Murray Rothbard
Murray Newton Rothbard (* 2. März 1926; † 7. Januar 1995) war ein amerikanischer Ökonom und politischer Philosoph. Daneben veröffentlichte er jedoch auch umfassende Beiträge im Bereich der Geschichtswissenschaft.
Er war maßgeblicher Vordenker der anarchokapitalistischen Bewegung in den USA und der Libertarian Party. Als Ökonom stand er in der Tradition der Österreichischen Schule. Kulturell war eher konservativ eingestellt und sorgte außerdem dafür, den Geist der amerikanischen Old Right zu erhalten.
Rothbard wurde in New York City geboren, wo er auch die längste Zeit seines Lebens verbrachte. Sein Vater David Rothbard, ein Chemiker, kam als mittelloser jüdischer Einwanderer aus einem polnischen Schtetl in die USA, assimilierte sich dort jedoch schnell. Murray Rothbard wurde durch das liberale und individualistische Denken seines Vaters sehr geprägt. Über seine Jugend äußerte Rothbard, dass sein Vater und er die einzigen Rechten in einer linksliberalen bis kommunistischen Umgebung waren.
Murray Rothbards Ideen repräsentieren eine Synthese aus Ökonomie, Politikwissenschaft, Jurisprudenz und der Philosophie der Sozialwissenschaften. Sein Werk stellt „vielleicht das kraftvollste und raffinierteste Plädoyer für den individualistischen Anarchismus in diesem Jahrhundert dar, wenn nicht gar in der gesamten Geschichte dieser speziellen Sozialphilosophie“, wie Norman P. Barry schreibt. Weiterhin zeichnet sich seine Werk durch einen sehr eingängigen, geistreichen und humorvollen Stil aus.
Rothbard argumentiert, unter Berufung auf John Locke, radikal naturrechtlich. Nach seiner Auffassung hat jeder Mensch von Natur aus bestimmte Rechte: Redefreiheit, Versammlungsfreiheit, Informationsfreiheit , Vertragsfreiheit, vor allem aber das Recht auf die eigene Person und auf die Früchte eigener Arbeit. Das Bemerkenswerte hierbei ist, dass Rothbard jedes dieser Rechte von dem natürlichen Recht auf Eigentum ableitet. Er steht damit in der Tradition der Stoa, der mittelalterlichen Scholastik sowie des klassischen Liberalismus.
Daneben speist sich Rothbards Denken aus Ludwig von Mises' praxeologischer Analyse des Gütertausches und schließlich aus der spezifisch amerikanischen anarchistisch-libertären Tradition.
Sein Credo besteht im wesentlichen aus zwei Axiomen:
- (i) Jeder Mensch, ob jung ob alt, ob arm ob reich, ob männlich oder weiblich, hat ein absolutes und natürliches Recht auf sich selbst.
- (ii) Jeder Mensch, wiederum ohne Ausnahme, hat ein ebenso absolutes und natürliches Recht auf eine 'Heimstatt' (homestead).
Diese beiden Axiome werden von Rothbard allerdings nicht diskutiert. Hier ist er auf jeden Fall angreifbar, denn der Glaube an absolute und natürliche Rechte ist zumindest problematisch. Spätestens seit Jeremy Benthams Attacken auf das naturrechtliche Denken - Nonsense Upon Stilts (»gestelzter Unsinn«) lautete sein vernichtendes Urteil - wissen wir, dass Naturrechtstheorien mit äußerster Zurückhaltung formuliert werden müssen, wenn sie angesichts der Wirklichkeit plausibel sein sollen.
Wir sollten nicht aus den Augen verlieren, dass die Auffassung, es gebe natürliche Rechte, zwar schon seit über dreihundert Jahren vertreten wird, dass es aber bis jetzt noch keine befriedigende Antwort auf die Frage gibt, was genau ein Recht zu einem natürlichen Recht macht und ob es überhaupt Rechte gibt, die über verschiedene geschichtliche Epochen und verschiedene Kulturen hinweg konstant als natürlich betrachtet worden sind.
Interessanter als Rothbards axiomatisch-dogmatische Voraussetzungen sind freilich die Argumente, die er daraus entwickelt. Er argumentiert vor allem anti-paternalistisch: Kein Anspruch einer Person, besser zu wissen, was einer anderen Person nutzt und frommt, wird von ihm anerkannt. Als typisch für ein freiheitliches Zusammenlebenr gilt ihm der freiwillige Tausch von Gütern und Dienstleistungen. Es ist insofern nur zu konsequent, dass er sogenannte 'Verbrechen ohne Opfer' wie Glücksspiele, Prostitution, Pornographie, sexuelle Abweichungen, Tragen einer Schusswaffe und Drogenkonsum als naturrechtlich geschützte Sphären begreift.
Auch der Schwangerschaftsabbruch gehört nach seiner Auffassung zu diesem Bereich. Der Fötus mag ein menschliches Wesen, ja sogar eine Person sein, dies wird von Rothbard nicht bestritten. Wenn allerdings der Fötus ungewollt oder gegen den Willen der Frau (wie etwa bei einer Vergewaltigung) entstanden ist und sie ihn nicht austragen will, dann ist er nicht viel mehr als ein Eindringling und Parasit, gegen den die Schwangere das erste Rothbard-Axiom geltend machen kann. An dieser Stelle ist Rothbard jedoch inkonsistent und dies in zweierlei Hinsicht: Erstens übersieht er, dass auch der Fötus durch das erste Axiom geschützt ist. Zweitens verstößt er als Lockeaner eklatant gegen Lockes (naturrechtliches) Prinzip, das Recht habe die Aufgabe, »die Unschuldigen zu schützen und die Angreifer in Schranken zu halten«. Den Fötus als Angreifer, Eindringling und Parasiten, nicht aber als Unschuldigen zu betrachten, scheint die tatsächlichen Verhältnisse geradezu auf den Kopf zu stellen.
Als Verkörperung des Paternalismus gilt Rothbard der Staat. Doch der Staat ist in seiner Sicht nicht nur ein Vormund der Bürger, sondern ein unverhohlener Aggressor, indem er ständig und in großem Maßstab die natürlichen Rechte der Bürger verletzt. Als Beispiele nennt Rothbard u. a. die militärische Zwangsrekrutierung, die Besteuerung und die Schulpflicht. Die Schulpflicht erzeugt systematisch Uniformität, untergräbt damit die Diversität und verletzt ebenso systematisch das (natürliche) Elternrecht. Außerdem bürdet sie dem Staat ein Entscheidungsproblem auf, das dieser grundsätzlich nicht lösen kann: Soll die Erziehung z. B. eher progressiv oder eher konservativ sein? Falls die Eltern in dieser Frage nicht einig sind, wird stets eine beträchtliche Minderheit, vielleicht sogar eine Mehrheit in ihren Interessen erheblich verletzt. Die Besteuerung ist nichts anderes als Zwang oder Raub, bestenfalls ist sie schlechtbezahlte Knechtschaft. Die Wehrpflicht ist im wesentlichen Kidnapping, möglicherweise sogar Mord. Wenn die Repräsentanten des Staates der Auffassung sind, dass der Staat verteidigt werden muss, dann sollen sie sich, wie jeder Bürger in seinen Geschäften auch, an den Markt wenden und dort durch entsprechende Offerten Personen anwerben.
Jeder Staat, sogar ein demokratischer Verfassungsstaat, verletzt die natürlichen, individuellen Rechte, da jeder Staat letztlich eine monopolistische Erzwingungs und Gewaltagentur ist. Die üblichen demokratischen Verfahren und die üblichen Verfassungen sind staatliche Einrichtungen, die stets im Interesse der jeweiligen Machthaber interpretiert und angewandt werden. Ein wirksamer Schutz dieser Rechte kann nur durch eine radikale Entstaatlichung herbeigeführt und gewährleistet werden. Diese Entstaatlichung soll auch vor öffentlichen Straßen, den Schulen und Hochschulen, der Polizei, dem Rechtswesen (einschließlich der Gerichte) und den Streitkräften nicht haltmachen.
Die Achillesferse des individualistischen Anarchismus dürfte genau darin bestehen, dass ein Gemeinwesen, das unter der Bedingung der großen Zahl existiert, ohne eine »fundamentale Zwangsgewalt« schlechterdings nicht auskommen kann. Selbst wenn Rothbards naturrechtliche Axiome zuträfen, die Menschen also tatsächlich natürliche Rechte hätten, so folgte daraus noch nicht, dass diese Rechte auch tatsächlich von allen respektiert würden. Wenn sich nun die Individuen zu Schutzvereinigungen zusammenschlössen, bestünde die Gefahr eines ständigen Krieges zwischen diesen Vereinigungen, eines Krieges, bei dem wiederum mit Verletzungen von Rechten gerechnet werden müsste. Abhilfe kann hier offenbar nur eine »fundamentale Zwangsgewalt« schaffen, die mit so überlegener Macht ausgestattet ist, dass sie jeden internen Streit autoritativ und definitiv schlichten kann. Diese Zwangsgewalt aber ist der Staat. Dass Staaten immer wieder positive oder natürliche Rechte (falls es solche gibt) verletzen, ist wahrscheinlich unvermeidlich. Doch haben wir die Möglichkeit, solche Verletzungen in Schranken zu halten und die Opfer zu entschädigen. Hierin besteht der Unterschied zwischen einem demokratischen Verfassungsstaat und einem autokratischen Willkürstaat.
Ungeachtet dieser Kritik ist nicht zu bestreiten, dass die Schriften Rothbards immens anregend sind.
Publikationen
- Man, Economy and State (Kompletter englischer Text)
- America's Great Depression (Kompletter englischer Text)
- Power and Market
- Die Ethik der Freiheit ISBN 3-89665-086-6 (Kompletter englischer Text)
- Eine neue Freiheit. Das libertäre Manifest (Kompletter englischer Text)
- Das Schein-Geld-System. Wie der Staat unser Geld zerstört ISBN 3930039729 (Kompletter englischer Text)
- Economic Thought Before Adam Smith
- Conceived in Liberty
Literatur
- Barry, Norman P.: On Classical Liberalism and Libertarianism. (Reprint) London / Hampshire 1989: Macmillan (erstmals 1986)
- Barry, Norman: »Anarchism«, in Nigel Ashford und Stephen Davis (Hrsg.), A Dictionary of Conservative and Libertarian Thought. London / New York 1991: Routledge, S. 4-7
- Barry, Norman: »Libertarianism«, in Nigel Ashford und Stephen Davis (Hrsg.), A Dictionary of Conservative and Libertarian Thought. London / New York 1991: Routledge, S. 163-166
- Boaz, David: Libertarianism: A Primer. New York 1998: The Free Press
- Boger, Horst Wolfgang: »Anarchismus und radikaler Liberalismus«, in Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, 2. Jahrgang, herausgegeben von Hans-Georg Fleck, Jürgen Frölich und Beate-Carola Padtberg. Baden-Baden 1990: Nomos Verlagsgesellschaft, S. 46-66
- Justin, Raimondo: An Enemy of the State: The Life of Murray N. Rothbard. New York 2000: Prometheus Books
- Sylvan, Richard: »Anarchism«, in Robert E. Goodin und Philip Pettit (Hrsg.), A Companion to Contemporary Political Philosophy. Oxford / Cambridge, MA 1993: Basil Blackwell, S. 215-243
Weblinks
- Vorlage:PND
- Umfassende Zusammenstellung von Schriften Murray N. Rothbards (engl.)
- Rothbards Schriften auf der Internetseite des Ludwig von Mises Institute - Darunter zahlreiche der von ihm veröffentlichten Bücher (engl.)
- Bibliographie
- Life in the Old Right - Essay mit vielen interessanten Informationen über Rothbard und sein Denken
- The Mantle of Science - Methodologischer Essay von Murray N. Rothbard
- Die Anarcho-Kapitalisten und Max Stirner
- liberty.li: Murray Newton Rothbard
- Wikipedia-Artikel über "Libertarismus"
Personendaten | |
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NAME | Rothbard, Murray Newton |
KURZBESCHREIBUNG | amerikanischer Ökonom und Politiker |
GEBURTSDATUM | 1926 |
STERBEDATUM | 1995 |