Bionade-Biedermeier

Der Bionade-Biedermeier ist eine karikierende Bezeichnung für Konsumverhalten und Lebenstil einer tendenziell großstädtischen neuen Bürgerlichkeit.[1] Der Neologismus aus Biedermeier und Bionade wurde 2007 von Henning Sußebach im Rahmen einer Zeit-Reportage über den Berliner Ortsteil Prenzlauer Berg geprägt.
Das Szenegetränk Bionade wurde dabei, auch über Berlin hinaus, zum häufig rezipierten Symbol[2][3] von Ernährungs- und Konsumgewohnheiten bestimmter begüterter sozialer Gruppen mit alternativem Selbstverständnis. Eine Parallele zum politisch eher zurückhaltenden Biedermeier ist die Betonung des Lebenstils gegenüber politischem Aktivismus.[4][5]
Verwandte Wortkombinationen sind Bionade-Bourgeoisie, Biohème und Generation Biedermeier. International gebräuchlich ist der Begriff der Bobos – den bourgeoisen Bohémiens.
Wortbedeutung und Verwendung

Biedermeier beschreibt den Zeitraum der Restauration zwischen dem Ende der napoleonischen Zeit und dem Wiener Kongress sowie dem Vormärz bis zur 1848er Revolution.[6] Der unter anderem in den Bildern Carl Spitzwegs detailliert porträtierte Biedermeier bezeichnte aber auch den Aufstieg des Bürgertums und der Beginn der Industrialisierung in den deutschen Ländern.[4] Die private Gemütlichkeit jener Zeit und die politische Ruhephase vor den Umwälzungen zur Mitte des 19. Jahrhunderts war eine Reaktion auf staatliche Kontrolle und Zensur, die wirtschaftliche Dynamik wurde oft unterschätzt. Nach 1900 wurde der zunächst negativ konnotierte Begriff Biedermeier eher wertneutral aufgefasst, er stand für eine kleinbürgerliche Kultur der Häuslichkeit und der Betonung des Privaten.
Bionade ist laut Kathrin Hartmann ein besonders eng mit dem Lebensstil der sogenannten LOHAS verbundenes Modegetränk.[7] Die Kombination des Biedermeiers mit dem 2000er Kultgetränk Bionade markiert Auswüchse und Besonderheiten der neuen Bürgerlichkeit, besonders im alternativen und grünen Milieu. Für die beschriebene Gruppe spielt Ernährung eine wichtige Rolle als Mittel der „Distinktion und Ausgrenzung“.[3][8] Wie im Biedermeier wird die Flucht ins Idyll und ins Private aufgenommen.[9]
Rolle von Lebenstil und Ernährung
Jörg Albrecht nennt das Bionade-Biedermeier den Ausdruck einer neuen Bürgerlichkeit, die Ernährung als Mittel der sozialen Distinktion benutzt. Ursprüngliche Außenseiter fungieren als Wegbereiter kultureller Innovation.[1] Er vergleicht dabei die Rolle der Kohlrabiapostel der Weimarer Republik, deren ursprüngliche Außenseiterpositionen in der NS-Zeit mit Vollkornausschuss, Ernährungsreform und Neuorganisation der Hauswirtschaft breite Massen erreichten.[1]
Sußebach wird ebenso unterstellt, den Prenzlauer Berg als Inbegriff eines neuen Spießertums beschrieben zu haben, einem Ort, an dem die Menschen keine Sorgen kennen, solange die Sojamilch für den Kaffee nicht ausgehe und es kein Problem gibt, welches mit Yoga nicht zu lösen wäre.[10] Der Bionade-Biedermeier beschreibt eine moderne Elterngeneration, die vermögend und gebildet ist und das Alternativmilieu salonfähig gemacht hat. „Immer donnerstags kocht ein vietnamesischer EinEuroJobber Thaicurry aus hundertprozentig ökologischem Anbau [– man kann sich so noch einbilden,] verantwortungsvoll, bewusst, entspannt und tolerant zu sein“.[11] Die Bionade wie der zugehörige Lebensstil drückt eine „Authentizitätssehnsucht der Genusselite“ aus.[7] Mit der Fortschrittsidee des Industriellen Zeitalters will sie nichts mehr zu tun haben.[12]
Politische Rolle
Der Grünenpolitiker Jürgen Trittin sieht beim ostentativ vorgelebten Bionade-Biedermeier die Tendenz zum Zeigefinger und Ökospießertum, die den Grünen die Subkultur entzögen, aus der sie kämen.[13] Das Recht auf Stadt wird mittlerweile auch gegen diese Schichten eingefordert[14] und unter anderem eine Segregation durch Klimaschutz postuliert, die energetische Modernisierung befördere die Mietpreiserhöhungen. [15] Claudia Roth beklagte 2015 bei einem Symposium der Münchener Rück einen Rückzug in den Bionade-Biedermeier.[16] Umgekehrt wurde 2011 die grüne Wählerschaft in einem Strategiepapier des CDU-MdB Matthias Zimmer als Bionade-Bourgeoisie bezeichnet, die sich vor allem bemühe, etwa im Frankfurter Nordend, den Zuzug unerwünschter sozialer Schichten zu vermeiden.[17] Zimmer empfahl, die Grünen vor allem als Lifestyle- und Luxusphänomen zu thematisieren.[17]
Das Milieu in Film und Kunst
Der Begriff wie das damit beschriebene Milieu wurde mehrfach als Hintergrund der Arbeiten junger Berliner Filmemacher erwähnt. Ein Interview mit den Dokumentarfilmern Marc Bauders und Dörte Frankes in einem englischen Sammelband zur sozialen Gerechtigkeit in Deutschland wurde unter die programmatische Überschrift Social Consciousness in the Bionade-Biedermeier (Gesellschaftliches Bewusstsein im BB) gestellt.[18] Bei Sommer vorm Balkon von Andreas Dresen wurde eine an den üblichen Klagen über Gentrifizierung erstaunlich desinteressierte Sichtweise konstatiert.[19] Mittlerweile fordern Seminare und Vorträge auch Gegenmodelle zum Bionade-Biedermeier[20][21] oder nehmen ihn zum Anlass von Kabarettveranstaltungen und Stadtführungen.[22]
Verlierer und Gewinner
Im vom Spiegel-Erben Jakob Augstein herausgegebenen Freitag wurde mit dem Begriff gegen das Jubiläum der in Berlin erscheinenden taz polemisiert. [23] „Aus allen Teilen der Republik kamen die guten Menschen, um ihrer guten Zeitung zum Jubiläum zu huldigen“ und im Berliner Haus der Kulturen der Welt das Bionade-Biedermeier zu zelebrieren. Es sei klar wer damit nicht gemeint ist: Hartz-IV- Niedriglöhner und Menschen in prekären Arbeits- und Lebensbedingungen.[23]
Der Begriff gilt ebenso als Beleg der Kommerzialisierung eines ehemaligen Szeneviertels, wo Aspekte der linksalternativen Szene mittlerweile zum Mainstream gehören.[3][8] Dabei habe sich aber nicht das Proletariat, sondern die Bohème als siegreiche Klasse erwiesen.[24] Christiane Rösinger bezog den Bionade-Biedermeier auf den international gebräuchlichen Begriff der Bobos – den durchaus auch konservativ wählenden bourgeoisen Bohémiens.[25] Prenzlauer Berg sei ein Ghetto geworden, das ohne Zaun auskomme. Die neubürgerlichen Lebensformen dienen nicht nur als Selbstvergewisserung, sondern auch zur kulturellen Abgrenzung.[8]
Die zeitliche Popularität der Bionade half den Herstellern nicht, das Unternehmen selbstständig zu halten – im Gegensatz beispielsweise zu Red Bull. Die Bionade GmbH wurde Bestandteil des Radeberger-Konzerns, der 2010 den Vertrieb übernahm.[26] Die Diskursbrause habe nicht gehalten, was sie versprochen habe.[27] Möglicherweise drohe dem Bionade-Biedermeier die Ablösung durch den „Rhabarberschorlen-Rokoko“.[28]
Einzelnachweise
- ↑ a b c Jörg Albrecht (Leipzig): Vom „Kohlrabiapostel“ zum „Bionade-Biedermeier“. In: Martina Löw (Hrsg.): Vielfalt und Zusammenhalt: Verhandlungen des 36. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bochum und Dortmund 2012, Teil 1 Campus Verlag, 2014. Campus Verlag, 2014, ISBN 978-3-593-50082-9 (books.google.com [abgerufen am 27. September 2015]).
- ↑ Ricarda Pätzold: Tischlein, deck dich! Über städtische Gastronomielandschaften und was Stadtplanung damit zu tun haben könnte. In: Manfred Schrenk, et al. (Hrsg.): Re-Mixing the City. REAL CORP Proceedings 2012. 2012, S. 911–921.
- ↑ a b c Brenda Strohmaier: Wie man lernt, Berliner zu sein: Die deutsche Hauptstadt als konjunktiver Erfahrungsraum. Campus Verlag, 2014, ISBN 978-3-593-50184-0 (books.google.com [abgerufen am 27. September 2015]).
- ↑ a b Süddeutsche.de/gal/mikö/rus: Nationalklischees – So sehen die Briten die neuen Deutschen. 19. September 2012, abgerufen am 28. September 2015.
- ↑ Philip Oltermann, Garry Blight, Ulli Lust: Germany: the new stereotypes, from Angry Citizens to Bossy Ossi. In: The Guardian. ISSN 0261-3077 (online [abgerufen am 28. September 2015]).
- ↑ a b Charlotte Förster, Justus Loring: Der moderne Spießer: Beobachten, erkennen, bestimmen. Zitate: "Der Biedermeier ist die Blütezeit des Spießertums, lediglich die Bionade fehlt noch". Tropen, 2014, ISBN 978-3-608-10652-7 (books.google.com [abgerufen am 28. September 2015]).
- ↑ a b Kathrin Hartmann: Ende der Märchenstunde: Wie die Industrie die Lohas und Lifestyle-Ökos vereinnahmt. Karl Blessing Verlag, 2010, ISBN 978-3-641-03632-4 (books.google.com [abgerufen am 27. September 2015]).
- ↑ a b c Referenzfehler: Ungültiges
<ref>
-Tag; kein Text angegeben für Einzelnachweis mit dem Namen :2. - ↑ Von Thomas Fischermann: Gibt es einen German Dream? In: Zeit Online. 31. August 2012, abgerufen am 27. September 2015.
- ↑ Juliane Wiedemeier: Bye Bye Bio-Biotop – Prenzlauer Berg Nachrichten. In: prenzlauerberg-nachrichten.de. 7. November 2012, abgerufen am 26. September 2015.
- ↑ Veronika Immler: Die Monster anderer Eltern: Von Sandkastenterroristen, Schulhofmonstern und anderen Nervensägen aus der erziehungsfreien Zone. MVG Verlag, 2012, ISBN 978-3-86415-313-6 (books.google.com [abgerufen am 27. September 2015]).
- ↑ Michael Miersch, Henryk M. Broder, Josef Joffe, Dirk Maxeiner: Früher war alles besser: Ein rücksichtsloser Rückblick. Albrecht Knaus Verlag, 2010, ISBN 978-3-641-05089-4 (books.google.com [abgerufen am 27. September 2015]).
- ↑ Jürgen Trittin: Stillstand made in Germany: Ein anderes Land ist möglich! Gütersloher Verlagshaus, 2014, ISBN 978-3-641-14745-7 (books.google.com [abgerufen am 27. September 2015]).
- ↑ Christoph Twickel: Recht auf Stadt. In: Archplus. 44 (2011) Nr.201/202, S.92–95, Abb. ISSN 0587-3452
- ↑ Reinhard Jellen: Lifestylepark für die Bionaden-Bourgoisie. In: Telepolis. Abgerufen am 27. September 2015.
- ↑ Münchener Rück Stiftung – Machtstrukturen zwischen Anspruch und Wirklichkeit Tu was! Über Macht und Ohnmacht des Einzelnen Dialogforum am 6. Mai 2015. In: www.munichre-foundation.org. Abgerufen am 27. September 2015.
- ↑ a b Tobias Rösmann: Geheimpapier CDU-Mann rechnet mit „Bionadebourgeoisie“ ab. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 25. Oktober 2011, ISSN 0174-4909 (online [abgerufen am 28. September 2015]).
- ↑ Jill E. Twark, Axel Hildebrandt: Social Consciousness in the Bionade-Biedermeier: An Interview with Filmmakers Marc Bauder and Dörte Franke. Envisioning Social Justice in Contemporary German Culture. Boydell & Brewer, 2015, ISBN 978-1-57113-569-8 (books.google.com [abgerufen am 27. September 2015]).
- ↑ Encounters on a Street Corner: Sommer vorm Balkon and the Return of the Berlin Film / by Mila Ganeva | TRANSIT University of Berkeley, Califonia, Wiedergabe einer Präsentation an der Konferenz Prises de Rue – Street Takes: Streets and Roads in European Cinema, Montreal, 16.–18. September 2008. In: transit.berkeley.edu. Abgerufen am 27. September 2015.
- ↑ Gegenmodelle zum Bionade-Biedermeier Rohnstock Biografien Samstag, 24. März 2012, 11–15 Uhr, Geschichte und Geschichten vom Prenzlauer Berg. Abgerufen am 27. September 2015.
- ↑ Parteien, Proteste und „Bionade-Biedermeier“ – linke Projekte und linke Milieus Bildungsurlaubs-Wochenseminar vom 20. bis 24. Juni 2011 Gustav Heinemann Bildungsstätte Bad Malente
- ↑ Leidender Moralist arbeitet sich durch das Bionade-Biedermeier. In: Die Welt. 20. Mai 2008, abgerufen am 27. September 2015.
- ↑ a b Peter Nowak: Das gute Leben der Bionade-Biedermeier. In: Der Freitag. ISSN 0945-2095 (online [abgerufen am 26. September 2015]).
- ↑ Dirk Maxeiner, Michael Miersch: Alles grün und gut? Eine Bilanz des ökologischen Denkens. Albrecht Knaus Verlag, 2014, ISBN 978-3-641-14310-7 (books.google.com [abgerufen am 27. September 2015]).
- ↑ Referenzfehler: Ungültiges
<ref>
-Tag; kein Text angegeben für Einzelnachweis mit dem Namen :4. - ↑ Ende einer Ära: Bionade nur noch ein Getränk von vielen. In: Die Presse. 2012, abgerufen am 27. September 2015.
- ↑ Jana Petersen: Bionade, die Diskurs-Brause: Mit Bedeutung versetzte Limonade. In: die tageszeitung. (online [abgerufen am 27. September 2015]).
- ↑ Die Ära des „Rhabarberschorlen-Rokoko“. In: Schwäbische Zeitung. 3. Juni 2011, abgerufen am 27. September 2015.