Deutsches Martyrologium des 20. Jahrhunderts
Das Deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts ist ein hagiographisch-historisches Verzeichnis von Personen, die nach katholischer kirchenamtlicher Definition als Märtyrer gelten. Es wird im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz von Helmut Moll herausgegeben.
Geschichtliche Entwicklung
Unter den von Papst Johannes Paul II. Kanonisierten war eine große Zahl von Märtyrern. 1994 erklärte der Papst in dem apostolischen Schreiben Tertio millennio adveniente, es seien im 20. Jahrhundert die „Märtyrer zurückgekehrt“, als „gleichsam ‚unbekannte Soldaten‘ der großen Sache Gottes“. Er forderte die Ortskirchen auf, alles zu tun, um die Erinnerung an sie wach zu halten.[1]
Die Deutsche Bischofskonferenz betraute nun mit der Aufgabe eines deutschen Martyrologiums den Kölner Diözesanpriester und Historiker Helmut Moll, der zuvor Konsultor der Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse war. Joachim Kardinal Meisner, der Vorsitzende der Liturgiekommission der Deutschen Bischofskonferenz, veranlasste die Bereitstellung eines Verantwortlichen für diesen Projekt aus jedem deutschen Bistum. Moll gewann dazu Verantwortliche aus Ordensgemeinschaften, Verbänden und anderen katholischen Zusammenschlüssen. Die Autoren der Kurzbiografien (zwei bis vier Seiten) sind 160 "Fachleute"[2] aus unterschiedlichen Berufsfeldern, darunter auch Weihbischöfe, Domherren und ein Pressereferent.[3] 1999 wurde das Werk in seiner ersten Auflage durch Kardinal Lehmann als Vorsitzendem der Deutschen Bischofskonferenz und Prälat Moll in Rom im Rahmen einer Audienz Papst Johannes Paul II. übergeben.[4] 2015 erschien es in der 6. Auflage. Mit der 4. (84 Lebensbilder), der 5. (79 Lebensbilder), und 6. Auflage (101 Lebensbilder) wurde es erweitert. Es enthält inzwischen 892 Kurzbiografien. Aufgenommen wurden auch Angehörige deutscher Minderheiten in Osteuropa, dorthin entsandte Ordensmitglieder oder aus anderen Gründen dort Tätige mit deutscher Staatsangehörigkeit oder mit langjähriger Wirksamkeit in Deutschland.[5] Der Abschnitt zur Verfolgung im Nationalsozialismus wurde ins Englische und ins Italienische übertragen.[6]
Die Aufnahme von Märtyrern in das Deutsche Martyrologium folgt dem kirchenamtlichen Märtyrerbegriff der zuständigen Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungen und damit dem italienischen Kanonisten Prospero Lambertini (1675-1758), dem späteren Benedikt XIV. (1740–1758). Lambertini entwickelte seine Definition in der Schrift Opus de servorum Dei beatificatione, et beatorum canonizatione.[7] Schon lange vor ihm existierten mit allgemeiner Anerkennung innerhalb der Kategorien „Heilige“ bzw. „Selige“ die beiden Unterkategorien „Märtyrer“ (auch „Blutzeugen“) und „Bekenner“.[8] Für ein Martyrium stellte Lambertini drei hagiographisch-kanonistische[9] Bedingungen, die zugleich erfüllt sein müssen:
- die Tatsache des gewaltsamen Todes (martyrium materialiter)
- das Motiv des Glaubens- und Kirchenhasses bei den Verfolgern (martyrium formaliter ex parte tyranni)
- die bewusste innere Annahme des Willens Gottes trotz Lebensbedrohung (martyrium formaliter ex parte victimae).[10]
Gliederung des Martyrologiums
Die Lebensbilder der Glaubenszeugen wurden in vier Bereiche gegliedert:
- „Blutzeugen aus der Zeit des Nationalsozialismus“ (416 Personen – gegliedert nach Bistümern, Jurisdiktionsgebieten der Visitatoren und Ordensgemeinschaften)
- „Blutzeugen aus der Zeit des Kommunismus“ (171 Personen – regional gegliedert)
- „Reinheitsmartyrien“ (118 Personen – Mädchen, Frauen und Männer, die sich schützend vor bedrohte Frauen stellten und dabei getötet wurden)
- „Blutzeugen aus den Missionsgebieten“ (187 Personen – in chronologischer Folge).
Geplant war als fünfte Kategorie „Märtyrer in der DDR“ (1945-1989). Das Vorhaben erwies sich als unrealisierbar, weil kein Fall benannt werden konnte.[11]
Ökumenische Dimension
Papst Johannes Paul II. weist in seinem Apostolischen Schreiben Tertio millennio adveniente ausdrücklich auf die ökumenische Dimension der Märtyrer hin. Es sei „das Zeugnis für Christus“ bis hin zum Blutvergießen, ein „gemeinsames Erbe“ der verschiedenen christlichen Denominationen. Es müsse „alles unternommen werden“, damit die Erinnerung an die Märtyrer nicht verloren gehe. Es gehe dabei auch um einen „Ökumenismus der Heiligen“. Die Gemeinschaft der Heiligen spreche mit lauterer Stimme „als die Urheber von Spaltungen“.[12]
Von Anfang an würdigte die Schrift in ihren Hunderten von Artikeln im Abschnitt über den Nationalsozialismus auch vier Protestanten und einen Orthodoxen, jedoch nicht in Einzelartikeln, sondern in „ökumenischen Gruppen“ neben Katholiken: Dietrich Bonhoeffer, die Geschwister Scholl und Alexander Schmorell von der Weißen Rose sowie den evangelischen Pastor Karl Friedrich Stellbrink. Mit Maria Terwiel aus dem Umkreis der Roten Kapelle ist ein Mitglied des kommunistisch-sozialdemokratischen Widerstands benannt, dem der mit Abstand größte Teil der NS-Opfer aus weltanschaulichen Verfolgungsmotiven zuzurechnen ist.[13] Es ist nicht bekannt, ob sich an diesen Relationen in jüngeren Auflagen etwas änderte.
Rezeption
Ausweislich einer Zusammenstellung von Rezensionen (1998-2015) durch das Erzbistum Köln erfuhr das Martyrologium in katholischen Medien durchweg eine positive Resonanz.[14] Der langjährige Referent für Fragen der Glaubenslehre im Erzbistum Köln, der Priester François Reckinger, hob besonders die Kategorie der „Märtyrer der Reinheit“ hervor (2000), der heute eine wichtige pädagogische Bedeutung zukomme, da „Jugendliche vielfach selbst innerhalb der Kirche lernen“ würden, dass im „Geschlechtlichen nahezu alles erlaubt“ sei. Ferner kritisierte er eine aus seiner Sicht häufig „schwülstige Sprache“.[15]
Der Ordensgeistliche der Jesuiten und Kirchenhistoriker Klaus Schatz wiederholte in seiner Rezension der 6. Auflage aus dem Jahre 2015, was er bereits früher bemerkt habe, dass „durchweg hervorragend“ biografisch rechercherchiert und dokumentiert worden sei und auch „problematische Seiten […] im Einzelfall nicht unterschlagen“ würden. Vor allem bei politischen Kontexten aber sei die von den Kreuzzugspredigten übernommene Vorstellung fragwürdig, dass der im Kreuzzug Gefallene als Märtyrer sogleich in den Himmel eingehe.[16]
Gut aufgenommen wurde das Werk auch von der Stephanus-Stiftung der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte. Sie vergab ihren Preis 2008 an den Bearbeiter Helmut Moll. Das wiederum fand die Zustimmung der Deutschen Vereinigung für eine Christliche Kultur, deren Vorsitzender ein Redakteur der Wochenschrift junge Freiheit ist.[17]
Der Kirchenhistoriker Reimund Haas vom Historischen Archiv des Erzbistums Köln kam in einer Rezension (2000) zu dem Schluss, das Werk sei „epochal“ als ein Beitrag zur katholischen Hagiographie, die wiederum „in der Postmoderne Mitteleuropas abgesehen von kurzfristigen Modewellen einen schweren wissenschaftlichen Stand“ habe. Das liege nicht nur an Vorbehalten „der aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen“, sondern auch an der außerordentlichen Zahl von Selig- und Heiligsprechungen durch Johannes Paul II.[18]
Kritischer fiel das Urteil des Historikers Ulrich von Hehl aus (2000). Das „Sammelwerk“ vertrete einen „vornehmlich theologisch-pastoralen“ Anspruch. Die Aufnahmekriterien blieben „eigentümlich unbestimmt“. Obwohl sie weit gehalten seien, fehlten zahlreiche Opfer des Nationalsozialismus. Die Defizite in der Literaturliste ließen erkennen, dass keine „systematische Erfassung und Auswertung einschlägiger historischer Forschungsergebnisse“ stattgefunden habe. Von Hehl hob historiografische Fehler und einen „Mangel an Differenzierung“ hervor. Es sei auch die Rolle des katholischen Glaubens als Verfolgungs- und Aufnahmebegründung in Frage zu stellen. Im Nationalsozialismus seien Konvertierte aus der jüdischen Minderheit aus rassischen Gründen, andere vor allem aus politischen Gründen verfolgt worden, die Eigenschaft „katholisch“ dann von nachgeordneter Bedeutung gewesen. In Fällen, in denen in der Endphase des Krieges etwa betrunkene Angehörige der Roten Armee, der US-Armee oder anderer alliierter Streitkräfte Vergewaltigungen oder Morde begangenen hätten,[19] würden die Opfer „theologisch überhöht […], um ihre Fälle für das genannte Kategoriensystem gleichsam passförmig zu machen.“
Von Hehl führte an, nicht wenige der aufgeführten Opfer im Nationalsozialismus hätten sich von ihrer Kirche „sehr allein gelassen gefühlt“. Der Inhalt des Werks erschien ihm eher disparat, denn neben „glänzend gelungenen Porträts“ und nicht sehr gelungenen „redlichen Bemühungen“ stünden Texte, „die eher dem Genre hagiografischer Erbauungsliteratur zuzurechnen“ seien.[20]
Weblinks
- Website der Arbeitsstelle Deutsches Martyrologium des 20. Jahrhunderts, Köln
- Pressemeldung der dbk: Deutsches Martyrologium in sechster Auflage erschienen abgerufen am 24. März 2015
Weblinks
- Website der Arbeitsstelle Deutsches Martyrologium des 20. Jahrhunderts, Köln
- Pressemeldung der dbk: Deutsches Martyrologium in sechster Auflage erschienen abgerufen am 24. März 2015
Einzelnachweise
- ↑ Rezension von Norbert Jachertz, in: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 106 (2009), Heft 9, S. 411, siehe auch: [1].
- ↑ Siehe Verlagsinformation: [2].
- ↑ Rezension von Peter Fleck, in: Archiv für hessische Geschichte, 67, 2009, S. 467-469, hier: S. 467, siehe auch: [3].
- ↑ Pressemeldung, 18.11.1999, Statement von Bischof Karl Lehmann, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, zur Vorstellung der Publikation, siehe: [4].
- ↑ Erzbistum Köln, Deutsches Martyrologium, [5].
- ↑ Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek Köln, Dr. Helmut Moll: Die Martyrer des 20. Jahrhunderts. Zeugnis und Beispiele, [6].
- ↑ Nach: Harm Klueting, Buchbesprechung, in: Heimatpflege in Westfalen, 25 (2012), H. 4, S. 28, siehe auch: [7].
- ↑ In übersichtlicher Unterscheidung mit jeweiliger Zuschreibung z. B. bei: Matthäus Vogel/Franz Xaver Maßl, Lebensbeschreibungen der Heiligen Gottes: auf alle Tage des Jahres, Straubing/Wien 1841.
- ↑ Reimund Haas, Rezension, in: Pastoralblatt für die Diözesen, Aachen, Berlin, Essen, Hildesheim, Köln und Osnabrück, 8/2105, siehe auch: [8].
- ↑ Rezension von Winfried Becker, in: Zeitschrift für bayrische Landesgeschichte, Band 63, Heft 1, 2000, S. 280-282, hier: S. 280.
- ↑ Rezension von Peter Fleck, in: Archiv für hessische Geschichte, 67, 2009, S. 467-469, hier: S. 467, siehe auch: [9].
- ↑ Nach: Dorothea Sattler, Neue Wege der Einheit. Ökumene gestalten, in: Günter Frank/Volker Leppin/Herman J. Selderhuis, Wem gehört die Reformation? Nationale und konfessionelle Dispositionen der Reformationsdeutung, Freiburg/Basel/Wien 2013, S. 265-286, hier: S. 274.
- ↑ Rezension von Peter Fleck, in: Archiv für hessische Geschichte, 67, 2009, S. 467-469, hier: S. 467, siehe auch: [10].
- ↑ Siehe: Erzbistum Köln, Rezensionen. Eine Auswahl, undat. (die Auswahl beinhaltet neben Rezensionen auch Ankündigungen und Marketingtexte), [11].
- ↑ François Reckinger, Ein Martyrologium mit ökumenischer Weite, in: Anzeiger für die Seelsorge, H. 10, Oktober 2000, [12]; zur Sprache vgl. auch: „salbungsvoll", „an eine Predigt gemahnend", siehe: Peter Mario Kreuter, Rezension in: Südost-Forschungen. Internationale Zeitschrift für Geschichte, Kultur und Landeskunde Südosteuropas, Bd. 68 (2009), S. 526-528, hier: S. 528, [13].
- ↑ Klaus Schatz, Rezension: Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts, 6. Auflage, in: Theologie und Philosophie, 91, 2016, S. 303-304, hier: S. 304 [14].
- ↑ Die letzten Angaben siehe: Stephanuspreis an Prälat Helmut Moll für Martyrologium verliehen, in: Kultur und Medien online. Mitteilungsblatt der Aktion Kinder in Gefahr/Eine Initiative der Deutschen Vereinigung für eine Christliche Kultur – DVCK e.V. (hier nicht verlinkbar, da auf der Liste der nicht zugelassenen Links), 26.9.2008, [15].
- ↑ Rezension von Reimund Haas in: Katholische Nachrichtenagentur – Öki, 14.3.2000, S. 9, siehe auch: [16].
- ↑ Siehe die vom „Freundeskreis Maria Goretti" herangezogenen Fälle: [17].
- ↑ Ulrich von Hehl, Im Ertragen stark, in: FAZ, 13.3.2000, Nr. 61, S. 57, siehe: [18].