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Rationalitätenfalle

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Mit Rationalitätenfalle bezeichnet man das Auseinanderfallen zwischen dem, was für das einzelne Individuum rational, vernünftig ist (Individualrationalität), und dem, was für die Gesamtheit der Individuen vernünftig ist (Kollektivrationalität). Voraussetzung für eine Rationalitätenfalle ist, dass zwischen Individuen (die Individuen können dabei Individuen, Familien, Unternehmen, Staaten sein), die nicht gemeinsam, sondern individuell handeln, Konkurrenz besteht.

Dieser Zustand kann sozusagen auch künstlich herbeigeführt werden, wenn etwa die Polizei die Angehörigen einer kriminellen Vereinigung getrennt voneinander einsperrt und verhört. Die Polizei versucht so für die Gefangenen ein Gefangenendilemma zu schaffen.

Die Rationalitätenfalle ist eins von vielen Verstehensmodellen aus der Kybernetik. Man betrachtet mit diesen Verstehensmodellen das Zusammenwirken mehrerer Teilnehmer in dynamischen Systemen.

Beispiele

Hier einige Beispiele, wobei im Einzelfall umstritten sein kann, ob tatsächlich eine Rationalitätenfalle vorliegt.

Wettrüsten: Der einzelne Staat erzielt einen Vorteil gegenüber den konkurrierenden Nachbarstaaten, indem er seine Rüstung aufstockt. Machen das aber alle Staaten, dann heben sich die Vorteile höherer Rüstung gegenseitig auf, aber alle Staaten sitzen jetzt auf hohen, womöglich weiter steigenden Rüstungskosten.

Brand im Kino: Aus Sicht des einzelnen Individuums ist es rational, sich möglichst rasch in Richtung Ausgang zu bewegen, bevor der große Ansturm kommt. Machen dies alle, dann kommt es gerade deshalb zu einer Verstopfung der Ausgänge. Die hätte vermieden werden können, wenn alle die Nerven behalten hätten und sich geordnet zum Ausgang bewegt hätten („Keine Panik!“).

Wohntürme im Mittelalter: Adelsgeschlechter bauen sich in Städten (etwa in Regensburg) hohe Wohntürme, um militärisch von oben herab die Konkurrenten bekämpfen zu können oder einfach aus Prestigegründen. Die Folge ist, dass die Wohntürme immer weiter in die Höhe gebaut werden, die Wirkung der Wohntürme hebt sich gegenseitig auf, aber die höhere Einsturzgefahr, die höheren Erhaltungskosten bleiben.

Bildung: Gymnasial ausgebildete Schüler haben beispielsweise am Arbeitsmarkt bessere Chancen als Hauptschüler. Forderungen der Politik, man solle mehr Schüler aufs Gymnasium schicken, um die Arbeitsmarktkrise zu bekämpfen, scheitern an der Rationalitätenfalle. Wenn alle gleich gut ausgebildet sind, erhöht sich nicht zwangsläufig die Zahl der Arbeitsplätze. Dieses Beispiel lässt sich überall anwenden, wo allgemein Bildung als Problemlöser unserer Arbeitsmarktprobleme empfohlen wird.

In der Regel entstammen die Beispiele dem gesellschaftlichen Leben. Es gibt aber auch Beispiele aus der Evolution. Wenn etwa beim Paarungverhalten bestimmte Merkmale wie möglichst große Geweihe bei manchen Hirscharten den Fortpflanzungserfolg eines männlichen Individuum verbessern helfen, diese Merkmale aber gleichzeitig bei der Nahrungsaufnahme oder der Flucht durchs Unterholz hinderlich sind, kann das für die Tierart insgesamt nachteilig sein. So wird das Aussterben des urzeitlichen Riesenhirsches wesenlich auf der Evolutionsdynamik immer größerer und schwererer Geweihe begründet. Ähnlich tragisch kann sich ein buntes Federkleid bei tropischen Vogelarten auswirken. So fördert zwar ein auffälliges Äußeres die Gunst beim Vogelweibchen, gleichzeitig wird das Vogelmännchen zur leichten Beute seiner Fraßfeinde. Evolutionsbiologisch gerät somit eine hoch spezialisierte Art allmählich in eine Sackgasse, die letztlich das Aussterben derselben zur Folge haben kann. Um dem entgegen zu wirken, erscheinen viele geschlechtsspeziefische Merkmale wie beispielsweise der auffällige rote Kropfsack bei Fregattvögel oder die Rotfärbung der Lachse nur zur Paarungszeit. Ein Vergleich zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und biologischer Evolution hinsichtlich ihrer kybernetischen Abläufe kann hier weitere Erkenntnisse liefern.

Zahlreiche Beispiele entstammen dem Wirtschaftsleben:

Werbung: Die Gesamtnachfrage nach beispielsweise Bier oder Waschmitteln sei stabil. Die einzelne Unternehmung kann aber durch Werbung ihren Marktanteil ausdehnen zu Lasten der Konkurrenz. Machen das aber alle, dann haben alle immer höhere Werbeausgaben, ohne dass dadurch der Umsatz der Bier- oder Waschmittelbranche insgesamt steigt.

Auch das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate von Karl Marx kann als Rationalitätenfalle gedeutet werden. Die einzelnen Unternehmen versuchen, durch Einführung technischen Fortschritts ihre Profitrate zu erhöhen. Machen das aber alle, dann – so wenigstens Marx – führt dies gesamtwirtschaftlich zu einem Rückgang der durchschnittlichen Profitrate und zu größerer Krisenanfälligkeit oder zu Stagnation.

Sparen: Wenn einer für sich allein mehr sparen will, so kann er dies erreichen; tun dies aber alle, dann sparen sie letzten Endes alle weniger als vorher, weil ihre vermehrte Ersparnis einen Einkommensrückgang bewirkt. In der Weltwirtschaftskrise 1929 kam es beispielsweise aus Angst vor der Krise zu einem Anstieg der Sparneigung. Die Folge war der Rückgang der privaten Nachfrage und die Krise verschärfte sich noch.

Den Gürtel enger schnallen Die Logik der Alltagserfahrung lautet: wenn es einem Unternehmen oder einer Privatperson finanziell schlecht geht, was können die dann machen? Sie müssen den Gürtel enger schnallen. Ein in Schwierigkeiten geratenes Unternehmen muss Arbeitskräfte entlassen, Maschinen, die es in Auftrag gegeben hat abbestellen und außertarifliche Leistungen seiner Angestellten kürzen; es muss also dafür sorgen, dass Kosten gesenkt werden. In dieser Vorstellungswelt muss auch eine Stadt oder ein ganzes Land, dem es schlecht geht, in kollektiver Einigkeit den Gürtel enger schnallen. Es wird so eine ganze Nation kaputt gespart.

Trugschluss der Komposition

Einzelwirtschaftliche versus gesamtwirtschaftliche Sicht

Aus heutiger Sicht hätte damals der Staat, der die Verantwortung für die Gesamtwirtschaft hat (Kollektivrationalität), seine Ausgaben zum Ausgleich erhöhen müssen (Keynesianismus), um die Wirtschaft zu stabilisieren. Der Staat unterlag aber dem Trugschluss der Komposition, indem er glaubte, dass das, was für die einzelnen privaten Individuen rational war, auch für ihn und das Gesamtsystem rational sein müsste. Er versuchte selbst, seine Staatsausgaben den Steuereinnahmen, die wegen der Krise zurückgingen, anzupassen, er senkte also auch seine Nachfrage und verschärfte so noch die Krise.

Individuelle Erfahrungen können so zu falschen Schlüssen führen. Einzel- und Gesamt-Analysen führen nicht immer zu gleichen Ergebnissen, da die Summe der Einzelteile nicht immer gleich der Gesamtheit ist. Als Beispiel aus der Wirtschaft könnte man die Massenarbeitslosigkeit nennen, die man versucht mit größeren Bildungs- und Qualifizierungsanstrengungen zu bekämpfen oder damit, dass man bei Arbeitslosen die Bezüge reduziert. Dabei wird übersehen, dass das höhere Bildungsniveau zwar dem einzelnen Individuum nützt, sind aber alle höher gebildet, dann heißt das nicht, dass es deshalb gesamtwirtschaftlich mehr Arbeitsplätze gibt. Kürzt der Staat das Arbeitslosengeld, kann er das zwar als Kostensenkung an die Unternehmen weitergeben. Gleichzeitig geht aber die Nachfrage der Arbeitslosen zurück und das „Angstsparen“ der Noch-Beschäftigten steigt, so dass es zu Umsatzrückgängen bei den Unternehmen kommt. Tatsächlich werden solche Maßnahmen oft „individuell“ begründet, das heißt, der Staat sieht die nationale Volkswirtschaft in Konkurrenz zu anderen Volkswirtschaften, obwohl diese Konkurrenz womöglich keinerlei Bedeutung in diesem Zusammenhang hat. Der Staat handelt in diesem Sinne einzelwirtschaftlich rational, ohne sich um die Kollektivrationalität der Weltwirtschaft zu kümmern.

Aufgabe einer gesamtwirtschaftlichen Betrachtung ist es, die Widersprüche zwischen der individuellen Rationalität und der volkswirtschaflichen Sicht (Kollektivrationalität) aufzudecken; Aufgabe einer gesamtwirtschaftlichen Wirtschaftspolitik ist es, bei Widersprüchen zwischen der individuellen Rationalität und der volkswirtschaflichen Rationalität (Kollektivrationalität) geeignete Maßnahmen zu ergreifen (vgl. Keynesianismus). Allerdings droht dann die Gefahr des Moral Hazards.

Für den frühen Theoretiker der marktwirtschaftlichen Wirtschaft, Adam Smith, kann die Rationalitätenfalle nämlich auch dafür verantwortlich sein, dass gesamtwirtschaftlich ein richtiges Ergebnis entstehen kann. Von ihm stammt das Bild der unsichtbaren Hand, die dafür sorgen könne, dass sich durch die Marktkräfte eine gesamtwirtschaftliche vernünftige Ordnung einstelle, obwohl die Marktteilnehmer nur ihrem privaten Interesse folgen. Für Smith bestand also grundsätzlich kein allgemeiner Widerspruch zwischen der Individualrationalität der einzelnen Marktteilnehmer und dem allgemeinen Wohlstand (Kollektivrationalität). Dies ist eine Grundauseinandersetzung zwischen Befürwortern einer freien Marktwirtschaft und den Kritikern derselben wie etwa Marx oder Befürwortern einer keynesianischen Wirtschaftspolitik.

Hegels List der Vernunft

Die Vorstellung Smiths einer Welt, wo die einzelnen ihrem Interesse folgen und genau dadurch das Gemeinwohl befördern, wurde von dem deutschen Philosophen Hegel zu einem Weltprinzip ausgeweitet. Die Einzelnen folgen zwar ihren Leidenschaften, befördern aber gerade so die höhere Vernunft. Caesar beispielsweise eroberte Gallien, um reich und mächtig zu werden. Ungewollt schuf er aber so das Römische Weltreich, womit die Weltgeschichte eine höhere Stufe der Vernunft erklomm, wenigstens nach Hegels Meinung. Der Weltgeist bedient sich also der Interessen der einzelnen, um so durch die „List der Vernunft“ sich zu vervollkommnen.