Neues Geistliches Lied

Mit Neues Geistliches Lied (NGL) wird ein musikalisches Genre bezeichnet, das folgende charakteristische Merkmale aufweist:
- ein (im weitesten Sinn) religiöser Text – darunter fallen u. a. liturgische, biblisch orientierte, christlich engagierte und politische Texte
- Zugehörigkeit zur Gattung Lied
- stilistische Beeinflussung durch Popularmusik (z. B. Schlager, Jazz, Folklore, Rock)
- oder an neomodalen Mustern der 1930er Jahre orientiert in einer Art „neuem Kirchenliedstil“,
- für den Gottesdienstgebrauch bestimmt (auch wenn sie oft außerhalb des Gottesdienstes gesungen werden)
- Hauptproduzenten und Hauptvermittler sind Chöre, Posaunenchöre, Bands und einzelne Liedermacher.
Entstehung
Als erstes Neues Geistliches Lied gilt Seigneur, mon ami von Père Aimé Duval, erschienen 1955.
1956 führte der Kirchenmusiker Helmut Barbe sein Musical Hallelujah Billy auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Frankfurt am Main auf. In diesem Werk verwendete er erstmals Elemente aus der Jazz-Musik. Das Echo auf diese Aufführung war – vor allem bei jungen Menschen – sehr positiv.
Père Maurice Cocagnac sang 1962 auf dem deutschen Katholikentag seine religiösen Chansons.
Richtungsweisend in der Geschichte des Neuen Geistlichen Liedes waren die vier Wettbewerbe der Evangelischen Akademie in Tutzing. Zum ersten, vom evangelischen Studentenpfarrer von München Günther Hegele initiierten Wettbewerb wurden 996 Beiträge eingesandt, die „dem von Jazz und Unterhaltungsmusik geprägten musikalischen Resonanzvermögen der Jugend entsprechen“ sollten.
- 1. Wettbewerb 1962
- 1. Preis: Danke für diesen guten Morgen, Text und Musik: Martin Gotthard Schneider
- 2. Preis: Zeig uns den Weg
- Auszeichnung: Uns ist ein Kind geboren
- 2. Wettbewerb 1963
- 1. Preis: Weil du "Ja" zu mir sagst, Text: Christine Heuser, Musik: Oskar Gottlieb Blarr
- 2. Preis: Bleibe bei uns Herr! („Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt“), Text und Musik: Martin Gotthard Schneider
- 3. Preis: Lass uns spüren, Text und Musik: Alfred Hans Zoller
- 1. Preis Chorlieder: Gott ist unsre Zuversicht von Heinz W. Zimmermann
- 2. Preis Chorlieder: Von guten Mächten, Text: Dietrich Bonhoeffer, Musik: Herbert Breuer
- Weitere Lieder: Gott meint es gut mit dir von Martin Gotthard Schneider; Der Teufel von Dietrich Mendt; Ich zieh meine dunkle Straße von Klaus Kleinau; Funde am Weg von Ernst Fröhlich; Der Weg der Barmherzigkeit ("Zwischen Jericho und Jerusalem") von Martin Gotthard Schneider; Im Garten von Gethsemane von Jacqueline Jürgens; Wehr dich nicht von Martin Gotthard Schneider
1963 wurde die Dominikanerin Jeanne-Paule Marie Deckers als Sœur Sourire mit Dominique weltberühmt.
1965 wurde der Euphorie vieler Kirchenmusiker und Chöre zunächst Einhalt geboten. Der Kölner Erzbischof Kardinal Josef Frings untersagte die Verwendung von Jazz, Negro Spirituals und „geistlichen Schlagern“ in der Kirche. Wenig später, im Mai 1966, sprach sich auch die Deutsche (katholische) Bischofskonferenz gegen diese Art der Kirchenmusik aus.
Musicals und Pop-Oratorien
Neue Hoffnung schöpften die Reformer, als 1968 das Musical Joseph and the Amazing Technicolor Dreamcoat von Andrew Lloyd Webber veröffentlicht wurde. Als dann 1970 dessen Musical Jesus Christ Superstar aufgeführt wurde, setzten sich die Bemühungen nach zeitgemäßer Kirchenmusik fort.
Der Begriff „Sacropop“ – neue Kirchenmusik mit Stilmitteln moderner Popmusik – wurde 1971 von Peter Janssens geprägt. Dabei geht es nicht nur um gottesdienstliche Gebrauchsmusik, sondern auch um konzertante Großformen wie Musicals und Pop-Oratorien.
Liederbücher und Gesangbücher
Es erschienen in dieser Zeit auch bereits erste Liederbücher, etwa Jericho, herausgegeben von Karl Natiesta und Tom Runggaldier (1970) oder Schalom - Ökumenisches Liederbuch (1971).
Ein wichtiger Beitrag zur Verbreitung neuer geistlicher Lieder war das Liederbuch Das Lob, das 1979 von Josef Mittermair (Pettenbach) erstmals aufgelegt wurde. Das Liederbuch sammelte die gesamte Bandbreite des vorhandenen neuen geistlichen Liedgutes: Die in „Beatmessen“ verwendeten deutsch textierten Spirituals, Chansons von Maurice Cocagnac, Alfred Flury, Aimé Duval und Sœur Sourire, von Tonträgern und aus dem Radio „heruntergehörte“ Lieder wie Vater unser von Giorgio Moroder und viele andere Lieder. Die Gen-Rosso-Messe fand durch dieses Liederbuch Verbreitung, ebenso wie die Tiroler Jugend- und Kindermessen von Raimund Kreidl, und die auch heute noch gerne bei Erstkommunionen gesungene Pfälzer Kindermesse von Hartmut Wortmann. Im April 2013 erschien dieses Liederbuch in der 14. Auflage.[1]
In der Zeit der DDR ab 1975 – und auch noch nach der Wende – konnte ein jährlich erscheinendes Liedheft der Jugend zum Dreifaltigkeitssonntag etabliert werden. Diese Liedersammlungen erscheinen auch heute noch jedes Jahr zum gleichen Zeitpunkt. Herausgeber ist inzwischen die Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der deutschen Bischofskonferenz.
- 1986: Singe Jerusalem
- 2002: Liederquelle
- 2006: du mit uns
- 2008: Kindergotteslob - Weil du da bist[2][3]
- 2011: Junges Gotteslob - Ein Segen sein[4][5]
- 2013: Gotteslob
Arbeitskreis Kirchenmusik und Jugendseelsorge im Bistum Limburg
1971 wurde der Arbeitskreis Kirchenmusik und Jugendseelsorge im Bistum Limburg gegründet. Die Gründer sahen sich herausgefordert, der Zeit entsprechend, den Gemeinden zu neuem Liedgut zu verhelfen. Der Arbeitskreis hatte ein umfangreiches Fortbildungsprogramm, um zur Verbreitung der neuentstandenen Lieder und zu Qualifizierungsmaßnahmen für Chöre, Bands und Gemeinden beizutragen.[6]
Die prägenden Mitglieder waren die Texter und Komponisten Eugen Eckert, Dietmar Fischenich, Winfried Heurich, Joachim Raabe, Horst Christill, Peter Reulein und der langjährige Vorsitzende Patrick Dehm.
Ein Merkmal für das produktive Schaffen sind die über 25 erschienenen Chor und Liederbücher (Auswahl):
- 1994 Chorbuch „Vom Leben singen“ mit 188 Liedern
- 1999 Chor- und Bandbuch* „die Zeit färben“ mit 161 Liedern
- 2003 Chorbuch „Lass dein Licht leuchten“, mit 103 Liedern
- 2008 Liederbuch „Weil du da bist“ – Kinder-Gotteslob mit 380 Liedern
- 2009 Chor- und Bandbuch „Weil der Himmel uns braucht“ mit 200 Liedern
- 2011 Junges Gotteslob „Ein Segen sein“ mit 720 Liedern
AK SINGLES
Der Arbeitskreis SINGLES im BDKJ im Erzbistum Köln (gegründet 1971) betrieb jahrzehntelange Aufbauarbeit. Die Mitglieder (Wolfgang Bretschneider, Peter Deckert, Johannes Fromm, Heinz Martin Lonquich, Raymund Weber, später Christoph Seeger, Gregor Linßen und Thomas Quast) publizierten das "Singles Liedblatt" mit neuen geistlichen Liedern, meist in kompletten Partituren und trugen so viel zur Verbreitung von jeweils aktuellem Liedgut bei. (SINGLES ist ein Akronym: "Singen Internationaler Neuer Geistlicher Lieder. Ein Serviceangebot")
Evangelisch
Endgültig etabliert hat sich das Neue Geistliche Lied durch die Aufnahme einzelner Lieder ins Evangelische Gesangbuch, das 1996 das Evangelische Kirchengesangbuch ablöste. Jetzt waren Lieder von Fritz Baltruweit, Paul Bischoff, Clemens Bittlinger, Siegfried Fietz, Thomas Knodel, Johannes Nitsch, Kurt Rommel, Martin Gotthard Schneider, Manfred Siebald, Peter Strauch, Dieter Trautwein, Jürgen Werth, Oskar Gottlieb Blarr, Detlev Jöcker und Christoph Zehendner zumindest aus dem Regionalteil der offiziellen Gesangbücher nicht mehr wegzudenken. Im Bereich der evangelischen Kirchenmusik ist die Gattung des Neuen Geistlichen Liedes die zur Zeit produktivste Musikrichtung. Die Dichtung und Verbreitung immer neuer Stücke dieser Musikrichtung wird besonders durch den alle zwei Jahre stattfindenden Deutschen Evangelischen Kirchentag vorangetrieben.
Kritik innerhalb der römisch-katholischen Kirche
Innerhalb der römisch-katholischen Kirche kommt es immer wieder zur Kritik am Neuen Geistlichen Lied. Gegner dieser Gattung werfen dem sogenannten „NGL“ eine Profanierung des Mysteriums des römisch-katholischen Glaubens vor. Lieder wie Ins Wasser fällt ein Stein, Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer oder ähnliche Stücke entsprechen nach der Auffassung mancher katholischer Theologen nicht Charakter und Würde der katholischen Liturgie. Viele Lieder seien zwar für Katechesen geeignet, jedoch lasse sich aufgrund ihrer oftmals unliturgischen Texte für sie kein Platz im Gottesdienst finden.
Auch Papst Johannes Paul II. und Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., haben wiederholt vor einer Banalisierung der Liturgie gewarnt. Allerdings sei diese Banalisierung nicht ausschließlich dem Liedgut anzulasten, sondern einer oft gedankenlosen Liedauswahl und einer manchmal minderwertigen Liedqualität. Papst Johannes Paul II. beschrieb 2003 die Anforderungen an liturgische Musik wie folgt: „Was nun die liturgischen Musikkompositionen angeht, so mache ich mir das 'allgemeine Gesetz' zu eigen, das der hl. Pius X. folgendermaßen formulierte: 'Eine Komposition für die Kirche ist in dem Maße dem Heiligen angemessener und liturgischer, als sie sich in Rhythmus und Aufbau und Klang dem gregorianischen Gesang nähert, und sie ist umso weniger für das Gotteshaus geeignet, als sie sich von jenem obersten Modell entfernt.' Selbstverständlich geht es nicht darum, den gregorianischen Gesang einfach zu kopieren, sondern vielmehr darum, sicherzustellen, daß die neuen Kompositionen von demselben Geist durchdrungen sind, der jenen Gesang hervorbrachte und nach und nach Gestalt gab.“[7]
Nach Joseph Ratzinger darf gottesdienstliche Musik „keine banalisierte Massenmusik sein“, sie müsse „geschichtlich bewährte Musik“ sein.[8] Sie müsse sich sowohl an den liturgischen Texten orientieren als auch sich am Gregorianischen Choral und an Palestrina messen lassen können.[9] Daraus ergaben sich für Papst Benedikt XVI. weitreichende normative Vorgaben für die Musica sacra. Er betont, „dass die Musik, die der Anbetung 'in Geist und Wahrheit' dient, nicht rhythmische Ekstase, nicht sinnliche Suggestion oder Betäubung, nicht subjektive Gefühlsseligkeit, nicht oberflächliche Unterhaltung sein kann“.[10] Kirchliche Rock- oder Popmusik wurde von ihm daher vehement zurückgewiesen und Rock- und Popfestivals als „Antikult“ beschrieben.[11] Diesen Musikformen liege eine Ideologie der Selbstbefreiung zugrunde, die dem christlichen Menschenbild zutiefst widerspreche. „Es handelt sich um Erlösungspraktiken, deren Form der Erlösung dem Rauschgift verwandt und dem christlichen Erlösungsglauben von Grund auf entgegengesetzt ist.“[11]
Andererseits hat sich das Neue Geistliche Lied in der katholischen Kirche als gültige Ausdrucksform des Glaubens etabliert. Einige Diözesen unterhalten eigene Stellen zur Pflege des Neuen Geistlichen Liedes als eine Form der Kirchenmusik. Bereits im Gotteslob (1975) und vor allem in dessen Diözesanteilen gab es neue geistliche Lieder, im Gotteslob (2013) hat deren Anteil beträchtlich zugenommen.
Neue Geistliche Lieder im Stammteil des Gotteslobs
Siehe die mit „NGL“ gekennzeichneten 37 Lieder im Artikel Liste der Gesänge im Stammteil des Gotteslobs. Darunter sind 8 Lieder von Peter Janssens. Zusätzlich befinden sich noch 21 Lieder aus Taizé im Stammteil.
In den diversen Eigenteilen ist der Anteil größer, im Eigenteil der (Erz-)Diözesen Österreichs gibt es 53 neue geistliche Lieder (von ca. 200 insgesamt) und 4 weitere Taizé-Lieder.
Siehe auch
Literatur
- Peter Hahnen: Das Neue Geistliche Lied als zeitgenössische Komponente christlicher Spiritualität. 2. Auflage. LIT-Verlag, Münster 2003, ISBN 3-8258-3679-7
- Peter Hahnen: Liederzünden! Theologie und Geschichte des Neuen Geistlichen Liedes. 1. Auflage. Verlag Haus Altenberg 2009, ISBN 978-3-7761-0236-9
- René Frank: Das Neue Geistliche Lied - Neue Impulse für die Kirchenmusik. Tectum, Marburg 2003, ISBN 3-8288-8573-X
- Dorothea Monninger (Red.): Neue Geistliche Lieder. Töne – Texte – Temperamente. Arbeitsstelle Gottesdienst der EKD, Informations- und Korrespondenzblatt, 16. Jg. 2-2002
- Peter Deckert: LITERATUR zum Neuen Geistlichen Lied. Bücher, Zeitschriftenartikel, Examensarbeiten zum Thema „Neues Geistliches Lied (NGL) - Sacro-Pop - Religiöse Popularmusik“. Köln 1975–2015. (Downloadadresse: http://www.bdkj-dv-koeln.de/fileadmin/bdkj2010/03Angebote/AK_SINGLES/LITERATURLISTE_Stand_2015_03.pdf)
- Bernward Hofmann (Zusammenstellung): Troubadour für Gott - Neue Geistliche Lieder. 6. Auflage. Kolping-Bildungswerk Diözesanverband Würzburg e.V., Würzburg 1999
- Peter Bubmann: Das „Neue Geistliche Lied“ als Ausdrucksmedium religiöser Milieus, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 7 (2010), S. 460-468.
Einzelnachweise
- ↑ [1]
- ↑ http://neuesgeistlicheslied.de/Weil-du-da-bist.asp
- ↑ http://neuesgeistlicheslied.de/PDF/Musica-Sacra-Jan-Feb-2009.pdf
- ↑ http://neuesgeistlicheslied.de/Ein-Segen-sein.asp
- ↑ http://neuesgeistlicheslied.de/images/suite101220111_leister.gif
- ↑ http://www.bistumlimburg.de/meldungen/meldung-detail/meldung/begeisterung-fuer-neue-kirchenmusik.html
- ↑ Chirograph von Papst Johannes Paul II. zum 100. Jahrestag der Veröffentlichung des Motu Proprio „Tra le Sollecitudini“ Über die Kirchenmusik, 22. November 2003, Zugriff am 6. März 2014.
- ↑ Peter Bubmann: Papst Benedikt XVI. als Musiktheologe. In: Musik und Kirche, Heft 4/5, Jahrgang 2005, Bärenreiter-Verlag Kassel
- ↑ Vgl. Joseph Ratzinger: Das Welt- und Menschenbild der Liturgie und sein Ausdruck in der Kirchenmusik. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Band 11, Theologie der Liturgie. Die sakramentale Begründung christlicher Existenz, 2. Aufl., Hrsg. von Gerhard L. Müller, Freiburg i.B.: Herder, 2008, S. 527–548, hier S. 545; Erstveröffentlichung: 1995.
- ↑ Joseph Ratzinger Das Welt- und Menschenbild der Liturgie und sein Ausdruck in der Kirchenmusik. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Band 11, Theologie der Liturgie. Die sakramentale Begründung christlicher Existenz, 2. Aufl., Hrsg. von Gerhard L. Müller, Freiburg i.B.: Herder, 2008, S. 527–548, hier S. 538.
- ↑ a b Joseph Ratzinger: Das Welt- und Menschenbild der Liturgie und sein Ausdruck in der Kirchenmusik. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Band 11, Theologie der Liturgie. Die sakramentale Begründung christlicher Existenz, 2. Aufl., Hrsg. von Gerhard L. Müller, Freiburg i.B.: Herder, 2008, S. 527–548, hier S. 541.