Anspruch auf Strafverfolgung Dritter
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts besteht in bestimmten Fallgruppen ein Rechtsanspruch auf Strafverfolgung. Begonnen hat diese Rechtsprechung mit dem Nichtannahmebeschluss im Fall Tennessee Eisenberg.[1] Bis dahin hatten die Verletzten einer Straftat bzw. deren Hinterbliebene nach ständiger Rechtsprechung in allen Fallgestaltungen durchwegs nur ein sog. Reflexrecht. Es handelt sich hierbei um eine Fortbildung des Rechts im Sinne des § 132 IV GVG, also mithin um Richterrecht.[2]
Es ging in der Tennessee-Eisenberg-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts um einen Polizeieinsatz in Regensburg, bei dem ein Mensch durch Schussverletzungen zu Tode kam. Es wurde dabei erstmals den Hinterbliebenen ein echter Rechtsanspruch auf effektive Strafverfolgung der Polizeibeamten zugebilligt. Dieser Rechtsanspruch besteht nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts insbesondere in der Fallgruppe, in der ein Amtsträger verdächtigt wird, in Ausübung des ihm anvertrauten öffentlichen Amtes eine Straftat begangen zu haben. Dieser Rechtsanspruch besteht aber auch, wenn die Verletzten bzw. deren Hinterbliebene die Verletzung von höchstpersönlichen Rechtsgütern des Verletzten geltend machen können (dies betrifft insbesondere Tötungshandlungen) oder wenn sich der Verletzte in einem besonderen Obhutsverhältnis gegenüber der öffentlichen Hand befindet.
Begründet wird diese Fallgruppe der effektiven Strafverfolgung von Amtsträgern damit, dass unter allen Umständen bereits der Anschein vermieden werden müsse, gegen einen Amtsträger werde weniger intensiv strafrechtlich ermittelt als gegen jeden anderen Staatsbürger, der einer Straftat verdächtigt wird.[3][4][5][6]
Vorläufer in der Rechtsprechung
Vorläufer dieser Rechtsprechung ist eine Entscheidung des EGMR in Straßburg aus dem Jahr 2001.[7] Danach sind die Mitgliedsstaaten verpflichtet, wirksame amtliche Ermittlungen anzustellen, insbesondere wenn sich der Verdacht gegen Repräsentanten des Staates richtet.[8]
Vorläufer in der juristischen Literatur
Als Vorläufer der grundlegenden Tennessee-Eisenberg-Entscheidung in der juristischen Fachliteratur sind insbesondere zu nennen die Aufsätze von Schöch,[9] Ruffert,[10] Weigend[11] Stern[12] und Voßkuhle/Kaiser.[13] In diesen Aufsätzen wurde das Pro und Contra eines Rechtsanspruchs auf Strafverfolgung in Vorbereitung der Tennessee-Eisenberg-Entscheidung eingehend erörtert. Hierbei ist insbesondere die Bedeutung des Aufsatzes von Voßkuhle/Kaiser hervorzuheben, weil es sich bei dem Mitautor Andreas Voßkuhle um den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts und gleichzeitig um einen der Richter handelt, die die Tennessee-Eisenberg-Entscheidung erlassen haben.
Tennessee-Eisenberg-Entscheidung
Die grundlegende Tennessee-Eisenberg-Entscheidung wurde von der 1. Kammer des Zweiten Senats erlassen. Danach änderte sich die Geschäftsverteilung innerhalb des Zweiten Senats. Zuständig für Verfassungsbeschwerden nach Klageerzwingungsverfahren ist nunmehr die 3. Kammer des Zweiten Senats. Die 3. Kammer führt die von der 1. Kammer begonnene Rechtsprechung seither inhaltsgleich fort.
Der prozessuale Verfahrensgang war folgender: Auf die Strafanzeige wegen fahrlässiger Tötung wurde gegen die Polizeibeamten, die die tödlichen Schüsse abgegeben hatten, Ermittlungsverfahren eröffnet und der Sachverhalt von Amts wegen von der Staatsanwaltschaft aufgeklärt. Schließlich stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren gem. § 170 Abs. 2 StPO ein. Nach dem erfolglosen Beschwerdeverfahren wurde ein ebenso erfolgloses Klageerzwingungsverfahren durchgeführt. Die Verfassungsbeschwerde richtete sich sodann gegen den ablehnenden Bescheid, der den Antrag auf Erzwingung der öffentlichen Klage zurückgewiesen hatte.
Das Bundesverfassungsgericht gewährte den Beschwerdeführern einen Rechtsanspruch auf Strafverfolgung der Polizeibeamten, die die tödlichen Schüsse abgegeben hatten. Als Grundlage hierfür postulierte es drei Fallgruppen, in denen ein solcher verfassungsrechtlicher Anspruch bestehen könne:
- erhebliche Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung und die Freiheit der Person,
- Delikten von Amtsträgern,
- Straftaten, bei denen sich die Opfer in einem besonderen Obhutsverhältnis zur öffentlichen Hand befinden.
Dieser Anspruch war aber nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts in vorliegendem Fall durch die Einleitung des Ermittlungsverfahrens und die Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen erfüllt worden. Aus diesem Grunde wurde die Verfassungsbeschwerde als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen.
Nachfolgende gleichlautende Entscheidungen der 3. Kammer
Demselben Schema folgten auch drei weitere Entscheidungen der 3. Kammer: Zwar haben die Beschwerdeführer einen Rechtsanspruch auf Strafverfolgung der Amtsträger, dieser Anspruch sei aber dadurch erfüllt worden, dass die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen die beschuldigten Amtsträger durchgeführt und den Sachverhalt von Amts wegen aufgeklärt habe.
Entscheidung im Fall Jenny Böken
Hier richtete sich das Ermittlungsverfahren wegen fahrlässiger Tötung gegen den Schiffsarzt der Gorch Fock. Der Schiffsarzt, auch er Amtsträger, sei strafrechtlich verantwortlich für den Unfalltod der Soldatin Jenny Böken gewesen.[14]
Entscheidung im Fall „Lokalderby“
Hier richtete sich das Ermittlungsverfahren auf einen Polizeieinsatz nach einem Fußball-Lokalderby in München. Es war zu Rangeleien zwischen Polizeibeamten und Fußballzuschauern gekommen.[15]
Entscheidung im Fall Luftangriff bei Kundus
Durch einen Bundeswehreinsatz waren bei dem Luftangriff bei Kundus Zivilisten zu Tode gekommen.[16]
Einzelnachweise
- ↑ Beschluss des BVerfG vom 26. Juni 2014, 2 BvR 2699/10 (Tennessee Eisenberg)
- ↑ Allgemein zur gebotenen Fortbildung des Rechts vgl. z. B. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Kommentar zur Zivilprozessordnung, 63. Auflage 2005, Rdn. 7 zu § 132 GVG.
- ↑ Beschluss des BVerfG vom 26. Juni 2014, 2 BvR 2699/10, Rn. 11
- ↑ Beschluss des BVerfG vom 6. Oktober 2014, 2 BvR 1568/12 (Gorch Forck) Rn. 12
- ↑ Beschluss des BVerfG vom 23. März 2015, 2 BvR 1304/12 (Lokalderby) Rn. 16
- ↑ Beschluss des BVerfG vom 19. Mai 2015, 2 BvR 987/11 (Kunduz) Rn. 22
- ↑ EGMR Urteil vom 20. Mai 1999, Az. 21554/93, NJW 2001, 1991
- ↑ NJW-Spezial, 2015, 57
- ↑ Schöch: Die Rechtsstellung des Verletzten im Strafverfahren. NStZ 1984, 385.
- ↑ Ruffert: Die EMRK und innerstaatliches Recht. EuGRZ 2007, 345.
- ↑ Weigend: Die Strafe für das Opfer? – Zur Renaissance des Genugtuungsgedankens im Straf- und Strafverfahrensrecht. RW 2010, 39
- ↑ Stern: Die Schutzpflichtfunktion der Grundrechte. DÖV 2010, 241
- ↑ Voßkuhle/Kaiser: Der allgemeine Justizgewährungsanspruch. JuS 2014, 312.
- ↑ Beschluss des BVerfG vom 6. Oktober 2014, 2 BvR 1568/12 (Gorch Forck), NJW 2015, 150.
- ↑ Beschluss des BVerfG vom 23. März 2015, 2 BvR 1304/12 (Lokalderby).
- ↑ Beschluss des BVerfG vom 19. Mai 2015, 2 BvR 987/11 (Kunduz).