Vergeltung
Talion (lat. talio Vergeltung) ist die Vergeltung von Gleichem mit Gleichem, ein aus altertümlichem Rechtsdenken stammender Strafrechtsgrundsatz (ius talionis). Der Grundgedanke: ein Täter müsse seine Tat (höchstens) durch Erleiden des gleichen Übels sühnen, das er dem anderen zugefügt hat. Talion ist aber nicht nur als Rechtsgrundsatz, sondern als moralisches Verhaltensprinzip zu untersuchen. Das Prinzip stammt aus dem alten Orient (Codex Hammurapi) und ist in zahlreiche Gesetzeskorpora (lat. corpus Gesamtwerk, Sammlung, eigentlich Körper) eingegangen. (z. B.: das Alte Testament, Tora).
In der Geschichte erwies sich lange vor Beginn der Zeitrechnung, dass bloße Rache, blinde Gewalt und Selbstjustiz friedliches Miteinander unterlaufen. Wenn „Rache um jeden Preis“ (unbedingte Vergeltung) gilt, herrscht unbeschränkte Gewalt (vgl. Bellum omnium contra omnes), die keine Verhältnismäßigkeit sucht. Kleinste Vergehen werden rigoros bestraft. Unter der Geltung des Prinzips der Blutrache kann - und wird bis in die Neuzeit - schon auf eine Körper - ja sogar auf eine bloße Ehrverletzung mit der Tötung des Verletzers oder gar eines seiner Familienangehörigen reagiert werden.
Das Prinzip der Talion enthält demgegenüber - entgegen einem verbreiteten Missverständnis - keine Erweiterung oder Maßlosigkeit der Reaktion des Verletzten, seiner Sippe oder der Gesellschaft auf eine Verletzung, sondern begrenzt in der historischen Situation der weit verbreiteten, tendenziell maßlosen Blutrache die Sanktion auf eine der Verletzung entsprechende Reaktion.
Bibelgrundsatz
Glaubensgebote als Normen des Zusammenlebens einerseits und die Suche nach geeigneter Abschreckung bzw. Bestrafung in der Rechtsprechung andererseits führen schließlich zum Talionsprinzip. Dieses Prinzip will Verhältnismäßigkeit herstellen (bedingte Vergeltung), was als Bibelgrundsatz "Auge um Auge" (siehe aber: Auge für Auge), als Rechtsgrundsatz "Gleiches mit Gleichem" und als sprichwörtliche Verhaltensregel "Wie du mir, so ich dir" bekannt wurde. Die Antwort soll mit gleichen Mitteln erfolgen. Die subjektive Beliebigkeit von Vergeltung wird durch objektive Maßstäbe – nach gesellschaftlich vereinbarten Normen - abgelöst.
Zugrunde liegt ein im Alten Testament genannter und mehrfach abgewandelter Bibelgrundsatz. Am bekanntesten sind die Worte aus dem AT, 3. Mose, 24. Kapitel:
- "19. Und wer seinen Nächsten verletzt, dem soll man tun, wie er getan hat, 20. Schade um Schade, Auge um Auge, Zahn um Zahn ... 21. wer aber einen Menschen erschlägt, der soll sterben. 22. So soll einerlei Recht unter euch sein."Unformatierten Text<nowiki><nowiki>Unformatierten Text hier einfügen<nowiki>Unformatierten Text hier einfügen<nowiki>Unformatierten Text hier einfügenUnformatierten Text hier einfügen</nowiki></nowiki></nowiki> hier einfügen</nowiki>
Widersprüche
So überzeugend der Ansatz ist, Rache abzulösen und ein angemessenes Maß für Vergeltung zu finden, es bleiben etliche Widersprüche. Diese Einwände betreffen Talion sowohl als Rechtsgrundsatz wie als Verhaltensregel. In der Bibel selbst konkurrieren verschiedene Strafnormen, die erstens die Talion aushebeln und für viele Vergehen die Todesstrafe fordern (AT, 3. Mose, 20). Zweitens trifft die angestrebte Begrenzung der Vergeltung (bspw. ein Leben gegen ein Leben) nicht immer den Täter. Drittens schürt die Vergeltung vielfach die Rache und führt praktisch in eine Gewaltspirale. Der Konflikt wird nicht beendet, sondern eskaliert. Ein vierter Einwand gegen das Talionsprinzip aber betrifft das postulierte Gleichgewicht. Denn gerade die Verhältnismäßigkeit ist bspw. bei körperlicher Gewaltanwendung oft fraglich: Was ist "gleich": Die Reaktion an sich, die eingesetzte Kraft, das Schmerzgefühl, das Ergebnis? Was sind "gleiche Mittel"? Fünftens handelt der Betroffene stets als Zweiter, er ist nicht Subjekt, sondern Objekt des Geschehens. Das allerdings entsprach dem Menschenbild autoritärer Ordnungen. Talion ist also ein bloßes Reaktionsprinzip – im Unterschied zur goldenen Regel, die als Aktionsprinzip den Menschen zum selbstbewussten Handeln auffordert.
Im Alten Testament konkurriert das Talionsprinzip zudem mit verschiedenen Verhaltensprinzipien: den 10 Geboten (Dekalog), der Nächstenliebe und der goldenen Regel.
Diese Widersprüche lösen sich allerdings bei Taten zu Lasten der Mitmenschen auf, wenn man das Talionsprinzip nicht als gesetzliche Forderung nach einer der Verletzung gleichwertigen Sanktion auffasst, sondern als bloße Einschränkung versteht und deshalb stets ein "höchstens" mitliest. Dass das Prinzip bei den so verstandenen Delikten gegen Gott, für die stets die Todesstrafe angedroht wird, keine Anwendung finden kann, versteht sich im alttestamentlichen Kontext von selbst.
Verliert Vergeltung an Bedeutung?
Der Verzicht auf Vergeltung wird bereits im Alten Testament angemahnt (AT, 3. Mose, 19, Auslegung der zehn Gebote): "18. Du sollst nicht rachgierig sein ... du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst ..." Außerdem wurde schon damals die wörtliche Anwendung des Talionsprinzips durch Geldstrafen abgelöst. Dies geht aus dem Verbot der Annahme einer Entschädigung für den vorsätzlich handelnden Mörder hervor: "Und ihr dürft kein Sühngeld nehmen für die Person eines Mörders, der des Todes schuldig ist" (4. Buch Mose 35, 31). Die wörtliche Anwendung von "Auge um Auge, Zahn um Zahn" war im rabbinischen Gesetz ausgeschlossen.
Besonders im Neuen Testament korrigiert christliche Nächstenliebe die Vergeltung. So heißt es (NT, Matthäus 5, 38ff.): "38. Ihr habt gehört, dass da gesagt ist: ´Auge um Auge, Zahn um Zahn.´ 39. Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel.; sondern, so dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar. 40. Und so jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. 44. ...Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen." Im Neuen Testament rückt das Prinzip als christliche Nächstenliebe in den Vordergrund. Unmissverständlich heißt es (NT, Paulus an die Römer 12, 17): "Haltet euch nicht selbst für klug. Vergeltet niemand Böses mit Bösem. Fleißiget euch der Ehrbarkeit gegen jedermann."
Auf Vergeltung wurde damals und kann wohl auch heute nicht generell verzichtet werden. Im Alltag ist das Prinzip ("ich zahle dir das mit gleicher Münze heim") weit verbreitet, wenngleich es Konflikte oft verstärkt. Das moderne Strafrecht zielt neben der Verteidigung der Rechtsordnung, der Abschreckung vor Wiederholung oder Nachahmung und der (Re)Sozialisierung und Besserung des Täters auch auf Vergeltung als Ausgleich für eine Straftat. Das allerdings selten mit gleichen Mitteln. Solche Vergeltung - im Sinne eines als Forderung missverstandenen, statt richtig als Begrenzung ausgelegten Tallionsprinzips - widerspricht den Menschenrechten.