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Komplexe posttraumatische Belastungsstörung

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Als Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (auch chronfizierte komplexe posttraumatische Belastungsstörung) wird ein psychisches Krankheitsbild bezeichnet, das sich infolge einer schweren, oft anhaltenden Traumatisierung (z.B. Misshandlungen oder sexueller Missbrauch, physische und/oder emotionale Vernachlässigung in der Kindheit, existenzbedrohende Lebensereignisse) entwickeln kann. Es kann sowohl direkt im Anschluss an die Traumata, als auch mit zeitlicher Verzögerung (Monate bis Jahrzehnte) in Erscheinung treten. Das Krankheitsbild ist im Unterschied zur Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) durch ein breites Spektrum kognitiver, affektiver und psychosozialer Beeinträchtigungen gekennzeichnet, die über einen längeren Zeitraum bestehen bleiben.

Erscheinungsbild, Häufigkeit und Verlauf

Symptome

Im Rahmen einer komplexen posttraumatische Belastungsstörung können im Verlauf der Erkrankung eine Vielzahl von Symptomen auftreten. Legt man die diagnostischen Kriterien zugrunde, mit denen die sehr ähnliche „Störung durch Extrembelastung, nicht andersweitig bezeichnet“ (DESNOS, Anhang DSM IV) beschrieben wurde, lassen sich die Symptome aber sechs übergeordneten Bereichen zuordnen:

I. Veränderungen in der Regulation von Affekten und Impulsen (Affektregulation, Umgang mit Ärger, autodestruktives Verhalten , Suizidalität, Störungen der Sexualität, exzessives Risikoverhalten)
II. Veränderungen in Aufmerksamkeit und Bewusstsein (Amnesien, zeitlich begrenzte dissoziative Episoden und Depersonalisationserleben)
III. Veränderungen der Selbstwahrnehmung (Ineffektivität, Stigmatisierung, Schuldgefühle, Schamhaftigkeit, Isolation und Bagatellisierung)
IV. Veränderungen in Beziehungen zu anderen (Unfähigkeit anderen Personen zu vertrauen, Reviktimisierung, Viktimisierung anderer Personen)
V. Somatisierung (Gastrointestinale Symptome, chronische Schmerzen, kardiopulmonale Symptome, Konversionssymptome, sexuelle Symptome)
VI. Veränderungen von Lebenseinstellungen (Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, Verlust früherer stützender Grundüberzeugungen)

Häufigkeit

Unter anderem wegen der nicht abschließend geklärten Überschneidungen mit anderen psychischen Krankheitsbildern existieren nur wenige Erkenntnisse über die Prävalenz der komplexen PTBS. Die Lebenszeitwahrscheinlichkeit einer „einfachen“ PTBS liegt in der deutschen Allgemeinbevölkerung nach derzeitigem Erkenntnisstand zwischen 2% und 7%; amerikanische Studien sprechen von 5%-10%. Für ca. zwei Drittel dieser Personen besteht das Risiko einer Chronifizierung. Unter den schwer traumatisierten Personen finden sich in den westlichen Industriestaaten etwa doppelt so viele Frauen wie Männer. Der Grund dafür könnte darin liegen, dass junge Mädchen und Frauen häufiger Opfer von sexuellem Missbrauch werden [1].

Verlauf

Die Komplexität und Individualität des Krankheitsbildes spiegelt sich vor allem in dem sehr variablen Verlauf und den unterschiedlichen Ausprägungen wieder.[2]. Häufig zeigen sich die Auswirkungen der Traumata lange Zeit gar nicht oder nur mit einzelnen Symptomen. Bei den leichteren Formen dieses Krankheitsbildes gelingt es den Betroffenen daher oft über lange Zeit, sich damit zu arrangieren -sofern sie über psychische und soziale Ressourcen zur Bewältigung und Kompensation (sog. protektive Faktoren) verfügen. Insgesamt besteht jedoch eine hohe Chronifizierungsneigung [3]. Nach den Ergebnissen des US-amerikanischen „National Comorbidity Survey“ kam es nur bei ungefähr einem Drittel der in der Studie erfassten PTBS-Fälle bereits nach einem Jahr zu einem deutlichen Symptomrückgang, bei den anderen zwei Dritteln konnten hingegen auch noch nach zehn Jahren Symptome auftreten. Außerdem lagen bei ca. 80% der Fälle weitere (komorbide) Störungen vor, welche die psychische Belastung erhöhten.

Aufgrund der Heterogenität des Störungsbildes kann es vorkommen, dass bei den Betroffenen abweichende Diagnosen gestellt werden, die sich lediglich an Einzelsymptomen orientieren, wie Angststörungen, Depressionen oder Neurotische Störungen. In einer Studie mit Psychiatriepatienten konnte nachgewiesen werden, dass ein größerer Teil von ihnen die Kriterien für eine PTBS erfüllte, als die aufnehmenden Ärzte ursprünglich erkannt hatten. Traumapatienten können durch das Übersehen ihrer komplexen Problemlage daher im Lauf der Zeit auch mehrere verschiedene Diagnosen erhalten.[4] [5]. Unbehandelte oder falsch behandelte Traumaschäden verschwinden jedoch nicht von selbst. Sie bleiben grundsätzlich bestehen, auch wenn sich die Symptome verändern oder teilweise kompensiert werden können.

Ein weiterer, die Problematik verstärkender Faktor resultiert aus den ungünstigen Lebenssituationen, die für die Betroffenen durch ihre psychischen Probleme entstehen. Da das Verhalten der Betroffenen häufig ablehnende Reaktionen anderer Menschen auslöst, sind die sozialen Beziehungen und das Berufsleben nicht selten beeinträchtigt, was ihre psychischen Probleme wie in einem Teufelskreis verstärken und zu nachhaltigen sozialen und beruflichen Problemen führen kann. Gerade bei Kindern, die Opfer von Misshandlungen oder Missbrauch wurden, kann auch die schulische Entwicklung in hohem Maße gefährdet sein.

Grundsätzlich scheinen sich die Folgen schwerer komplexe Traumata nie vollständig zurückzubilden, auch nicht durch therapeutische Behandlung. Nachwirkungen der Traumata können immer wieder auftauchen, speziell in neuen, belastenden Lebensabschnitten. Nichtsdestoweniger können die psychischen Probleme durch adäquate medikamentöse und psychotherapeutische Verfahren in den meisten Fällen deutlich gemildert werden [2] [6]

Begriffsgeschichte

Der Begriff geht zurück auf eine kritische Auseinandersetzung mit der Definition und den diagnostischen Kriterien der Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), die 1980 in der dritten Ausgabe des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-III) der American Psychiatric Association (APA) publiziert wurden. Judith Herman wies 1992 darauf hin, dass sich die diagnostischen Kriterien der PTBS auf Symptome konzentrierten, die bei Kriegsteilnehmern beobachtet worden waren und sich nicht dazu eigneten, auch die Störungsbilder zu beschreiben, die bei missbrauchten Kindern beobachtet werden konnten. Insbesondere eigneten sich die PTBS-Kriterien nicht zur Diagnostik von psychischen Problemlagen, die sich etwa als Spätfolgen des Kindesmissbrauchs im Jugend- und Erwachsenenalter entwickelten. Die daraufhin von der DSM-Arbeitsgruppe der APA initiierten Felduntersuchungen zeigten, dass sich im Gefolge schwerer Traumatisierungen wie körperlicher oder sexueller Missbrauchserfahrungen, aber auch bei Kriegs- und Foltererfahrungen oder Entführungen ein komplexeres Krankheitsbild identifizieren ließ, das als „Störung durch Extrembelastung, nicht andersweitig bezeichnet“ (DESNOS) begrifflich gefasst wurde. Ein ähnliches Krankheitsbild wird in der ICD-Diagnose F62.0 „Andauernde Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung“ beschrieben. Diese Kategorie soll voraussichtlich in der nächsten Überarbeitung des DSM als "Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung" neu gefasst und aufgenommen werden. [4](S.48)

Zusammenhänge mit anderen Krankheitsbildern

Die Symptome der komplexen PTBS zeigen große Überschneidungen mit anderen Krankheitsbildern – insbesondere der Borderline-Störung und dissoziativen Störungen – weswegen schon früh die Frage aufgeworfen wurde, ob diesen Krankheitsbildern nicht überwiegend eine komplexe PTBS zugrunde liegend könnte. Die bislang vorliegenden empirischen Befunde sind in dieser Hinsicht jedoch nicht eindeutig: Während dissoziative Störungen in den allermeisten Fällen auf Traumata zurückführbar sind (und geradezu als „normaler“ Bewältigungsmodus angesehen werden können), ließ sich im Falle der Borderline-Störung trotz einiger dahingehender Bemühungen von Seiten der Traumaforschung bislang kein derartig enger und eindeutiger Zusammenhang nachweisen.

Die mit der komplexen PTBS im Zusammenhang stehenden und auch bei der Mehrzahl der Borderline-Störungen zu findenden Formen der Traumatisierungen stellen allerdings fraglos ein massives Risiko für die weitere psychosoziale Entwicklung dar – unabhängig davon, welche Störungen in ihrem Gefolge entstehen.

Literatur

  • Herman, J. (2003). Die Narben der Gewalt. Paderborn: Junfermann, 2003 (ISBN: 3-87387-525-X)
  • Herman, J. (1992). Trauma nd recovery. New York: Basic Books. (ISBN: 0-465-08765-5)
  • Kunze, D. & Güls, F. (2003). Diagnostik einfacher und komplexer posttraumatischer Störungen im Erwachsenenalter. Peychotherapeut, 48, 50-70
  • Courtois, C. A.(2004). Complex Trauma, Complex Reactions: Assessment and Treatment. Psychotherapy: Theory, Research, Practice, Training, 41, 412-425
  • Korn, D. & Leeds, A. M. (2002). Preliminary evidence of efficacy for EMDR Resource Development and Installation in the stabilization phase of treatment of complex posttraumatic stress disorder. Journal of Clinical Psychology, 58, 1465-1487
  • Ibrahim Özkan, Annette Streeck-Fischer, Ulrich Sachsse (2002). Trauma und Gesellschaft . Vandenhoeck&Ruprecht, 2002 (ISBN: 3-525-45893-2)
  • Thomas Bronisch, Martin Bohus, Matthias Dose, Luise Reddemann, Christine Unckel. (2005). Krisenintervention bei Persönlichkeitsstörungen. Stuttgart: Klett Cotta Verlag, 2005 (ISBN: 3-608-89007-6)

Weiterführende Literatur

  • Ibrahim Özkan, Annette Streeck-Fischer, Ulrich Sachsse: Trauma und Gesellschaft // Vandenhoeck&Ruprecht, 2002, ISBN 3-525-45893-2
  • Otto F. Kernberg, Birger Dulz, Ulrich Sachsse et al: Handbuch der Borderline-Persönlichkeitsstörungen // Schattauer, Stuttgart 2000, ISBN 3-7945-1850-0
  • Michaela Huber: Trauma und die Folgen (1) // Junfermannsche, Paderborn 2003, ISBN 3873875101
  • Michaela Huber: Wege der Traumabehandlung (2) // Jungermannsche, Paderborn 2003, ISBN 3-87387-550-0
  • Maggie Phillips, Claire Frederick, Handbuch der Hypnotherapie bei posttraumatischen und dissoziativen Störungen // Auer-System-Verlag, 2003, ISBN 3-89670-400-1
  • Thomas Bronisch, Martin Bohus, Matthias Dose, Luise Reddemann, Christine Unckel: Krisenintervention bei Persönlichkeitsstörungen // Klett Cotta Verlag, Stuttgart 2005, ISBN 3-608-89007-6
  • Franz Resch, Michael Schulte-Markwort: Kursbuch für integrative Kinder- und Jugendpsychotherapie (Schwerpunkt: Dissoziation und Trauma) // Psychologie Verlagsunion, ISBN 3-621-27554-1
  • Christian Scharfetter: Dissoziation, Split, Fragmentation // Huber Verlag, 1999, ISBN 3-456-83215-X
  • Michaela Huber: Multiple Persönlichkeiten, die Frau in der Gesellschaft // Fischer Taschenbuch Verlag, 2004, ISBN 3-596-12160-4
  • Francine Shapiro: EMDR als integrativer psychotherapeutischer Ansatz // Junfermannsche, Paderborn 2003, ISBN 3-87387-541-1
  • Bessel van der Kolk: Traumatic Stress // Guilford, 1996, ISBN 1-57230-088-4
  • Bessel van der Kolk, Alexander Mc Farlane, Lars Weisaeth: Traumatic Stress // Junfermannsche, Paderborn 2000, ISBN 3-87387-384-2
  • Frank W. Putnam: Diagnose und Behandlung der Dissoziativen Identitätsstörung // Junfermannsche, Paderborn 2003, ISBN 3-87387-490-3
  • Peter Fiedler: Dissoziative Störungen und Konversion // Psychologie Verlagsunion, 2001, ISBN 3-621-27494-4
  • B. Hudnall Stamm: Sekundäre Traumastörungen // Junfermannsche, Paderborn 2002, ISBN 3-87387-489-X

Ratgeberliteratur

  • Luise Reddemann, Cornelia Dehner-Rau: Trauma - Folgen erkennen, 2. korrigierte Auflage // Trias Verlag, Stuttgart 2006, ISBN 3-8304-3345-X
  • Aphrodite Matsakis: Wie kann ich es nur überwinden // Junfermann, 2004, ISBN 3-87387-592-6

Quellen

  1. Michaela Huber: "Multiple Persönlichkeiten", Fischer Taschenbuch Verlag, 2004, ISBN 3-596-12160-4
  2. a b Judith Herman: "Die Narben der Gewalt", Junfermannsche, 2003, ISBN 3-87387-525-X
  3. Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften http://www.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF/ll/051-010.htm
  4. a b Luise Reddemann, Cornelia Dehner-Rau: Trauma - Folgen erkennen, 2. korrigierte Auflage, Trias Verlag, Stuttgart 2006, ISBN 3-8304-3345-X Referenzfehler: Ungültiges <ref>-Tag. Der Name „Trauma - Folgen erkennen“ wurde mehrere Male mit einem unterschiedlichen Inhalt definiert.
  5. Michaela Huber: "Trauma und die Folgen, Band 1", Junfermannsche , 2003, ISBN 3-87387-510-1
  6. Ulrike Schäfer, Eckart Rüther, Ulrich Sachsse: Borderline Störungen, ein Ratgeber für Betroffene und Angehörige, Vandenhoeck und Ruprecht, 2006, ISBN 10: 3-525-46249-2 ISBN 13: 978-3-525-46249-2

Siehe auch

Fachlich
Ansprechstellen für Betroffene