Sonderforschungsbereich 933 „Materiale Textkulturen“
Der Sonderforschungsbereich 933 „Materiale Textkulturen“ ist ein an der Universität Heidelberg angesiedelter Sonderforschungsbereich (SFB) der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mit dem Untertitel Materialität und Präsenz des Geschriebenen in non-typographischen Gesellschaften. Der 2011 eingerichtete Forschungsbereich beschäftigt sich mit der Erforschung von den verschiedenen Schriftträgern und der aufgebrachten Schrift in Kulturen vor der Erfindung und Etablierung des Buchdruckes in Europa. Zentrale Forschungskulturen sind der Mittelmeerraum, Vorderasien und Europa, der zeitliche Rahmen umfasst dabei einen Bereich von der Entwicklung der Schrift am Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. in Mesopotamien und Altägypten bis zur Ablösung händischer durch mechanische Verfahren mit der Durchsetzung des Buchdruckes in Europa im 15. Jahrhundert. Sein Forschungsprogramm folgt dem Material Turn in den Geistes- und Kulturwissenschaften und misst der Erforschung der Materiellen Kultur besondere Bedeutung zu. Die jeweils spezifischen Ansätze und Forschungsergebnisse der am Text orientierten und der am Objekt ausgerichteten Disziplinen werden hierbei zusammengeführt[1].
Der SFB 933 ist derzeit einer von nur zehn geisteswissenschaftlichen Sonderforschungsbereichen der DFG[2] und wurde im Mai 2015 in einer zweiten Antragsphase bis 2019 verlängert. Beteiligt sind etwa 70 Wissenschaftler aus 18 geisteswissenschaftlichen Fachrichtungen[3] der Universität Heidelberg sowie der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg. Der SFB ist hierbei deutlich fakultätsübergreifend[4]. Im Bereich der Digital Humanities besteht eine enge Kooperation mit dem Universitätsrechenzentrum und der Universitätsbibliothek Heidelberg[5]. Nach Auslaufen der Förderung durch die DFG sollen Teile der Strukturen des SFB in die universitären Strukturen überführt werden.
In ihm sind viele Kleine Fächer vertreten, zu deren Sichtbarkeit und struktureller Stärkung er beiträgt [6].
Sprecher des SFB war zunächst der Assyrologe Markus Hilgert, nach dessen Wechsel auf die Position des Direktors des Vorderasiatischen Museums Berlin der Mediävist Ludger Lieb.
Zielsetzungen und Leitideen
Als theoretischer Überbau wurden drei zentrale Zielsetzungen für den SFB 933 entwickelt:[7]
- die Generierung umfangreicher Grundlagenforschung und problembezogener Quellenerschließung in den beteiligten Disziplinen
- eine inhaltliche, epistemologische und methodische Weiterentwicklung in den text-interpretativen historischen Kulturwissenschaften
- Dabei ergibt sich eine inhaltliche Weiterentwicklung aus der systematischen Erschließung, Dokumentation und Analyse der materialen Präsenz des Geschriebenen in verschiedenen Praxisfeldern solcher Gesellschaften, in denen keine Verfahren der massenhaften Produktion und Distribution von Geschriebenem verfügbar oder verbreitet sind („non-typographische Gesellschaften“) sowie
- der auf dieser Evidenz basierenden Darstellung derjenigen Rezeptionspraktiken, deren Vollzug am Geschriebenen aufgrund dieser seiner materialen Präsenz jeweils wahrscheinlich ist.
- Eine epistemologische Weiterentwicklung wird erreicht durch die Anerkennung und konsequente Zugrundelegung der Prämisse, dass das Geschriebene keinen immanenten, unveränderlichen Sinngehalt besitzt, sowie durch
- die theoretische und methodologische Auseinandersetzung mit dem grundlegenden hermeneutischen Problem, das sich daraus für die Forschungspraxis in den text-interpretativen historischen Kulturwissenschaften ergibt.
- eine langfristige und strukturell verankerte Förderung der verschiedenen Fachkulturen durch einen disziplinübergreifenden, kulturtheoretisch ausgerichteten Forschungsansatz.
In der zweiten Phase des SFB werden diese Ziele weiter verfolgt, die Ziele aber auch weiter gefasst. Es werden weitere Räume, Kulturen und Zeitphasen einbezogen. Diese zum Teil geschärfte Perspektive wird vom SFB wie folgt beschrieben:
- Diachrone Perspektive: Der SFB verstärkt die Beobachtung von Wandel, Persistenz und Umbruch und geht teilprojektübergreifend den Fragen nach, wie die Veränderungen von Praktiken und Materialien sich wechselseitig bedingen (insbesondere im Übergang von non-typographischen zu typographischen Gesellschaften) und wie ein einzelnes Artefakt im Laufe seiner Überlieferungsgeschichte ganz unterschiedliche Praktiken verursacht und erfährt (‚Artefaktbiographien‘).
- Akteur-Netzwerke: Die Identifizierung und Rekonstruktion von Netzwerken wird vorangetrieben. Besondere Berücksichtigung erfährt, dass oft mehrere menschliche Akteure ‚arbeitsteilig‘ verschiedene Praktiken vollziehen und schrifttragende Artefakte selbst Aktanten in Netzwerken sind.
- Schrift und Bild – Schrift als Bild: Kunstwissenschaftliche und ästhetische Aspekte sowie Text-Bild-Artefakte bilden einen weiteren Schwerpunkt. Verstärkt wird den Phänomenen nachgegangen, dass Schriftzeichen Bildcharakter haben, dass Inschriften oft weniger hermeneutisch, sondern ästhetisch wirken und dass sie öfter eine Nähe zu Ornament und Dekor aufweisen.
- Sakrale Raumarrangements: Einen inhaltlichen Schwerpunkt bilden schrifttragende Artefakte in und an sakralen Räumen. Reliquienschreine, Kirchenräume, Gräber sowie ganze Totenstädte ermöglichen eine Rekonstruktion der Praktiken, die sich auf die dort zu findenden Texte beziehen.
- Potential der Metatexte: Für die Rekonstruktion von materialen Textkulturen sollen verstärkt Texte genutzt werden, in denen schrifttragende Artefakte selbst zum Gegenstand werden (‚Metatexte‘). Metatextuell gewonnene Beobachtungen sind mit jenen Beobachtungen zu vergleichen, die anhand tatsächlich überlieferter Artefakte gemacht werden. Sodann ist die poetische und imaginäre Aussagekraft gerade auch der phantastisch-irrealen Metatexte für materiale Textkulturen zu untersuchen.
- Theoretisch-methodische Weiterentwicklung: Die im SFB 933 beständig gepflegte theoretisch-methodische Reflexion soll in zwei Richtungen besonders vorangetrieben werden. Erstens erproben einige Teilprojekte neue naturwissenschaftliche und computergestützte Analyseverfahren. Zweitens entstehen neue Konzeptualisierungen des Forschungsprogramms (z.B. historische Textwissenschaft) oder Korrelationen mit rezenten Forschungsparadigmen (z.B. Memoria, Körper, Self-Fashioning).
Teilprojekte
Der SFB ist in 23 Teilprojekte unterteilt (Liste der Teilprojekte des SFB 933 in der ersten und zweiten Förderphase).
Gastprofessoren und Gastwissenschaftler
Das Teilprojekt "Beschriebenes und Geschriebenes im städtischen Raum der griechisch-römischen Antike und des Mittelalters" (A1) besuchte der Althistoriker Andreas Bendlin von der University of Toronto im Frühjahr 2012. Weiterhin hat im Frühjahr 2014 Hans Ulrich Gumbrecht von der Stanford University als Gastprofessor zum Projekt beigetragen.
Publikationen
Publikationsreihe Materiale Textkulturen
Die Forschungsergebnisse des SFB werden vor allem, aber nicht nur in einer eigenen Reihe, die sowohl Sammelbände als auch Monografien umfasst, publiziert. Publikationssprachen sind Deutsch und Englisch. Die Reihe erscheint im Verlag Walter de Gruyter unter der Lizenz CC-BY-NC-ND im Open Access. Sie trägt denselben Namen wie der SFB, Materiale Textkulturen (MTK).[8] Bisher sind die folgenden Bände erschienen:
- MTK 1: Michael R. Ott, Rebecca Sauer, Thomas Meier (Herausgeber): Materiale Textkulturen. Konzepte – Materialien – Praktiken. de Gruyter, Berlin-Boston-München 2015, ISBN 978-3-11-037128-4. (OpenAccess)
- MTK 2: Wilfried E. Keil, Tobias Frese, Kristina Krüger (Herausgeber): Verborgen, unsichtbar, unlesbar – zur Problematik restringierter Schriftpräsenz. de Gruyter, Berlin-Boston-München 2014, ISBN 978-3-11-035304-4. (OpenAccess)
- MTK 3: Friederike Elias, Albrecht Franz, Henning Murmann, Ulrich Wilhelm Weiser (Herausgeber): Praxeologie. Beiträge zur interdisziplinären Reichweite praxistheoretischer Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften. de Gruyter, Berlin-Boston-München 2014, ISBN 978-3-11-037014-0. (OpenAccess)
- MTK 4: Julia Becker, Tino Licht, Stefan Weinfurter (Herausgeber): Karolingische Klöster. Wissenstransfer und kulturelle Innovation. de Gruyter, Berlin-Boston-München 2015, ISBN 978-3-11-037123-9. (OpenAccess)
- MTK 5: Joachim Friedrich Quack, Daniela Christina Luft (Herausgeber): Erscheinungsformen und Handhabungen Heiliger Schriften. de Gruyter, Berlin-Boston-München 2014, ISBN 978-3-11-037124-6. (OpenAccess)
- MTK 6: Annette Kehnel, Diamantís Panagiotópoulos (Herausgeber): Schriftträger – Textträger. Zur materialen Präsenz des Geschriebenen in frühen Gesellschaften. de Gruyter, Berlin-Boston-München 2014, ISBN 978-3-11-037130-7. (OpenAccess)
- MTK 7: Carla Meyer, Sandra Schultz, Bernd Schneidmüller (Herausgeber): Papier im mittelalterlichen Europa. Herstellung und Gebrauch. de Gruyter, Berlin-Boston-München 2014, ISBN 978-3-11-037136-9. (OpenAccess)
- MTK 8: Susanne Enderwitz, Rebecca Sauer (Herausgeber): Communication and Materiality Written and Unwritten Communication in Pre-Modern Societies. de Gruyter, Berlin-Boston-München 2015, ISBN 978-3-11-037174-1. (OpenAccess)
- MTK 10: Christian D. Haß, Eva Maria Noller (Herausgeber): Was bedeutet Ordnung – was ordnet Bedeutung?. de Gruyter, Berlin-Boston-München 2015, ISBN 978-3-11-041432-5. (OpenAccess)
Publizierte Dissertationsprojekte im Rahmen des SFB
- Natalie Maag: Alemannische Minuskel (744-846 n. Chr.). Frühe Schriftkultur im Bodenseeraum und Voralpenland (Quellen und Forschungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters; 18), Stuttgart: Hiersemann 2014 (Rezension)
E-Journal: "Material Text Culture Blog"
Das "Material Text Culture Blog" (ISSN: 2195-075X) ist eine nicht-periodische Online-Publikation des SFB 933 die in der Deutschen Nationalbibliothek bibliographiert wird (Bericht in: AWOL - The Ancient World Online.).
Rezeption
Online-Berichte
- Rolf Brockschmidt: Frühes Lesen auf der Agora, in: Der Tagesspiegel vom 19.9.2013.
- DFG fördert Forschungsverbund zum Thema „Materiale Textkulturen“, in: Deutsche Orient-Gesellschaft online vom 25.Mai 2011.
- Wie Klöster im Mittelalter Wissen vermittelt haben, in: Archäologie online vom 26.10.2012.
- Christian Badura: Tagungsbericht: Was bedeutet Ordnung? Was ordnet Bedeutung? Überlegungen zu bedeutungskonstituierenden Ordnungsleistungen in Geschriebenem., in: Mommsen-Gesellschaft online (ohne Datumsangabe, abgerufen am 16.11.2015)
- Tagung zur Geschichte des Papiers im Mittelalter, in: Archäologie online vom 8.11.2013.
- "Materiale Textkulturen": Vom antiken Papyri bis zur beschrifteten Hundeleine, in: Damals. Das Magazin für Geschichte 11, 2015.
- Felix Maier, Leonie Ries u. Max Wetterauer: Tagungsbericht: 800 Jahre "Welscher Gast". Neue Fragen zu einer alten Verhaltenslehre in Wort und Bild, 07.05.2015 – 09.05.2015 Heidelberg, in: H-Soz-Kult, 08.08.2015, online.
- Artefakte, Manuskripte und Wissensbestände in Bewegung – Praktiken materieller Mobilität in vormodernen Kulturen. Zweiter gemeinsamer Workshop des SFB 933 „Materiale Textkulturen“ und des SFB 980 „Episteme in Bewegung“, in: SFB 980 online (ohne Datumsangabe, abgerufen am: 16.11.2015).
Radio-Features und Podcasts
- Campus-Report Uni-Radio Baden: Die DFG fördert den neuen Sonderforschungsbereich 933, in: Radio Regenbogen am 20. Juli 2011 Digitalisat in der Deutschen Digitalen Bibliothek.
- 5412 Jahre Vertrauen in Materialität - Prof. Dr. Markus Hilgert im Gespräch (mit dem Mediensoziologen Prof. Dr. Udo Thiedeke), in: Das Soziologische Duett am 13.08.2012 (Online).
Weblinks
- Homepage des SFB
- SFB 933 auf der Webseite der DFG
- Präsentation der Buchreihe Materiale Textkulturen beim Verlag de Gruyter
- Eröffnung des Sonderforschungsbereichs „Materiale Textkulturen“
- SFB „Materiale Textkulturen“ wird seine erfolgreiche Arbeit fortsetzen
Einzelnachweise
- ↑ Ott, Sauer und Meier (2015): Materiale Textkulturen. Konzepte-Materialien-Praktiken. Eine Gebrauchsanweisung
- ↑ Aktuelle Zahlen der DFG (Quelle: online). Da geistes- und sozialwissenschaftliche SFBs in einer Kategorie gefasst werden (in die auch Ökonomie, Psychologie, Linguistik und spezielle Fragen der Statistik fallen) kann die Zählung hier je nach Standpunkt des Auswertenden abweichen (Gesamtmenge: 22 SFB´s in dieser Kategorie und 3 Transregios).
- ↑ Stand November 2015: 28 TeilprojektleiterInnen aus 18 Fächern in 19 wissenschaftlichen Teilprojekten (darunter je 3 Unterprojekte in A01 und A03 und 2 Unterprojekte in C02) mit 34 MitarbeiterInnen (19 PostDocs und 15 DoktorandInnen), d.h. insgesamt 62 WissenschaftlerInnen zuzüglich der MitarbeiterInnen der Grundausstattung. Quelle: Liste Teilprojekte und Mitarbeiter des SFB 933 (online)
- ↑ Beteiligt sind fünf Fakultäten der Universität Heidelberg. (Quelle: online)
- ↑ SFB 933 TP INF (Quelle:online)
- ↑ Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg (Hg.): Expertenkommission zur Situation der Kleinen Fächer in Baden-Württemberg. Empfehlungen für ein Zukunftsprogramm ‚Kleine Fächer‘ in Baden-Württemberg, Stuttgart 2015. Redaktion: Markus Hilgert und Michaela Böttner. (Online als PDF)
- ↑ Zielsetzung & Leitideen auf der Webseite des SFB 933
- ↑ Directory of Open access Books