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Selbstorganisation

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Als Selbstorganisation wird hauptsächlich in der Systemtheorie eine Form der Systementwicklung bezeichnet, bei der die formgebenden gestaltenden und beschränkenden Einflüsse von den Elementen des sich organisierenden Systems selbst ausgehen. Weniger abstrakt gilt im politischen Gebrauch des Begriffes die Gestaltung des Lebens an sich nach nicht festen, von anderen bestimmten Regeln und ähnelt daher dem Autonomiebegriff. Konkret eingesetzt wird es bei sich selbstorganisierenden Karten.

Eigenschaften

Selbstorganisierte Systeme haben i. d. R. vier Eigenschaften:

  1. Komplexität: Sie sind komplex, wenn ihre Teile durch wechselseitige, sich permanent ändernde Beziehungen miteinander vernetzt sind. Die Teile selbst können sich ebenfalls jederzeit verändern. Komplexität erschwert die vollständige Beschreibbarkeit sowie Vorhersagbarkeit des Verhaltens von Systemen.
  2. Selbstreferenz: Selbstorganisierende Systeme sind selbstreferentiell und weisen eine operationale Geschlossenheit auf. Das heißt „jedes Verhalten des Systems wirkt auf sich selbst zurück und wird zum Ausgangspunkt für weiteres Verhalten“. Operational geschlossene Systeme handeln nicht aufgrund externer Umwelteinflüsse, sondern eigenständig und eigenverantwortlich aus sich selbst heraus. Selbstreferenz stellt aber keinen Widerspruch gegenüber der Offenheit von Systemen dar.
  3. Redundanz: In selbstorganisierenden Systemen erfolgt keine Trennung zwischen organisierenden, gestaltenden oder lenkenden Teilen. Alle Teile des Systems stellen potentielle Gestalter dar. Eine Hierarchie entfällt dadurch.
  4. Autonomie: Selbstorganisierende Systeme sind autonom, wenn die Beziehungen und Interaktionen, die das System als Einheit definieren, nur durch das System selbst bestimmt werden. Autonomie bezieht sich nur auf bestimmte Kriterien, da eine materielle und energetische Austauschbeziehung mit der Umwelt weiterhin besteht.

Geschichte

Der Begriff der Selbstorganisation wurde in den 50er Jahren von W. A. Clark und B. G. Farley geprägt:

"Sie erkannten, daß sich Operatoren, die in einer geschlossenen Beziehung stehen, irgendwie stabilisieren und beobachteten – noch ohne eine Theorie der rekursiven Funktionen oder des Eigenwertes zu kennen – das Phänomen, daß bestimmte geschlossene Systeme nach einer gewissen Zeit stabile Formen des Verhaltens entwickeln" (Heinz von Foerster und Bernhard Pörksen: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners, 1998, S. 92).

In sozialen Systemen lässt sich beobachten, wie Ordnung – unabhängig von den Handlungen eines Organisators – aus dem System selbst heraus entsteht. Diese Erscheinung wird als Selbstorganisation bezeichnet. Die Selbstorganisation ist ein nicht nur in der Systemtheorie populärer Begriff. Ihm kommt sowohl in sozialen als auch in natürlichen, physikalischen, biologischen, chemischen oder ökonomischen Systemen Bedeutung zu. Auch geht das Konzept der Rätedemokratie und ihren sozio-politischen Ansätzen davon aus, daß die zur Selbstorganisation erforderlichen Handlungsspielräume gegen bestehende Formen der Fremdbestimmung erkämpft werden müssen. Diesem Ansatz zufolge können die Menschen nur dann ihr Leben selbst in die Hand nehmen, wenn sie auch die Produktionsmittel kontrollieren und nicht hierarchischen Organisationen unterworfen sind.

Die Vor- oder Urgeschichte der Selbstorganisation umfasst den Zeitraum vom griechisch-römischen Altertum bis etwa zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Schon im alten Griechenland spekulierten Philosophen über Chaos und Turbulenz als Ursache von Ordnung. In den Naturwissenschaften des achtzehnten, neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts dominierten mechanistische Denkweisen, die sich unter anderem auch in Darwins Evolutionstheorie widerspiegelt. Die eigentliche Entstehungsgeschichte der Selbstorganisation beginnt jedoch erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der relativ späte Zeitpunkt hat mehrere Ursachen, zunächst verhinderte das vorherrschende mechanistische Paradigma den notwendigen Umdenk-Prozess, weiter wurden mit Selbstorganisation in Verbindung stehende Phänomene ignoriert. Gegenwärtig kann noch nicht von einer Theorie selbstorganisierender sozialer Systeme oder von empirisch getesteten Hypothesen gesprochen werden.

Der universellen Anwendbarkeit verdankt der Begriff der Selbstorganisation seine breite Resonanz.

Selbstorganisation in der Systemtheorie

Selbstorganisation ist das spontane Auftreten neuer, stabiler, effizienter Strukturen und Verhaltensweisen (Musterbildung) in offenen Systemen die sich fern vom thermodynamischen Gleichgewicht befinden. Dem System muss dabei Energie zugeführt werden. Es verändert seine grundlegende Struktur als Funktion seiner Erfahrung und seiner Umwelt. Die interagierenden Teilnehmer (Systemkomponenten, Agenten) handeln nach einfachen Regeln und erschaffen dabei aus Chaos Ordnung, ohne eine Vision von der gesamten Entwicklung haben zu müssen.

Ein einfacher Fall von (physikalischer) Selbstorganisation ist z. B. das Auftreten von Konvektionszellen beim Erhitzen von Flüssigkeiten (Bénard-Experiment).

Das Konzept der Selbstorganisation findet man in verschiedenen Wissenschaftsbereichen wie z. B. Chemie (Gerichtete Faltung und Assoziation von Proteinen, Helix-Bildung der DNA, ...), Biologie, Soziologie usw.

Kriterien

Um von Selbstorganisation sprechen zu können, müssen folgende (nicht voneinander unabhängige) Kriterien erfüllt sein:

  1. Die Evolution eines Systems in eine räumlich/zeitlich organisierte Struktur ohne äußeres Zutun
  2. Die autonome Bewegung in immer kleinere Regionen des Phasenraumes (sogenannte Attraktoren)
  3. Die Entwicklung von Korrelationen oder raumzeitlichen Mustern zwischen vorher unabhängigen Variablen, deren Entwicklung nur unter dem Einfluss lokaler Regeln steht

Siehe auch

Selbstorganisation in der Betriebswirtschaftslehre

Bedeutung

Die in selbstorganisierenden Systemen herrschende Ordnung kann nicht einfach als Resultat eines gestaltenden Teils verstanden werden. Sie entsteht vielmehr ganzheitlich, das heißt weder ausschließlich als Ergebnis individueller Eigenschaften, noch durch Tätigkeiten einzelner Personen, sondern durch die Interaktionen aller Systemteile. Ordnung bedeutet Gesetzmäßigkeit, die uns erlaubt, Fehlendes zu erkennen, oder zu erahnen und zu ergänzen, Fehlerhaftes zu definieren usw. Ordnung erlaubt somit Menschen, Sinn zu finden, gewährleistet Sicherheit und erlaubt die Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten einzuordnen. Selbstorganisation erzeugt eine gewachsene, keine geplante oder bewusst gestaltete Ordnung. Sie ergibt sich zwar infolge menschlichen Verhaltens, jedoch ohne besondere organisatorische Gestaltungsabsicht. Friedrich A. von Hayek bezeichnet eine gewachsene Ordnung auch als spontane Ordnung.

Spontane Ordnung wird als informales Phänomen angesehen und galt eher als Störquelle, da sie von der formalen Organisation, die von der Unternehmensführung vorgegeben wird, abweichen und eine Eigendynamik entwickeln kann. Einer Umorientierung zur Folge wird die „Grundvorstellung über Organisation“ nicht durch die vom Management geplanten Unternehmensstrukturen bestimmt, sondern von denjenigen Strukturen, welche sich in Abhängigkeit vom Verhalten vieler Mitarbeiter permanent bilden und verändern.

Ein wichtiges Merkmal der Selbstorganisation ist ihr prozessualer Charakter. Im Vordergrund stehen Prozesse, nicht Strukturen. Ordnung befindet sich in permanenter Entwicklung, Strukturen sind dagegen nur Momentaufnahmen. Selbstorganisation bewirkt durch „interaktive Selbststrukturierung ausgelöste organisatorische langfristige Veränderung“. Selbstorganisatorische Systeme bilden ein „geschlossenes Ganzes“. Die Beteiligten lenken ihre Blicke grundsätzlich ins Innere des Systems. Selbstorganisation entspringt keinen individuellen oder sonstigen Zwängen, sondern stellt „generell eine Eigenschaft von Systemen“ dar.

Nach E. Göbel kann zwischen autonomer und autogener Selbstorganisation unterschieden werden.

  • Autonome Selbstorganisation liegt dann vor, wenn Ordnung in Unternehmen selbstbestimmt entsteht. Ordnung wird dabei als Ergebnis absichtlicher und geplanter Gestaltungshandlungen betrachtet. Voraussetzung ist, dass die Mitglieder oder Gruppen genügend Handlungsspielraum erhalten, um selbst an der sie betreffender Ordnung mitwirken zu können.
  • Autogene Selbstorganisation bedeutet, dass Ordnung aufgrund der Eigendynamik komplexer dynamischer Systeme von selbst entsteht. Der autogenen Selbstorganisation liegt demnach kein bewusster Gestaltungsakt zugrunde.

Vor- und Nachteile im Unternehmen

Positive Effekte der Selbstorganisation

Eine verstärkte Selbstorganisation wirkt sich positiv auf die Motivation aus, da dabei den eigenen Interessen mehr Bedeutung zukommt. Die Arbeit selbst wird bedeutungsvoller und sinnvoller erlebt, weil die Aufgaben ganzheitlicher und abwechselungsreicher sind und die Potentiale der Mitarbeiter besser entfaltet werden.

Die Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche Bedingungen gewinnt immer mehr an Bedeutung. Eine Erweiterung des Selbstbestimmungspotentials kann die Erkenntnis von Anpassungsbedarf verbessern, da die Mitarbeiter mehr Übersicht haben und den Bezug zur Umwelt stärker aufrechterhalten.

  • Lenkbarkeit

Je komplexer ein Unternehmen ist, desto mehr wünscht sich der Manager, dass die Mitarbeiter, die kooperieren sollen, von ihren Fähigkeiten gebrauch machen, und sich nach bestem Wissen und Gewissen selbst lenken und organisieren.

Das Motto „Zeit ist Geld“ kommt der Selbstorganisation zu Gute, weil eine schnellere und reibungslosere und daher kostengünstigere Anpassung an veränderte Umstände möglich ist.

Negative Effekte der Selbstorganisation

  • Überforderung

Es ist durchaus vorstellbar, dass Mitarbeiter mit starker Freizeitorientierung lieber ein vorgeschriebenes Pensum erledigen, um sich so wenig wie möglich mit dem „notwendigen Übel“ Arbeit auseinandersetzen zu müssen. Vor allem kann aber die ungewohnte Freiheit zu Beginn Angst und Überforderungsgefühle auslösen.

  • Konflikte

Das Konfliktpotential ist grundsätzlich höher, wenn Verteilungs- und Kompetenzregelungen fehlen und selbst ausgehandelt werden müssen.

  • Hohe Anforderung an die Führung

Durch die Selbstorganisation kann es zu einer Abänderung der offiziellen Regeln und autogen entstehenden Regeln kommen, die die Unsicherheit über die tatsächliche geltende Ordnung erhöhen, dies führt zu einem Dilemma der Führungskräfte.

  • Zeitaufwand und Kosten

Häufige Strukturänderungen, welche auch noch konfliktgeladen sind, erfordern Zeit. Daher kann die Lösungs- und Entscheidungsfindung in selbstorganisierten Systemen länger dauern als bei klaren Vorgaben von Oben.

Weitere Anwendungen

Anwendung findet die Selbstorganisation z.B. in Entbürokratisierungsprozessen, Abbau von Hierarchien, Entwicklung innovativer Strukturen, Gruppenentwicklung und Gruppenarbeit, Schaffung von humanen und effizienzfördernden Arbeitsbedingungen usw.


Fremdorganisation ist das Gegenteil zu Selbstorganisation. Dabei haben die Beteiligten in den jeweiligen Systemen keine Möglichkeit sich oder ihre Handlungsprozesse selber zu gestalten. Es wird nach strengen, unflexiblen und unveränderbaren organisatorischen Regeln verfahren. Beispiele und Vertreter; Der Bürokratieansatz von Max Weber, Das Scientific Management von Frederick Winslow Taylor.

Selbstorganisation im Unterricht

Im Zuge der Schülerorientierung wurden seit den 1970er Jahren Unterrichtskonzepte entwickelt, die Selbstorganisation in der Lernergruppe fördern. Hier ist das Konzept kooperatives Lernen zu nennen sowie die Methode Lernen durch Lehren (LdL), in der die Klasse als "neuronales Netz" behandelt wird. Dabei sollen - in Analogie zu neuronalen Ensembles - durch intensive und langfristige Interaktionen zwischen den Lernern stabile Verbindungen entstehen. Auf diese Weise werden Inhalte innerhalb der Gruppe - als Zellensemble - erlernt. Ferner sollen diese "neuronalen Netze" kollektiv Wissen konstruieren. In der LdL-Methode wird an die Struktur des Gehirns angeknüpft, das selbstorganisatorische Merkmale enthält. Besonders vielversprechend im Sinne einer kollektiven Konstruktion von Wissen sind Internetenzyklopädien, wie die Wikipedia, die - metaphorisch ausgedrückt - gerade dabei sind, sich zum Gehirn zu konstituieren.

Literatur