Medizingeschichte
Medizingeschichte ist die Lehre von den historischen Entwicklungen der Medizin, einschließlich der Biografien von Personen, die Einfluss auf die Medizin ihrer Zeit ausübten. Sie will das Bewusstsein fördern, dass der Umgang mit Gesundheit und Krankheit historisch und kulturell geprägt ist und nutzt die Methoden der allgemeinen Geschichtswissenschaft.
Geschichte der Medizingeschichte
Medizingeschichte verfügt in Deutschland über eine lange Tradition innerhalb der Medizin. Da bis ins 19. Jahrhundert hinein die antiken Texte des Corpus Hippocraticums (dem berühmten Arzt Hippokrates von Kós zugeschrieben) und des Galenos in der medizinischen Lehre gelesen wurden, stellte die Beschäftigung mit der Vergangenheit der Medizin eine Selbstverständlichkeit dar. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts spezialisierten sich einige Wissenschaftler an medizinischen Fakultäten und praktizierende Ärzte auf die Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte. Dabei stand die Selbstversicherung und Ahnenverehrung im Mittelpunkt.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlangte die Medizingeschichte durch die Verdienste von Karl Sudhoff größere Bedeutung und etablierte sich als Fach an den Medizinischen Fakultäten. Die von demselben geleitete Fachzeitschrift (Archiv für Geschichte der Medizin seit 1907, später Sudhoffs Archiv genannt) unterstützte die Fassung als eigene Disziplin zwischen Geschichtswissenschaft und Medizin. Gerade der Hippokratismus der 1920er Jahre, in dem man sich sehr stark auf eine überhöhte Gestalt des Hippokrates berief, um aktuelle Probleme der Medizin zu lösen, führte zu einer stabilen Institutionalisierung der Medizingeschichte.
Ein großer Verlust an Qualität und Führungspersönlichkeiten erfolgte in der Zeit des Nationalsozialismus 1933 bis 1945, als die führenden deutschen Medizinhistoriker nach den USA auswanderten (u.a. Henry E. Sigerist, Owsei Temkin, Ludwig Edelstein, Erwin H. Ackerknecht). Die Forschung verlor bis in die 1970er Jahre hinein an Substanz und Kreativität, bis sie durch neue Impulse aus den geschichtswissenschaftlichen Methodendiskussionen neu angeregt wurde.
Die Medizingeschichte ist heute an den Medizinischen Fakultäten lokalisiert und hat einen Anteil an der medizinischen Ausbildung. Das wissenschaftliche Personal besteht aus Männern und Frauen mit zweifachem Studium, also Medizin und Geschichtswissenschaft, und vermehrt auch aus reinen Historikern.
Leider nimmt die Bedeutung der Medizingeschichte in Deutschland ab und medizinhistorische Institute werden geschlossen oder mit der Medizinethik zusammengefasst. Aus diesen Gründen erfolgt seit Jahren eine Abwanderung des wissenschaftlichen Personals in angelsächsische Länder, wo die Medizingeschichte stark im Aufschwung begriffen ist.
Methoden der Medizingeschichte
Die Medizingeschichte arbeitet mit historischen und teilweise mit ethnologischen Methoden. Als Quellen stützt sie sich hauptsächlich auf Textquellen wie etwa medizinische Texte aus vergangener Zeit, Krankenakten, Geschichtsschreibung aber auch Tagebücher, Briefe, literarische Texte oder ethnographische Aufzeichnungen und Interviews. Die Untersuchung von menschlichen Überresten und alten Krankheitserregern fällt nicht in das Gebiet der Medizingeschichte sondern der Paläopathologie.
Veraltete Methoden der Medizingeschichte sind die Fortschrittsgeschichte und die Biographie von Persönlichkeiten aus der Medizin. Sie dienten ursprünglich hauptsächlich einer Ahnenverehrung und Selbstversicherung der Medizin.
In der neueren Medizingeschichte werden Methoden aus der Geschichtswissenschaft eingesetzt, die sich auf dem aktuellen theoretischen Stand befinden: Poststrukturalismus, Dekonstruktivismus, Historische Anthropologie, Gender Studies, Alltagsgeschichte, Wissenschaftsgeschichte etc. Damit eröffnet sich eine Vielzahl von Forschungsfeldern, wie z.B. auch die Geschichte der Krankenpflege, Patientengeschichte, Körpergeschichte, Geschichte der Sexualität, Geschichte alternativer Heilsysteme (z.B. die Homöopathiegeschichte).
Ein grundlegendes Prinzip ist die Anerkennung von verschiedenen Krankheitskonzepten, die gleichberechtigt nebeneinander stehen. Damit werden vergangene medizinische Erklärungsmöglichkeiten und Konzepte nicht als "falsch" gebranntmarkt und am System unserer Zeit gemessen, sondern die Denkweisen anderer Epochen in ihrer jeweils eigenen Logik betrachtet.
Die Ablehnung der Retrospektiven Diagnose stellt z.B. eine der Methoden dar, die aus diesen modernen Auseinandersetzungen entwachsen sind. Dieser von Karl-Heinz Leven (Universität Freiburg) verfochtene Ansatz lehnt es ab, Krankheiten mit modernen Krankheitsentitäten zu identifizieren, wenn es dieses Konzept der Krankheit in dieser Epoche noch nicht gab. Durch dieses Verfahren wird sichergestellt, dass der Medizinhistoriker der vergangenen Epoche gerechter werden kann und nicht lediglich sein eigenes Medizinisches System auf die Vergangenheit projiziert.
Abriss Europäische Medizingeschichte
Da die Erforschung der medizinischen Praktiken der schriftlosen Völker der Alt- und Jungsteinzeit, aber auch Mitteleuropas vor den Römern Gebiet der Paläopathologie ist, beginnt die tatsächliche Medizingeschichte erst mit dem Vorhandensein von Textzeugnissen.
Aus dem Alten Orient sind die ältesten Schriften zu Arznei- und Zaubermitteln, aber auch rechtliche Regelungen für den Arztberuf bekannt (Gesetzeskodex des Hammurabi. Die Behauptung [[Herodot]s], dass die Babylonier ihre Kranken einfach auf dem Marktplatze ablegen, und jeder Vorübergehende Gesundungstips mitteile, kann dadurch wiederlegt werden. Wie bei den meisten älteren Krankheitskonzepten gingen auch die Menschen im Alten Orient von einer Krankheitsverursachung durch böse Dämonen und strafende Götter aus. Bei ihren Therapieformen lag ein großes Gewicht auf die Wiederherstellung der kultischen Reinheit.
Aus dem Alten Ägypten sind ähnliche Textzeugnisse erhalten. Ein Spezialgebiet ist die ägyptische Praxis der Mumifizierung, die erhebliche medizinische und konservatorische Kenntnisse erforderte. In Ägypten existierte bereits ein ausdifferneziertes Spezialistentum unter den Heilern, die teilweise auch in einer ärztlichen Beamten-Hierarchie eingegliedert waren.
Im Alten Griechenland lag das Heilen zunächst rein in den Händen von religiösen Deutungskonzepten und Institutionen (Asklepiosmedizin, Asklepios, Epidauros). Allerdings entstand Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. unter dem Einfluss der vorsokratischen Naturphilosophie (Empedokles) die sogenannte rationale Medizin, die eng mit dem Namen des Hippokrates von Kós verknüpft wird. Dabei wurde der Körper beobachtet und mit Einflussnahme auf seine Zusammensetzung (Anfänge der Humoralpathologie) versucht seine Selbstheilung zu unterstützen. Im Hellenismus entstand in Alexandria ein großes Zentrum für medizinische Ausbildung und Forschung, wo sich verschiedene Gruppen und Theorien herausbildeten. Große antike Entdeckungen wurden hauptsächlich in dieser Zeit gemacht, da im dortigen offenen Klima selbst Sektionen an Menschen und Tieren möglich waren.
Nach Rom kam die griechische Medizin erst spät, aber sie setzte sich trotz der Vorbehalte ehrwürdiger Römer wie z.B. Cato d. Älteren durch. Auch die griechischen Heilkulte erfuhren Adaption (Aesculapius). Das medizinische Personal vom Sklaven bis zum hochgebidleten Privatarzt war meist griechischer Herkunft. Besonders wichtig für den weiteren Gang der Medizin war der in Rom wirkende Arzt Galenus von Pergamon, dessen umfangreiches Werk für die weiteren Jahrhunderte maßgeblich werden sollte. Galen verstand sich zwar selbst als Hippokratiker, aber vertrat unter dem Namen des Hippokrates eine eigene Lehre, die auch stark auf den Erkenntnissen aus der Zeit des Hellenismus aufbaute. So gab Galen z.B. der Humoralpathologie (Viersäftelehre) ihre schlussendliche Gestalt, die sie als grundlegendes Krankheitskonzept bis ins 19. Jahrhundert behalten sollte.
In Spätantike nach Galen und byzantinsicher Zeit (Byzanz, Ostrom) wurde das bis dahin erworbene Wissen hauptsächlich gesammlt und tradiert. Die medizinischen Schriftsteller des oströmischen Reichs bis 1453 (Eroberung Konstantinopels durch die Türken) fassten hauptsächlich ältere Schriftsteller in Enzyklopädien zusammen und ordneten deren Wissen in Sammelwerken. Nur wenig Neues wurde den Schriften hinzugefügt. In der Tradition des Erhalts der heidnischen Antike versuchte man, die Medizin von christlichen Einflüssen frei zu halten. Den Beginn dieser Praxis machte Oribasius, Leibarzt des Kaisers Julian Apostata, im 4. Jahrhundert n.Chr., der das erste medizinische Sammelwerk in 70 Bänden verfasste.
Die Arabische Medizin baute direkt auf den antiken Vorläufern auf. Die griechischen und lateinischen Texte wurden teils im Original tradiert, teils ins Arabische übersetzt. Im arabischen Raum erfuhr die Antike Medizin noch einmal eine Blüte, da arabische Mediziner auf ihr aufbauend auch zu neuen Erkenntnissen kamen. Die Araber entwickelten Spezialistentum und z.B. auch Krankenhäuser von einer Qualität, wie sie im Westen erst im 19. Jahrhundert wieder zu finden waren.
Während die byzantinischen und arabischen Mediziner das antike Erbe bewahrten, war die Medizin des westlichen Mittelalters recht unberührt von allen Erkenntnissen, die es zuvor einmal gegeben hatte. Nur wenige lateinische Schriften aus dem Mittelalter hatten überlebt, das Griechische ging verloren. Erst ab dem 13. Jahrhundert kamen über Spanien und die Mauren Einflüsse der hochentwickelten arabischen Medizin nach Mittel- und Westeuropa. Über Italien und die dortigen Handelskontakte nach Byzanz/Konstantinopel wurden die griechischen Texte wieder zugänglich.
Das 16. Jahrhundert war das Jahrhundert der Anatomen. Erstmals wurden die antiken Autoritäten (bes. Galen) in Frage gestellt und der menschliche Körper neu erforscht...
(fortzusetzen)
Epochen der Medizingeschichte
- Medizin der Ur- und Frühgeschichte
- Medizin des Alten Orients
- Medizin des Altertums
- Medizin des Mittelalters
- Byzantinische Medizin
- Medizin des Arabischen Mittelalters
- Medizin der Neuzeit bis Mitte des 19. Jahrhunderts
- Naturwissenschaftliche Medizin
- Medizin im Nationalsozialismus
- Geschichte der Evidenzbasierten Medizin
- Medizingeschichte des Ostens
Literatur
- Wolfgang U. Eckart, Geschichte der Medizin, 4., überarb. u. erg. Aufl. XII, 438 S., Springer-Lehrbuch Berlin 2001, ISBN 3-540-67405-5
- Andreas Frewer, Volker Roelcke (Hrsg): Die Institutionalisierung der Medizinhistoriographie. Entwicklungslinien vom 19. ins 20. Jahrhundert, Stuttgart 2001
- Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.), Enzyklopädie Medizingeschichte, Walter de Gruyter-Verlag, Berlin 2004, 1.544 Seiten, ISBN 3-11-015714-4
- Bernt Karger-Decker, Die Geschichte der Medizin, ISBN 3-491-96029-0
- Norbert Paul, Thomas Schlich, Medizingeschichte. Aufgaben, Probleme, Perspektiven, 1998
- Stefan Winkle, Kulturgeschichte der Seuchen, ISBN 3-933366-54-2
Siehe auch
- Ethnomedizin
- Liste bedeutender Mediziner und Ärzte
- Liste der Nobelpreisträger für Physiologie oder Medizin
- Medizinsoziologie
Weblinks
- Geschichte der Medizin und Biologie
- Medical History on the Internet
- History of the Health Sciences umfassende englischsprachige Linksammlung zur Medizingeschichte