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Rattenlinie Nord

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Die Marinesportschule, wo sich im Mai 1945 die letzte Reichsregierung aufhielt.

Die Rattenlinie Nord bezeichnet die Fluchtroute von zahlreichen NS-Verbrechern nach Schleswig-Holstein in Richtung Flensburg im Jahr 1945, welche allgemein von anderen Rattenlinien, die eindeutig aus Deutschland herausführten, getrennt betrachtet wird.

Um nach Flensburg zu gelangen wurden auch Flugzeuge genutzt. Im Mai 1945 landeten zahlreiche Maschinen auf dem damals noch größeren Flugplatz Flensburg-Schäferhaus.
Abziehende deutsche Soldaten die 1945 an der Grenze bei Krusau, einem Vorort von Flensburg, entwaffnet wurden.

Gründe der Flucht Richtung Flensburg

In den letzten Kriegstagen des Zweiten Weltkrieges flüchtete ein großer Teil der verbliebenen NS-Größen nicht in die angebliche Alpenfestung, sondern über die sogenannte Rattenlinie Nord nach Schleswig-Holstein in Richtung Flensburg, denn im unzerstörten Flensburger Ortsteil Mürwik wurde der Sonderbereich Mürwik für die letzte Reichsregierung unter Karl Dönitz eingerichtet.[1][2] Die Planungen für die Verlagerung der Reichsministerien in Form von Arbeitsstäben von Berlin weg hatten schon im Februar 1945 begonnen, doch erst im April 1945 wurden sie realisiert.[3] Ein kleinerer Teil der flüchtigen NS-Entscheidungsträger erhoffte sich offenbar auch, sich nach Dänemark absetzen zu können.[4] Doch am 5. Mai wurde von Mürwik aus die Teilkapitulation der deutschen Truppenteile in Dänemark angeordnet. Noch im Mai 1945 zogen die Deutschen Soldaten aus Dänemark ab (vgl. Dänemark unter deutscher Besatzung).[5] Des Weiteren gab es unter den flüchtenden Nazis auch die Hoffnung, dass die britische Besatzungsmacht wie daheim auf die Meldepflicht verzichten würde, was sich später bewahrheiten sollte und die Möglichkeit des Untertauchens auf Dauer begünstigen sollte.[6]

Geflüchtete Personen und Einheiten

Auch der Reichsführer-SS Heinrich Himmler setzte sich zusammen mit seinem Chefadjutanten Werner Grothmann und seinem persönlichen RFSS-Stab, der aus 150 Personen bestand, in Richtung Flensburg ab, das er am 2. Mai 1945 erreichte.[7][8][9] Er wollte an der Regierung von Großadmiral Dönitz beteiligt werden.[10]

Kommandobehörden,[11] die im Mai 1945 in den Raum Flensburg zogen, teilweise offenbar auf Anweisung von Himmler, waren:[12][13]

Neben diesen Kommandobehörden kamen auch noch die Mitarbeiter der Gestapostelle Schwerin unter dem SS-Standartenführer Ludwig Oldach und die Mitarbeiter der Leitstelle Stettin unter dem SS-Standartenführer und Polizeipräsidenten Fritz Karl Engel nach Flensburg.

Zum nach Flensburg verlagerten Amt D gehörten der Kommandant des KZ Auschwitz Rudolf Höss, SS-Hauptsturmführer Karl Sommer, KZ-Arzt Enno Lolling, SS-Sturmbannführer Wilhelm Burger (SS-Mitglied), SS-Standartenführer Gerhard Maurer sowie die KZ-Kommandanten Hans Bothmann, Arthur Liebehenschel, Anton Kaindl und Paul Werner Hoppe. Zu den Personen die nach Flensburg kamen gehörten zudem der SS-Gruppenführer Emil Höring, der ehemaligen BdO des Warthegaus, dem Generalmajor der Polizei Walter Gudewill, der Reichsarzt-SS und der Polizei Obergruppenführer Karl Gebhardt. SS-Generäle die sich zum Kriegsende im Flensburger Raum aufhielten waren Udo von Woyrsch, Curt von Gottberg, Hans-Adolf Prützmann, Wilhelm Koppe sowie der SS-General und chirurgische Begleitarzt Adolf Hitlers Karl Brandt.[14] Nach Flensburg kam auch der SS-Sturmbannführer Kurt Stawizki, ein Täter des Holocaust, der nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 eine leitende Position bei der Sonderkommission 20. Juli des RSHA einnahm.[15] Der Gauleiter der NSDAP in Ostpreußen Erich Koch erreichte Flensburg ebenfalls. Dieser jedoch mit Zwichenstopp in Kopenhagen. Des Weiteren fand sich Anfang Mai auch der Reichsminister des Auswärtigen Joachim von Ribbentrop in Flensburg ein.

In Flensburg angekommen bezogen die geflüchteten Nazis Gasthäuser oder öffentlichen Gebäude der Stadt. Sie kampierten im Polizeipräsidium oder tauchten im kaum überschaubaren Mürwiker Stützpunkt unter.[16] Viele Einheiten lagerten außerdem im Umfeld der Stadt Flensburg. Deshalb ist davon auszugehen, dass nicht alle geflüchteten Personen und Einheiten heute noch ermittelbar sind.[17]

Verbleib

Mitglieder der letzten Reichsregierung aus Mürwik am 23. Mai wie sie nach ihrer Verhaftung beim Flensburger ZOB aussteigen mussten. Beim ZOB befand sich das Polizeipräsidium und der Regierungshof, wo die Briten stationiert waren.

Schon bevor einige der Einheiten Flensburg erreicht hatten, waren diese versprengt oder von den Alliierten gefangengenommen worden oder sie hatten sich unauffindbar abgesetzt, so dass ihre geflüchteten Vorgesetzten nur noch ihr verschwinden registrieren konnten.[18] Die in Flensburg eingetroffenen NS-Größen erhielten nach der Ankunft in Flensburg im Polizeipräsidium neue Papiere für neue Identitäten.[19][20] So wurden SS-Angehörige zu einfache Feldpolizisten, Wehrmachtsunteroffiziere zu Maate der Marine. In Mürwik erhielten diese neuen Personen passende, gebrauchte Uniformen.[21] Waren die SS-Angehörigen erst mit neuen Papieren ausgestattet war es ihnen möglich sich zwischen die aus Dänemark zurückkommenden Wehrmachtssoldaten bei Krusau zu mischen.[22]

Hatte Dönitz am 3. Mai den nach Flensburg geflüchteten Himmler noch als Führer der Waffen-SS und Chef der deutschen Polizei bestätigt,[23] so setzte er ihn doch am 6. Mai in seiner Anwesenheit während einer Kabinettssitzung ab. Himmler wurde es sodann in Flensburg zu gefährlich, er verließ die Stadt und zog sich ins Umland von Flensburg zurück.[24] Mit einigen wenigen Gefolgsleuten floh Himmler ab dem 11. Mai wieder zurück nach Süden, wo er am 21. Mai in Meinstedt, südöstlich von Bremervörde, verhaftet wurde und er sich kurz darauf das Leben nahm.[25][26]

Auch Joachim von Ribbentrop fand keinen Anschluss in der geschäftsführenden Reichsreigerung. Karl Dönitz lehnte ihn ab.

Kontrolle von zurückkehrenden deutschen Soldaten an der Grenze bei Krusau im Jahr 1945.

Mit dem Kriegsende begann die britische Field Security Section nach Kriegsverbrechern zu fahnden. Erste Erfolge vermeldete die Einheit ab dem 13. Mai.[27] An der Grenze begannen die Briten zudem die Wehrmachtsangehörigen zu überprüfen. Mit den Dänen zusammen wurde im ehemals deutschen Internierungslager Fröslee eine Vernehmungsstellen eingerichtet.[28]

Der im Mai in Flensburg verhaftete Propaganda-Rundfunksprecher William Joyce (Lord Haw-Haw) während seines anschließenden Transportes in einer Ambulanz.

Maximilian von Herff wurde noch im Mai 1945 in Flensburg von den britischen Soldaten verhaftet. Richard Glücks, der Chef der Inspektion der Konzentrationslager verübte am 10. Mai 1945 im Marinelazarett Flensburg-Mürwik Selbstmord. Der NS-Chefideologe Alfred Rosenberg wurde am 18. Mai 1945 im Marinelazarett verhaftet. Der Sonderbereich Mürwik wurde am 23. Mai von den britischen Soldaten besetzt. Karl Dönitz, Alfred Jodl und Ex-Rüstungsminister Albert Speer, der sich an der Regierung beteiligt hatte, wurden verhaftet. Der Generaladmiral Friedeburg der ebenfalls für die Regierung tätig war nahm sich noch am selben Tag das Leben.[29]

Am 11. März 1946 wurde auf einem Hof des Dorfes Gottrupel der unter falschem Namen untergetauchte KZ-Kommandant des KZ Auschwitz Rudolf Höss von den Briten verhaftet und an Polen ausgeliefert, wo er vor Gericht gebracht wurde und schließlich in Auschwitz hingerichtet wurde.[30][31][32]

Als nach dem Krieg der flüchtige NS-Euthanasie-Täter Werner Heyde erfuhr, dass die Stelle eines Sportarztes an der Sportschule unbesetzt war, bewarb er sich unter dem Namen Dr. med. Fritz Sawade und wurde 1949 angestellt. Er erwarb im Stadtteil Westliche Höhe, in dem nach dem Krieg schon eine ganze Anzahl von Nazis sich niedergelassen hatten, im Walter-Flex-Weg ein Reihenhaus.[33] Das Untertauchen war ihm auch dadurch erleichtert worden, dass die Briten in ihrer Besatzungszone auf die Meldepflicht verzichtet hatten.[34] Im Jahr 1959, wurde Werner Heyde schleißlich enttarnt. Er setzte sich jedoch vor der zu erwartenden Verhaftung nach Frankfurt ab. Dort wurde er schließlich verhaftet. Bevor er verurteilt werden konnte, nahm er sich das Leben.[35][36][37]

Einzelnachweise

  1. Vgl. Stephan Link: „Rattenlinie Nord“. Kriegsverbrecher in Flensburg und Umgebung im Mai 1945 in: Gerhard Paul u. Broder Schwensen (Hg.): Mai '45. Kriegsende in Flensburg, Flensburg 2015, Seite 20
  2. Andreas Oeding, Broder Schwensen, Michael Sturm: Flexikon. 725 Aha-Erlebnisse aus Flensburg!. Flensburg 2009, Artikel: Reichshauptstadt
  3. Stephan Link: „Rattenlinie Nord“. Kriegsverbrecher in Flensburg und Umgebung im Mai 1945 in: Gerhard Paul u. Broder Schwensen (Hg.): Mai '45. Kriegsende in Flensburg, Flensburg 2015, Seite 20
  4. Der Spiegel: Zeitgeschichte. Da liegt sie, diese Bestie, vom: 25. April 2015; abgerufen am: 23. Januar 2016
  5. Vgl. sh:z: 70 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs : Die letzte Reichshauptstadt Flensburg und ein vergilbtes Stück Geschichte, vom: 5. Mai 2015; abgerufen am: 23. Januar 2015
  6. Der Spiegel: Im Visier der Nazi-Jäger, vom: 3. September 2001; abgerufen am: 24. Januar 2016
  7. Landeszentrale für politische Bildung Schleswig-Holstein (Hrsg.): Der Untergang 1945 in Flensburg (Vortrag am 10. Januar 2012 von Gerhard Paul), Seite 10
  8. Stephan Link: „Rattenlinie Nord“. Kriegsverbrecher in Flensburg und Umgebung im Mai 1945 in: Gerhard Paul u. Broder Schwensen (Hg.): Mai '45. Kriegsende in Flensburg, Flensburg 2015, Seite 21
  9. Gerhard Paul: Zeitläufe: Flensburger Kameraden in Die Zeit, vom: 8. September 2013, abgerufen am: 23. Januar 2016
  10. Stephan Link: „Rattenlinie Nord“. Kriegsverbrecher in Flensburg und Umgebung im Mai 1945 in: Gerhard Paul u. Broder Schwensen (Hg.): Mai '45. Kriegsende in Flensburg, Flensburg 2015, Seite 22
  11. Stephan Link: „Rattenlinie Nord“. Kriegsverbrecher in Flensburg und Umgebung im Mai 1945 in: Gerhard Paul u. Broder Schwensen (Hg.): Mai '45. Kriegsende in Flensburg, Flensburg 2015, Seite 22.
  12. Vgl. Stephan Link: „Rattenlinie Nord“. Kriegsverbrecher in Flensburg und Umgebung im Mai 1945 in: Gerhard Paul u. Broder Schwensen (Hg.): Mai '45. Kriegsende in Flensburg, Flensburg 2015, Seite 21 f.
  13. Gerhard Paul: Zeitläufe: Flensburger Kameraden in Die Zeit, vom: 8. September 2013, abgerufen am: 23. Januar 2016
  14. Stephan Link: „Rattenlinie Nord“. Kriegsverbrecher in Flensburg und Umgebung im Mai 1945 in: Gerhard Paul u. Broder Schwensen (Hg.): Mai '45. Kriegsende in Flensburg, Flensburg 2015, Seite 22
  15. Stephan Link: „Rattenlinie Nord“. Kriegsverbrecher in Flensburg und Umgebung im Mai 1945 in: Gerhard Paul u. Broder Schwensen (Hg.): Mai '45. Kriegsende in Flensburg, Flensburg 2015, Seite 22; Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Der Spiegel: Aufgehängt wie Schlachtvieh. Joachim Fest über den Rachefeldzug des Nazi-Regimes gegen die Männer, die Hitler beseitigen wollten, vom: 11. Juli 1994; abgerufen am: 26. Januar 2016
  16. Gerhard Paul: Zeitläufe: Flensburger Kameraden in Die Zeit, vom: 8. September 2013, abgerufen am: 23. Januar 2016
  17. Stephan Link: „Rattenlinie Nord“. Kriegsverbrecher in Flensburg und Umgebung im Mai 1945 in: Gerhard Paul u. Broder Schwensen (Hg.): Mai '45. Kriegsende in Flensburg, Flensburg 2015, Seite 22
  18. Stephan Link: „Rattenlinie Nord“. Kriegsverbrecher in Flensburg und Umgebung im Mai 1945 in: Gerhard Paul u. Broder Schwensen (Hg.): Mai '45. Kriegsende in Flensburg, Flensburg 2015, Seite 21
  19. Flensburger Tageblatt: Bustour durch Flensburg: Auf den Spuren der Zeitgeschichte, vom: 30. Januar 2012; abgerufen am: 23. Januar 2016
  20. Landeszentrale für politische Bildung Schleswig-Holstein (Hrsg.): Der Untergang 1945 in Flensburg (Vortrag am 10. Januar 2012 von Gerhard Paul), Seite 13
  21. Werner Junge: Als die SS-Verbrecher nach Flensburg kamen auf www.ndr.de/, vom: 8. Mai 2015; abgerufen am: 23. Januar 2016
  22. Stephan Link: „Rattenlinie Nord“. Kriegsverbrecher in Flensburg und Umgebung im Mai 1945 in: Gerhard Paul u. Broder Schwensen (Hg.): Mai '45. Kriegsende in Flensburg, Flensburg 2015, Seite 29
  23. Landeszentrale für politische Bildung Schleswig-Holstein (Hrsg.): Der Untergang 1945 in Flensburg (Vortrag am 10. Januar 2012 von Gerhard Paul), Seite 12
  24. Landeszentrale für politische Bildung Schleswig-Holstein (Hrsg.): Der Untergang 1945 in Flensburg (Vortrag am 10. Januar 2012 von Gerhard Paul), Seite 15
  25. Landeszentrale für politische Bildung Schleswig-Holstein (Hrsg.): Der Untergang 1945 in Flensburg (Vortrag am 10. Januar 2012 von Gerhard Paul), Seite 18
  26. sh:z Zivilkleidung, Augenklappe, neuer Name: Doch für Himmler gab es kein Entrinnen, vom: 13. Mai 2015; abgerufen am 23. Januar 2016
  27. Stephan Link: „Rattenlinie Nord“. Kriegsverbrecher in Flensburg und Umgebung im Mai 1945 in: Gerhard Paul u. Broder Schwensen (Hg.): Mai '45. Kriegsende in Flensburg, Flensburg 2015, Seite 30
  28. Stephan Link: „Rattenlinie Nord“. Kriegsverbrecher in Flensburg und Umgebung im Mai 1945 in: Gerhard Paul u. Broder Schwensen (Hg.): Mai '45. Kriegsende in Flensburg, Flensburg 2015, Seite 30
  29. Gerhard Paul und Broder Schwensen (Hg.): Mai '45. Kriegsende in Flensburg, 2015, Seite 215
  30. sh:z: Auschwitz-Kommandant im Zweiten Weltkrieg: Wie Rudolf Höss in SH verhaftet wurde, vom: 5. Oktober 2014; abgerufen am: 9. Januar 2016
  31. sh:z: Ein KZ-Kommandant beschwert sich – Wie die Briten Rudolf Höß aufspürten, vom: 21. Mai 2015; abgerufen am: 9. Januar 2016
  32. Der Spiegel: Nazi-Fahnder Hanns Alexander. Der Mann, der Rudolf Höß jagte, vom: 27. August 2014; abgerufen am: 9. Januar 2016
  33. Flensburger Tageblatt: NS-Euthanasie-Verbrecher in Flensburg: Werner Heyde: Der Arzt ohne Gewissen, vom: 1. September 2015; abgerufen am: 24. Januar 2016
  34. Der Spiegel: Im Visier der Nazi-Jäger, vom: 3. September 2001; abgerufen am: 24. Januar 2016
  35. Flensburger Tageblatt: NS-Euthanasie-Verbrecher in Flensburg: Werner Heyde: Der Arzt ohne Gewissen, vom: 1. September 2015; abgerufen am: 24. Januar 2016
  36. Gerhard Paul: Zeitläufe: Flensburger Kameraden in Die Zeit, vom: 8. September 2013, abgerufen am: 23. Januar 2016
  37. Wolfgang Börnsen u. Leve Börnsen: Vom Niedergang zum Neuanfang. Kiel/Hamburg 2015, S. 60 f.