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Lotte in Weimar

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Lotte in Weimar ist ein Roman von Thomas Mann, dessen Handlung sich auf die autobiographischen Hintergründe stützt, die Johann Wolfgang Goethe zu seinem Briefroman Die Leiden des jungen Werthers inspiriert hatten:

Die nunmehr um 44 Jahre gealterte und verwitwete Charlotte Kestner, geb. Buff, das literarische Vorbild für die Lotte jenes Liebesromans, reist 1816 nach Weimar. Sie tut dies vorgeblich, um ihre Schwester zu besuchen, eigentlich aber in der Hoffnung, Goethe doch noch einmal zu sehen.

Das Werk

Charlotte Kestner quartiert sich mit Tochter und Zofe im Hotel "Zum Elephanten" ein, und ihr Ruf, die Inspiration für "Die Leiden des jungern Werther", den vielleicht erfolgreichsten Roman der Epoche gewesen zu sein, eilt ihr voraus.

Schon das Personal spricht sie langatmig über Goethe an, und dann geben sich Besucher und Besucherinnen in aufsteigender Bedeutung die Klinke in die Hand und können gar nicht aufhören, sich monologisch über Goethe in tausenderlei Bezügen auszusprechen. Zuerst wird sie von einer irischen Malerin besucht, die sich auf Skizzen von Berühmtheiten spezialisiert hat. Anschließend ersucht Herr Dr. Riemer, ehemaliger Sekretär Goethes und Privatlehrer von dessen Sohn August von Goethe, um ein Gespräch. Sodann besucht Adele Schopenhauer sie, dem Hause Goethes vielfach nahe stehend. Darauf folgt der Besuch Augusts von Goethe selbst. Aller ihrer Leben hat Goethe tief beeinflusst und das nicht immer beglückend - was ja auch für Lotte selber gilt.

Formal sehr elegant, wird der 67-jährige Goethe zunächst nur im Goethebild seiner Umgebung widergespiegelt. Spät erst im Roman wechselt - mit einem inneren Monolog Goethes selber (also mit einem aberwitzig ehrgeizigen schriftstellerischen Vorhaben!) - die Szene zu ihm. Er beschließt (die ganze Stadt ist zu seinem Ärger voll von ihrer Gegenwart), sie samt begleitender Tochter in größerem Kreis einzuladen. Es geschieht, dieses gesellige Beisammensein wird nunmehr einfach erzählt, und beklemmend wird dabei klar, wie ein großer Künstler auf seiner Umgebung lasten kann, so anregungsreich und fruchtbar er ist und so amiabel wenngleich anstrengend alles verläuft. Unter vier Augen - was doch ihr mit gemischten Gefühlen angestrebtes Vorhaben gewesen war - trifft sie ihn nicht. Für den Abend ist ein Theaterbesuch Lottes mit Goethe geplant, zu dem er jedoch nicht erscheint und sie nur hinterher von seiner Kutsche abholen lässt. Darin findet nun ein imaginiärer (oder doch realer?) Dialog statt. Der Roman endet wo er begonnen hat: im Hotel zum Elephanten.

Das Wagnis, den ganzen weltberühmten Weimarer Kreis zu rekapitulieren, dazu Goethes Leben, sein Verhältnis zu Schiller, die Freiheitskriege, viele seiner Werke und Vorhaben u.a.m., ist dem Autor dank umfassender Vorstudien und in zumeist leichtestem Parlando subtil und fulminant gelungen. Es ist dies für einen Leser eine der besten Einführungen in dieses Zentrum der deutschen Geistesgeschichte - durch die Brille Thomas Manns gesehen, eines Jahrganges 1875, also eines um 126 Jahre Jüngeren, aber eines Schriftstellers mit den Erfahrungen des eigenen künstlerischen Welterfolges.

Historischer Hintergrund

Charlotte Kestners Familienbesuch in Weimar, 44 Jahre nach dem Erscheinen des Werther, ist historisch das einzig Verbürgte. Ob sie dies alles oder Etliches davon erlebt hat, wie im Buch beschrieben, ist jedoch nicht überliefert.

Thomas Mann veröffentlichte den Roman 1939 im Exil, auch als Hommage an sein Vorbild Goethe in einem fern gerückten und nah gebrachten Deutschland.

In Egon Günthers filmischer Adaptation des Mannschen Goethe-Romans bleibt der Dichter über lange Zeit ein Phantom. Oberhofrätin Charlotte Kästner, geb. Buff, wird verkörpert von Lilli Palmer, die der hervorragenden Besetzung mit Rolf Ludwig, Jutta Hoffmann, Katharina Thalbach und Martin Hellberg ein besonderes Glanzlicht verleiht. Die nicht mehr ganz junge, international gefeierte Mimin spielt sich selbst und Lotte als sie nicht ohne Wehmut und mit viel Altersweisheit, einem letzten Dialog mit dem Dichter – Phantasie oder tatsächlich – in dessen Kutsche hat. Zu bereuen und verzeihen gibt es nichts, Einsichten aber sind erwachsen aus dem Geflecht von Vergangenheit, Dichtung und Gegenwart: „Es ist etwas Fürchterliches um die Verkümmerung, das sage ich Dir! Und wir Geringen müssen sie meiden und uns dagegen stemmen, aus allen Kräften. Wenn auch der Kopf wackelt, vor lauter Anstrengung. … Bei Dir, da war es was anderes … Dein Wirkliches, das sieht nach was aus. Nicht nach Verzicht und Untreue, sondern nach lauter Erfüllung und höchster Treue!“

Rezeption

In Deutschland - wo der Roman wie alle Werke Manns verboten waren - kursierten während der Kriegsjahre deutschsprachige Exemplare des Lotte-Romans, die in Schweden gedruckt worden waren. Schlagartig berühmt wurde das Buch in der deutschen Öffentlichkeit schließlich unmittelbar nach dem Krieg 1946 im Zuge des „Nürnberger Goethe-Skandals“, als der britische Hauptankläger bei den Nürnberger Prozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher, Hartley Shawcross, ein vermeintlich von Goethe stammendes, deutschenkritisches Zitat in sein Schlussplädoyer einbaute, um so den deutschen Nationaldichter gewissermaßen zum Mitankläger gegen den Nationalsozialismus zu machen: wie sich herausstellte, stammte das betreffende Zitat jedoch nicht, wie Shawcross geglaubt hatte, von Goethe selbst, sondern aus Manns Roman, in dem dieser es dem Dichter in einem Monolog in den Mund gelegt hatte.

Nürnberger Goethe-Skandal

Der Nürnberger Goethe-Skandal war ein Vorfall im Umfeld des Nürnberger Prozesses gegen die nationalsozialistischen Hauptkriegsverbrecher von 1945/ 46.

Sir Hartley Shawcross, Hauptankläger des britischen Königreiches, wies am Ende seines Schlussplädoyers am 26. Juli 1946 darauf hin, dass der deutsche Volksdichter Johann Wolfgang von Goethevor vielen Jahren...vom deutschen Volk“ gesagt habe:

Das Schicksal wird sie schlagen, weil sie sich selbst verrieten und nicht sein wollten, was sie sind. Dass sie den Reiz der Wahrheit nicht kennen, ist zu beklagen, dass ihnen Dunst und Rauch und berserkerisches Unmaß so teuer ist, ist widerwärtig. Dass sie sich jedem verrückten Schurken gläubig hingeben, der ihr Niedrigstes aufruft, sie in ihren Lastern bestärkt und sie lehrt, Nationalität als Isolierung und Roheit zu begreifen, ist miserabel.“

Der Jurist nannte die Fundstelle des Zitates nicht. Eine Woche später wurde bekannt, dass das vermeintliche Goethe-Zitat dem Roman „Lotte in Weimar“, von Thomas Mann entnommen war. Die Londoner Tageszeitung Times wies Shawcross in ihrer Literaturbeilage auf seinen Irrtum hin. Literaturkenner entdecken darüber hinaus noch einen Fehler in der Übersetzung: Im Originaltext lautete das Attribut zu Schurke »verzückt« und nicht, wie in der Übersetzung auf die sich Shawcross berief: »verrückt«.

Thomas Mann 1937. Foto von Carl Van Vechten

Bei der Regierung in London unter Clement Attlee löste diese literarische Affäre am Rande des großen Prozesses gegen die Naziführer eine gewisse peinlich berührte Verlegenheit aus. Der britische Botschafter in Washington, Baron Inverchapel, sandte Thomas Mann einen Brief in dessen kalifornisches Exil, in dem er diesen im Auftrag des Foreign Office darum bat, die heikle Angelegenheit aufzuklären. Mann antwortete, dass Hartley »guten Glaubens, verführt durch das aktuell Schlagende der Äußerungen« (wie er später äußerte), tatsächlich einem Irrtum aufgesessen und die Times im Recht sei. Darüberhinaus verbürgte er sich aber dafür, dass, wenn Goethe nicht wirklich gesagt habe, was Shawcross ihm in den Mund gelegt habe, er es doch sehr wohl hätte sagen können, und Sir Hartley somit in einem höheren Sinn doch richtig zitiert habe. Unsicher ist bis heute, ob Erika Mann, die Tochter Thomas Manns, die als Pressebeobachterin dem Prozess beiwohnte, eine Rolle bei der Aufklärung von Shawcross' Irrtum spielte.

In der deutschen Öffentlichkeit wurde die "Anklage Goethes gegen die Deutschen“ mit geteiltem Echo aufgenommen: einige betrachteten das Zitat ungeachtet der Dekontextualisierung als zutreffende Beschreibung der Mentalität während der Nazijahre und letztlich gerechtfertigte Kritik, andere sahen Shawcross Missgeschick hingegen als einen Beleg dafür, dass der Nürnberger Prozess „Siegerjustiz“ und eine „inszenatorische Darbietung“ mit vorher feststehendem Ausgang zuungunsten der Angeklagten sei.


Literatur

  • Thomas Mann: Lotte in Weimar. Text und Kommentar. Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe in zwei Bänden.

Herausgegeben von Werner Frizen. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2003. 1140 Seiten, ISBN 3100483367

http://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=7874&ausgabe=200503