagiert, in dem die Juden ghettoisiert waren. Selbst die Reichskristallnacht deuteten führende Katholiken Österreichs wie Eberle als Reaktion auf jüdische Schuld früherer Jahrhunderte. Nur wenige wie der Philosoph Dietrich von Hildebrandt bezogen deutlich und leidenschaftlich gegen die Nürnberger Gesetze Stellung.
Polen
In den Jahren um 1848 hatten sich die Juden Kongreßpolens erneut als glühende Patrioten gezeigt und für Polens Befreiung gekämpft, von der sie sich auch ihre Gleichstellung erhofften. 1862 kam es in Warschau nach gemeinsamen Aufständen gegen die russische Herrschaft zu Verbrüderungen von Christen und Juden, die ihre Gefallenen gemeinsam bestatteten. Der Marquis Aleksander Wielopolski verbesserte daraufhin ihre Rechtslage: Sie durften Immobilien erwerben, wurden als Zeugen vor Gericht zugelassen und mussten keine Sondersteuern mehr zahlen.
Doch nach dem Scheitern des polnischen Aufstands 1864 war den Juden Polens die Perspektive der Emanzipation verstellt, während das Wohlstandsgefälle weiter bestand. Nun gewann allmählich eine Ablehnung der Juden an Boden, da diese die Assimilation offenbar verweigerten und sich aufgrund ihrer religiösen Gebräuche beharrlich absonderten.
Auf die russischen Pogrome von 1881 reagierte das polnische Bürgertum überwiegend empört und schloss ähnliche Gewaltakte für Polen aus. Doch schon am 25. Dezember jenes Jahres kam es in Warschau zu einer tagelangen Plünderung des Judenviertels, nachdem bei einer Massenpanik in einer katholischen Kirche 28 Menschen zu Tode kamen und ein Gerücht Juden dafür verantwortlich machte. Nun schrieb die Warschauer Prawda:
- Das polnische Volk hasst die Juden aus religiösen und Rassengefühlen.
Dieser Hass traf vermehrt Juden, die damals ohne Kenntnis polnischer Kultur aus Russland flohen und die wirtschaftliche Konkurrenzsituation zu den ebenfalls unterdrückten Polen verschärften. Das löste auch bei liberalen Intellektuellen häufige Sorgen vor „Überfremdung“ aus.
Mit Jan Jelenski begann ab 1877 auch in Polen eine antisemitische Publikation. 1887 gründete sich im Schweizer Exil die Liga Narodowa (nationale Liga) als Geheimbund gegen die russische Fremdherrschaft. Daraus ging 1897 die Partei Demokracja Narodawa (nationale Demokratie) hervor. Sie suchte bald sozialen und ökonomischen Fortschritt durch Kompromisse mit den Russen auf Kosten der polnischen Juden und Deutschen zu erreichen. Ihr führender Ideologe, Roman Dmowski, schrieb 1903:
- Ein nationaler Organismus darf nur das aufsaugen, was er sich zu eigen machen und in eine Vermehrung des Wachstums und der Stärke des Gesamtkörpers umsetzen kann. Ein solches Element sind die Juden nicht…die Aufsaugung einer größeren Menge dieses Elements [würde] uns verderben (), durch Elemente des Zerfalls jene jungen schöpferischen Keimzellen ersetzen (), auf welchen wir unsere Zukunft bauen.
Die nationale Intoleranz sei Folge des Duldens der Juden, da diese unfähig zur Integration seien. Diese Motive des völkischen Antisemitismus griffen nun in Polen wie in Deutschland 20 Jahre zuvor um sich.
Bei den polnischen Bauern waren neben nationalen alte religiöse Motive für neuen Judenhass wirksam. Besonders in Posen und Galizien stachelte sie meist der katholische Klerus, die Dorfpriester, gegen die Juden auf. Man denunzierte sie nach ersten Streikwellen und der Russischen Revolution von 1905 als heimliche Drahtzieher des sozialrevolutionären Umsturzes. 1911 schrieb z.B. die Lemberger Gazeta Niedzielna (Wochenzeitung):
- Das sollt ihr nicht erleben, ihr Herren Juden. [die Revolution und rechtliche Gleichstellung] Nur eines werden wir euch erleichtern, … dass ihr so schnell wie möglich euch aus unserem Lande begebt. Wer mit uns bleiben will, der nehme unseren Glauben an und werde Pole…
So bildeten Katholizismus und Nationalismus auf dem Land weithin eine antijudaistische, antidemokratische und antisozialistische Einheit.
Auf jüdischer Seite verstärkte dies die Bindung an eigene Tradition und Religion, Hinwendung zum Zionismus und zum proletarischen Sozialismus. Viele Juden lehnten bis 1914 ein unabhängiges Polen ab, weil dieser Nationalstaat ihnen nur größeren Assimilationsdruck versprach. Als Polen 1918 unabhängig wurde, änderte sich dies rasch: Die Zionisten bildeten einen „Nationalrat“, der als Partei für den Sejm (das polnische Parlament) kandidierte und dort die Gleichberechtigung aller Juden Polens – etwa 2 Millionen – forderte. Diese wurde 1930 realisiert.
Doch seit dem Krieg mit der jungen Sowjetunion 1920 wuchs in Polen der offene Antisemitismus. Polens Bischöfe veröffentlichten einen Hilferuf an die Katholiken in aller Welt, in dem sie das Judentum mit dem Bolschewismus gleichsetzten:
- Das wahre Ziel des Bolschewismus ist die Welteroberung. Die Rasse, welche die Führung des Bolschewismus in ihren Händen hat, hat schon in der Vergangenheit die Welt mittels des Goldes und der Banken unterworfen, und jetzt, getrieben durch die immerwährende imperialistische Gier, die in ihren Adern pocht, zielt sie schon auf die endgültige Unterwerfung der Nationen unter das Joch ihrer Herrschaft…Bolschewismus ist in Wahrheit die Verkörperung und Fleischwerdung des Antichrist auf Erden.
Der antisemitische Priester und Parlamentarier Kazimierz Lutoslawski denunzierte die Juden als Werkzeuge der Russifizierung und Germanisierung und lastete ihnen die Demoralisierung des Volkes, seiner Arbeitskraft, Entchristlichung der Kultur, kurz: die „Vergiftung der Volksseele“ Polens an.
Auf dem Hintergrund dieser verbreiteten, vom katholischen Klerus und nationalkonservativen Parteien gestützten und propagierten antisemitischen Stereotypen wurden Juden von Polen während der deutschen Besetzung dann kaum verteidigt und z.B. 1941 in Jedwabne von der Dorfbevölkerung ermordet. Obwohl die Vernichtungslager der Deutschen in Polen durchaus bekannt waren, richtete sich der polnische Widerstand selten dagegen. Bereits im Herbst 1946 kam es in Polen erneut zu Pogromen an Juden, die den Holocaust überlebt hatten.
Russland, Ukraine, Sowjetunion
Im Russischen Reich gab es anfangs kaum Judengemeinden. Dennoch übernahm die orthodoxe Staatskirche neben antikatholischer Polemik den traditionellen Antijudaismus der Patristik, etwa von Johannes Chrysostomos. Die Ikonenmalererei enthielt auch antijüdische Motive. Im Zuge der russischen Ausdehnung nach Westen wurden die Juden Polens oft als Katholikenfreunde betrachtet und grausam verfolgt, so durch Iwan IV. 1563 in Polozk.
Der ukrainische Aufstand von 1648 unter Führung des Kosaken-Hetmans Bohdan Chmelnyzkyj richtete sich zwar gegen die Herrschaft des polnischen Adels in den ukrainischen Gebieten Polen-Litauens, doch ein großer Teil seiner Opfer waren Juden, die oft in einer prekären Vermittlerposition zwischen polnischen Magnaten und ukrainischen Bauern standen. Jüdische Opfer werden auf eine Zahl zwischen 10.000 und 200.000 geschätzt. Während der Aufstand in der ukrainischen Geschichtsschreibung als Akt des nationalen Heldentums gilt, sieht die jüdische Geschichtsschreibung darin den ersten Vorläufer der großen neuzeitlichen Judenmorde.
Durch die Türkenkriege und drei polnischen Teilungen im 18. Jahrhundert gelangten zahlreiche Judengemeinden in den eroberten Gebieten unter russische Herrschaft. Bereits 1790 verbot Katharina II. Juden nach anfänglicher Toleranz den Kaufmannsberuf und erlegte ihnen doppelte Steuern auf, um die Moskauer Kaufleute vor unliebsamer Konkurrenz zu schützen. Gleichwohl mussten sich die leibeigenen Bauern häufig beim jüdischen Kleinbürgertum verschulden, um die hohen Auflagen ihrer Grundherren auszugleichen. Auf dieser Basis kam es schon 1825, dann erneut 1841 und 1871 in Odessa zu Ausschreitungen gegen die Juden der Region. Die auf dem Land verbreitete Judenverachtung spiegelt sich auch in der damaligen Literatur, etwa in Turgenews Aufzeichnungen eines Jägers (1852).
Zar Nikolaus I. verfolgte eine harte antijüdische Politik: 1835 begrenzte er den Hauptwohnsitz der Juden im Russischen Reich auf den sogenannten Ansiedlungsrayon (Tscherta osedlosti), dieser umfasste 15 Gouvernements des Kernreichs und zehn weitere im Königreich Polen. Die orthodoxe Staatskirche begrüßte diese Ghettoisierung als Chance zur konzentrierteren Judenmission; der konservative russische Adel und das Großbürgertum sahen darin eine willkommene Abwehr des parlamentarischen „Virus“ aus Westeuropa.
Die 1861 erfolgte „Bauernbefreiung“ von Alexander II. gestattete ehemals leibeigenen Bauern den Landerwerb, was Gebildeten und Begüterten – darunter relativ vielen Juden – eher zugute kam. Dies vergrößerte den Judenhass der einfachen Bevölkerung noch. Ihre Vorurteile vertrat auch Dostojewski in seinem einflussreichen Tagebuch eines Schriftstellers 1877:
- Da kam nun der Befreier und befreite das autochthone Volk – und was nun: Wer stürzte sich als Erster darauf als ein Opfer, wer benutzte vorzugsweise seine Laster, wer umwand es mit seinem ewigwährenden goldenen Gewerbe, wer ersetzte sogleich, wo er nur konnte und gelegen kam, die abgeschafften Gutsherren? Mit dem Unterschied, dass die Gutsherren, wenn sie die Leute auch stark ausgebeutet hatten, dennoch bestrebt waren, ihre Bauern nicht zugrunde zu richten, meinetwegen um ihrer selbst willen, um ihre Arbeitskraft nicht zu erschöpfen; aber den Hebräer kümmert die Erschöpfung der russischen Kraft nicht, er nahm das Seine und ging…
Erst unter Alexander II. durften einige reiche russische Juden außerhalb der Ghettos wohnen und ihre Kinder auf höhere Schulen schicken. Seine Ermordung am 1. März 1881 aber löste eine Pogromwelle aus: Staatlich lancierte Gerüchte lasteten den Mord und die schlechte Versorgungslage der jüdischen Minderheit an, um den Unzufriedenen ein Ventil für das Ausbleiben einer vom Zaren versprochenen Landreform zu öffnen. In den Folgemonaten verwüsteten und plünderten arbeitslose verarmte Bauern, die sich dabei auf einen angeblichen Zaren-Befehl beriefen, über 100 jüdische Gemeinden vor allem in der Ukraine. Die Behörden blieben untätig, und die christliche Stadtbevölkerung duldete die Übergriffe. Nur wenige orthodoxe Kleriker versuchten, die Bauern von den Exzessen abzubringen.
Zar Alexander III. verordnete dann am 3. Mai 1882 Knebelgesetze, die die Juden an freier Berufswahl und Gewerbefreiheit hinderten und vielfach in noch größere Armut stürzten. Sie lösten die erste Alijah (Einwanderungswelle) von Juden nach Palästina aus. In dieser Zeit begannen einige Intellektuelle gegen die judenfeindlichen Staatsmaßnahmen zu protestieren, darunter Odessas Erzbischof Nikanor. Auch der „russische Lessing“, der Religionsphilosoph Wladimir Sergejewitsch Solowjow (Das Judentum und die christliche Frage 1884) setzte sich neben der Wiedervereinigung von orthodoxer und katholischer Kirche für nachhaltige gegenseitige Achtung von Juden und Christen ein. Er fand u.a. die rückhaltlose Zustimmung von Leo Tolstoj.
Andererseits griff die judenfeindliche Hetze gerade in der Priesterschaft um sich. Bildungsrückstand und traditionelle Verbindung von staatlicher Despotie und Kirche trugen dazu bei. So fand die Ritualmord-Anklage im 19. Jahrhundert gerade in Russland prominente Fürsprecher und Popularität. Seit 1881 kam die Gleichsetzung des Judentum mit revolutionären Umtrieben hinzu, die wegen der Bildung einer jüdischen sozialistischen Partei und dem relativ hohen Anteil von Juden in der russischen Sozialdemokratie plausibel wirkte. Die Gegenrevolutionäre vereinten sich in Gruppen wie dem Bund des russischen Volkes oder dem Erzengel-Michael-Bund, die unter orthodoxen Priestern viel Zulauf hatten.
Die zweite große Pogromwelle von 1903 wurde wahrscheinlich von solchen Gruppen organisiert. Sie begann am Osterfest des Jahres in Kischinew und griff rasch auf Gomel, dann Hunderte weiterer Orte über. Der gesetzlich vorgeschriebene Eingriff des Militärs unterblieb, und die Regierung stellte die Pogrome als angeblich „spontane Racheakte“ der christlichen Bevölkerung an jüdischen Revolutionären hin. Das wiederholte sich während der ersten russischen Revolution 1905. Danach wurden die antijüdischen Gesetze noch verschärft und blieben bis zur Februarrevolution 1917 in Kraft. So war der russische Antisemitismus, gestützt auf den ländlichen Antijudaismus, eine kaum verhohlene halboffizielle Maßnahme zur Verhinderung der Sozialrevolution. In diesen Jahrzehnten erfolgte die zweite und dritte Alijah von Juden nach Palästina.
Die Februarrevolution unter Alexander Kerenski brachte allen Minderheiten, auch den Juden, 1917 die rechtliche Gleichstellung. 140 antijüdische Gesetze wurden aufgehoben. Doch nach der Oktoberrevolution kam es im Verlauf des Russischen Bürgerkriegs zu den bislang schwersten Pogromwellen in den von den „Weißen“ Konterrevolutionären besetzten Gebieten. Sie kosteten vor allem in der Ukraine etwa 60.000 Juden das Leben.
Danach waren Christen wie Juden der gleichen antireligiösen Staatspropaganda und Unterdrückung ausgesetzt. Die vorherige Gleichsetzung von Judentum und Kommunismus im orthodoxen Klerus sorgte mit dafür, dass die KPdSU die Synagogen nicht bevorzugte und ihre Lehrer wie die der Kirche für fortgesetzten Religionsunterricht mit Zwangsarbeit oder in Schauprozessen mit dem Tod bestrafte.
Stalin aktivierte den orthodoxen Antijudaismus seit 1936 gegen alle abweichenden Meinungen und Gruppen in der KPdSU, besonders gegen vermeintliche oder tatsächliche Trotzkisten. Zwar lockerte er seit 1940 einige der antireligiösen Gesetze, um den traditionellen christlichen russischen Patriotismus gegen den Überfall Hitlerdeutschlands zu mobilisieren. Davon waren die Judengemeinden jedoch ausgenommen, obwohl ihre Angehörigen die Heimat nicht minder aufopferungsbereit verteidigten. Russische Juden wurden den Nazis teilweise ausgeliefert; die Rote Armee unternahm anfangs nichts gegen die Ghettoisierung der polnischen Juden.
Neu veröffentlichtes Archivmaterial u.a. des Zentralkommitees der KPdSU datiert den staatlich organisierten Antisemitismus auf 1938 (Kostyrtschenko 2005). Damals fragten führende Parteiorgane nach der angeblichen „Verunreinigung“ der Kader (Angestellten) im Volkskommissariat für Gesundheit: Die Hälfte der Familiennamen auf dieser Liste waren „jüdisch“. Von 1942 bis 1944 häuften sich innerparteiliche antisemitische Dokumente.
In den Kriegsjahren ließ Stalin die Wirkungen des latenten Antisemitismus im Staatsapparat aus innen- wie außenpolitischen Gründen möglichst bremsen. Doch mit Beginn des Kalten Krieges mussten die Juden wieder für ihn die Rolle des inneren Feindes übernehmen. Die bisher veröffentlichten, noch unübersetzten russischen Dokumente, fast alle „geheim“ gestempelt, lassen die Abfolge dieser Politik erkennen:
- gewaltsame Auflösung des „Jüdischen Antifaschistischen Komitees“,
- Repressionen gegen die Führer des Jüdischen Autonomen Gebiets,
- Vernichtung der jiddischen Kultur,
- eine Kampagne gegen „heimatlosen Kosmopolitismus“,
- „Säuberungen“ in den Kadern von Staat, Wirtschaft, Kultur und Gesundheitswesen.
Hier zeigt sich, dass der stalinistische Antisemitismus weniger offen propagiert wurde als bei den Nationalsozialisten. Er wurde politisch dosiert und tarnte sich durch die Ideologie des „Internationalismus“, also Juden als weltweiter Feind betrachtet (insbes. der Dritten Welt), obwohl zuallererst die russischen Juden gemeint waren. Säuberungsbefehle wurden fast immer mündlich angeordnet und weitergegeben. Dazu reichten Tarnworte aus, da fast alle Parteikader (außer den jüdischen) ohnehin antisemitisch eingestellt waren und wussten, worum es ging.
Als Stalin todkrank war, erreichte der staatliche Antisemitismus in der „Affäre der Kreml-Ärzte“ einen Höhepunkt. Stalins Tod 1953 beendete mögliche Pläne zu größeren Judenverfolgungen. Erst unter seinen Nachfolgern kam es wieder zu einem teilweise staatlich verordneten Austausch zwischen und einer Annäherung von Christen und Juden Russlands.
Schweiz
Die Ablehnung von Juden war in der Schweiz lange sehr stark. 1848 erhielten nur die Schweizer Christen die vollen Staatsbürgerrechte. Bis etwa 1850 weigerten sich die meisten Kantone der Schweiz, Juden die Ansiedlung zu gestatten. Erst 1866 brachte eine Volksabstimmung ihnen die vollen bürgerlichen Rechte und erlaubte ihnen auch die freie Religionsausübung.
1874 beseitigte die Revision der Bundesverfassung die letzten antijüdischen Bestimmungen und ermöglichte so die volle Integration der jüdischen Minderheit. Jedoch blieb auch danach eine antisemitische Grundströmung erhalten: Diese führte 1892 zum Verbot des Schächtens und zu einer verstärkten Publikation von antisemitischen Schriften.
In der französischen Schweiz war die Haltung der Bevölkerung mehrheitlich tolerant gegenüber Juden. In Genf setzte sich die Gleichstellung aller Bürger vor dem Gesetz seit der Französischen Revolution zuerst durch. Hinzu kam hier die Tradition des Calvinismus, die das Alte Testament betonte und damit eine gemeinsame Basis mit dem Judentum hatte. Gerade Schweizer Theologen wie Leonhard Ragaz erteilten dem in den Nachbarstaaten wachsenden Antisemitismus nach dem 1. Weltkrieg eine klare Absage und strebten die Versöhnung beider Religionen an.
Skandinavien
In Dänemark erhielten die Juden 1849 die bürgerliche Gleichberechtigung und wurden ohne Störungen integriert.
In Schweden wurden antijüdische Sondergesetze langsamer abgebaut: 1870 blieben den Juden aber nur noch der Reichsrat und Ministerämter verwehrt.
In Norwegen wurde Juden der Zuzug bis 1851 ganz verboten. Ein antisemitischer Rassenhass war jedoch in keinem der drei Staaten feststellbar.
Erst unter dem Einfluss des Berliner Antisemitismusstreits kam es auch in Skandinavien unvermutet zu antijüdischen Reaktionen gegen die Judenemanzipation: So polemisierte der norwegische Theologe F.C. Heuch 1879 gegen den jüdischen Literaturhistoriker Dr. Brandes, der in Ablehnung an Gotthold Ephraim Lessing einen humanistischen Fortschrittsglauben vertrat. Heuch sah das „glaubenslose Reformjudentum“ als gefährlichen Feind des Christentums, das auf dessen Ausrottung hinarbeite.
Ähnlich warnte auch der Kopenhagener Pastor Fredrik Nielsen 1880 vor dem „modernen Judentum“, das von Lessing, Moses Mendelssohn und Abraham Geiger inspiriertes Anti-Christentum sei. Beide hatten jedoch kaum eine nachhaltige Wirkung auf das Geistesleben ihrer Länder.
USA
Die Puritaner hatten als Calvinisten das Alte Testament großgeschrieben. Die Sehnsucht nach freier Religionsausübung war ein Hauptmotiv für ihre Auswanderung in die damals noch britischen Kolonien. Die in der Bill of Rights 1776 verankerte religiöse Toleranz ließ die USA zum idealen Ziel vieler in Europa bedrängter und religiös verfolgter Gruppen, auch der Juden werden.
Bis 1850 lebten nur etwa 60.000 Juden in den USA. Seit den russischen Pogromen von 1881 kamen jährlich 6.000 russische Juden dazu. Bis 1910 stieg die Zahl der amerikanischen Juden so auf insgesamt 2 Millionen. Um 1930 lebten schon über 4 Millionen Juden in den USA. Dieser enorme Zuzug führte zu regionalen Spannungen, die 1921 zu einer gesetzlichen Begrenzung der jüdischen Zuwanderung vor allem aus Südosteuropa durch ein Quotensystem führten.
Seit 1879 beeinflussten deutsche und französische antisemitische Schriften die Öffentlichkeit in den USA etwas. Der deutsche Lehrer und Antisemit Hermann Ahlwardt versuchte seit 1896, auch in den USA nach deutschem Vorbild eine antisemitische Partei zu gründen, scheiterte jedoch.
Freikirchen hatten in den USA ein traditionelles Interesse an der Judenmission. Um 1900 wurde diese von über 30 Konfessionen und Verbänden gepflegt. Aber schon 1890 kam es zu einer nationalen Konferenz von Juden und Christen, die einander besser kennen lernen wollten, zusammen Vorträge hörten und beteten. Die Abschlusserklärung proklamierte, dass jede ungerechte Behandlung von Juden und ihr Ausschluss zu sozialen Vorteilen „unamerikanisch“ und „unchristlich“ sei.
Erst im Gefolge des Ersten Weltkriegs entstand auch in den USA eine antisemitische Strömung. Dafür war seit 1920 vor allem die Kampagne von Henry Ford verantwortlich. Gegen seine öffentlichen Anklagen in der Zeitung Dearborn Independent erhoben sich jedoch sofort anhaltende Proteste von vielen Seiten, darunter dem Verband der Churches of Christ in America. In Großannoncen veröffentlichten u.a. 119 angesehene Bürger ihre Abscheu vor Fords antisemitischen Hetzparolen:
- Antisemitismus ist fast unabänderlich verbunden mit Gesetzlosigkeit, Brutalität und Ungerechtigkeit. Er ist ebenso unausweichlich verflochten mit anderen dunklen Gewalten, vornehmlich jenen, die korrupt, reaktionär und voll Unterdrückung sind. Wir glauben, der Kampf gegen diese Pest sollte nicht den Männern und Frauen jüdischen Glaubens überlassen bleiben…
1927 widerrief Ford angesichts des breiten innenpolitischen Widerstands seine antisemitische Erklärung und brach die Kampagne ab.
Eine gewisse Nachwirkung zeigte sich an manchen Hochschulen: So führte zum Beispiel die Yale University 1925 ein diskriminierendes Aufnahmesystem ein, das Kinder von nichtjüdischen Absolventen bevorzugte, um so den Anteil jüdischer Studierender zu begrenzen.
In den 30er Jahren waren Radiosendungen des antisemitischen katholischen Priesters Charles Coughlin sehr beliebt. In den Südstaaten ist unter den weißen Protestanten die Ablehnung „jüdischer Yankees“ der „Wallstreet“ – also der städtischen Hochfinanz der Nordstaaten – zum Teil bis heute verwurzelt.
Arabische Länder, Japan und China
Auch in Nordafrika, dem Nahen Osten und Ostasien waren Juden vor und während des Zweiten Weltkriegs antisemitischen Maßnahmen ausgesetzt. Diese kamen zum Teil durch den politischen Druck des NS-Regimes in Deutschland und den Einfluss bzw. die Übernahme seiner Ideologie zustande.
Juden wurden u.a. in Marokko, Algerien, Tunesien und Libyen deportiert, inhaftiert, in Konzentrationslager gesperrt, gefoltert und ermordet. Es kam u.a. auch zu Pogromen, Plünderungen und Zerstörung/Schändung von Synagogen. Im Irak töteten Soldaten und Polizisten rund 200 Juden, nachdem die prodeutsche Regierung in Bagdad gestürzt worden war.
Durch deutsche Interventionen kam es in Japan zu Verhaftungen von Juden in Kobe. In China wurde ein jüdisches Ghetto in Shanghai eingerichtet (Hongkou-Ghetto).
Literatur
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- Alex Bein: Die Judenfrage. – Stuttgart : DVA, 1980. – ISBN 3-421-01963-0
- Bd. 1 Biographie eines Weltproblems
- Bd. 2 Anmerkungen, Exkurse, Register
- Wolfgang Benz / Angelika Königseder (Hrsg.): : Judenfeindschaft als Paradigma : Studien zur Vorurteilsforschung. – Berlin : Metropol Verl., 2002. – ISBN 3-936411-09-3
- Werner Bergmann: Geschichte des Antisemitismus. – München : Beck, 2002. – ISBN 3-406-47987-1
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- Walter Boehlich (Hrsg.): Der Berliner Antisemitismusstreit – Frankfurt/M. : Insel-Verl., 1988. – ISBN 3-458-32798-3
- Micha Brumlik: Deutscher Geist und Judenhass : das Verhältnis des philosophischen Idealismus zum Judentum. – München : Luchterhand, 2000, ISBN 3-630-62028-0
- Gudrun Hentges: Schattenseiten der Aufklärung : die Darstellung von Juden und „Wilden“ in philosophischen Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts. – Schwalbach/Taunus : Wochenschau-Verl., 1999. – ISBN 3-87920-485-3
- Steven A. Carr: Hollywood and anti-semitism : a cultural history up to World War II. – Cambridge : University Pr., 2001. – ISBN 0-521-57118-9
- Detlev Claussen: Grenzen der Aufklärung : zur gesellschaftlichen Geschichte des modernen Antisemitismus. – Frankfurt/M. : Fischer TB-Verl., 1987. – ISBN 3-596-26634-3
- Detlev Claussen (Hrsg.): Vom Judenhaß zum Antisemitismus : Materialien einer verleugneten Geschichte. – Darmstadt : Luchterhand, 1988. – ISBN 3-630-61677-1
- Ulrich Enderwitz, Antisemitismus und Volksstaat: Zur Pathologie kapitalistischer Krisenbewältigung. Freiburg i. Br. : Ça ira Verl., 1998. – ISBN 3-924627-28-2
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- Kostyrtschenko, G. W., Hg., Gosudarstwennyi antisemitism w SSSR. Ot natschala do kulminatsii 1938-1953. Moskau: Verlag Materik, 2005, 592 Seiten (Dokumentensammlung über staatlichen A. in der UdSSR, bisher nur in russischer Sprache)
- Stefan Lehr: Antisemitismus – Religiöse Motive im sozialen Vorurteil. Christian Kaiser Verlag, München 1974, ISBN 3-459-00894-6
- Abraham Léon: Die jüdische Frage : eine marxistische Darstellung. – Essen : Arbeiterpresse-Verl., 1995. -ISBN 3-88634-064-3
- Michael Ley: Kleine Geschichte des Antisemitismus. – München : Fink, 2003. – ISBN 3-8252-2408-2
- Thomas Nipperdey / Reinhard Rürup: Antisemitismus – in: Otto Brunner (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe : historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. – Stuttgart : Klett, 1972
- Gerhard Paul: Aufstand der Bilder. Die NS-Propaganda vor 1933, 2. Aufl. Bonn 1992, ISBN 3-8012-5015-6.
- Moishe Postone: Nationalsozialismus und Antisemitismus – Ein theoretischer Versuch (S. 242–254) – in: Diner, Dan (Hrsg.): Zivilisationsbruch : Denken nach Auschwitz. – Frankfurt/M. : Fischer TB-Verl., 1988. – ISBN 3-596-24398-X [4]
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- Jean Paul Sartre: Überlegungen zur Judenfrage. – Reinbek : Rowohlt, 1994. – ISBN 3-499-13149-8
- Michael Selzer (Hrsg.), „Kike!“ : a documentary history of anti-semitism in America. – New York : World Publ., 1972 – ISBN 0-529-04471-4
- Shulamit Volkov: Antisemitismus als kultureller Code : 10 essays. – München : Beck, München 2000. – ISBN 3-406-42149-0
- Gustav Weil: Semitische Völker. – in: Carl von Rotteck / Carl T. Welcker (Hrsg.): Das Staats-Lexikon. – Frankfurt/M. : Keip, 1990 (Repr. d. Ausg. Altona 1845) – ISBN 3-8051-0054-X
- Japan und die Juden 1933-45; **ZDF-Sendung zu Juden in Asien **Juden in Arabien 1933-45
Siehe auch
- Judenfeindlichkeit (Überblicksartikel)
- Antike Judenfeindschaft
- Antijudaismus im Neuen Testament
- Antijudaismus im Mittelalter
- Antijudaismus in der Neuzeit
- Antisemitismus nach 1945
- Arabischer Antisemitismus
- Antisemitismusforschung
- Rassentheorien
- Vordenker des Nationalsozialismus
- Judenzählung
- Bäder-Antisemitismus
- Der Untermensch Rede Heinrich Himmlers vor der SS (1935)
Weblinks
Biografien und Werke von Antisemiten
Geschichte
- Baustein.dgb: Die Deutschen werden den Juden Auschwitz niemals verzeihen. Antisemitische Bilder und ihre Geschichte
- Shoa.de: Vom religiösen Antijudaismus bis zur Endlösung
- Ursula Hohmann: Über judenfeindliche Tendenzen der Aufklärung
- Ludger Heid: „Was der Jude glaubt, ist einerlei…“ Der Rassenantisemitismus in Deutschland (1800-1933)
- Deutsches Historisches Museum: Antisemitismus im Kaiserreich
- Kulturkritik.net: Antisemitismus
- IDGR: Antisemitismus
- Hagalil: Weiterführende Artikel
- Holocaust-Referenz: Antisemitismus
- Shoa.de: Das antisemitische Stereotyp
- Bruderhof.de: Wurzeln des Antisemitismus