Interpretation (Musik)
Interpretation bezeichnet in der Musik in erster Linie die Aufführung eines Werkes, v.a. unter mit anderen Aufführungen vergleichendem Gesichtspunkt.
Daneben gibt es die Bedeutung als erläuternder Kommentar zu einer Komposition, der über die Werkanalyse hinaus geht.
Interpretation als Darbietung von Musik
Unter Interpretation versteht man in der Musik vor allem die Ausführung einer in Notenschrift (vgl. Notation) fixierten Komposition durch den oder die Interpreten (Sänger, Instrumentalisten). Es handelt sich dabei um einen Vorgang, der der so genannten klassischen Musik eigen ist und so in keiner anderen Musikkultur (außereuropäische Musik, Popmusik, Jazz, Folkolore usw.) bekannt ist. Der Grund liegt darin, dass in anderen Musikkulturen keine Form der Darstellung von Musik angestrebt wird, die an Exaktheit der Notenschrift entspricht. Das hat zur Folge, dass es hier in einer musikalischen Darbietung neben dem überlieferten Anteil immer auch einen spontanen Anteil gibt, der im Moment der Darbietung ergänzt wird (vgl. Improvisation), oder bei dem es sich um einen vom ausführenden Musiker selbst vorbereiteten Anteil handelt (Arrangement). Insofern unterscheiden sich "Coverversionen" von "Interpretationen".
Der klassische Interpret hingegen führt in aller Regel in einer musikalischen Darbietung genaueste Vorgaben hinsichtlich Tonhöhen und Tondauern aus und hat praktisch keinen Raum für eigene Ergänzungen. Persönliches Profil erhält die Interpretation durch Entscheidungen, die an der Stelle getroffen werden, an der die Notation keine exakten Angaben machen kann: Das sind u.a. Spieltempo (genaueste Tempoangaben mithilfe des Metronoms erwiesen sich als nicht durchsetzungsfähig genug, um dem Interpreten diese Entscheidung abzunehmen), feine Tempoveränderungen im Laufe einer Darbietung (Rubato), Charakterisierung des Rhythmus durch minimale Abweichungen von der mathematisch exakten Ausführung, Gestaltung der jeweiligen Klangfarbe. Zusammengenommen ergibt sich ein kreativer Spielraum, wie ihn die exakten Vorgaben im Notentext nicht erwarten lassen und die außerordentliche Unterschiede von Interpretationen eines Werkes zulassen.
Eine gelungene Interpretation zeichnet sich dadurch aus, dass sie das volle Klang-, Ausdrucks- und Wirkungspotential des interpretierten Werkes entfaltet. Die Arbeit des Interpreten ist darin der des Schauspielers vergleichbar, wobei die im Notentext fixierten Vorgaben noch enger sind.
Geschichte
Mit zunehmender Differenziertheit der Notation waren bereits seit der Renaissance Musiker als Ausführende exakt vorgebener Stimmen tätig. Anders war die Organisation größerer Besetzungen auch nicht möglich. Allerdings gab es charakteristische Freiräume bezogen auf die Anwendung und Ausführung von Verzierungen sowie auf die Ausführung des Cembalo-Parts im Generalbass-Spiel.
Der Interpret im heutigen Sinne ist weitgehend eine Erfindung des neunzehnten Jahrhunderts. Bis dahin waren Komponisten in aller Regel auch die Interpreten ihrer eigenen Werke (vgl. W.A. Mozart) bzw. populäre Instrumentalisten auch die Komponisten der Werke, die sie darboten (vgl. N. Paganini). Eine Ausnahme stellten die Sänger dar, die als rein ausführende Künstler allerdings nur im Rahmen von Musiktheater zu außerordentlicher Berühmtheit gelangen konnten. Eine Wende für die Instrumentalmusik trat ein, als die bürgerliche Konzertkultur die höfische Musikkultur verdrängte. Hier hielten sich zunehmend bestimmte Komponisten im Repertoire der Konzertprogramme, die Ausführung von Eigenkompositionen nahm entsprechend ab. Mit Clara Schuman, Hans v. Bülow und Joseph Joachim etablierten sich reine Interpreten als bedeutende Musiker ihrer Zeit. Im zwanzigsten Jahrhundert nahm mit dem Überwiegen nichtzeitgenössischer Musik im Konzertrepertoir durch die Verfügbarkeit von Interpretationen in Schallaufzeichnungen (Rundfunk, Schallplatte) die Bedeutung der Interpreten weiter zu, bis sie schließlich zu den eigentlichen Trägern des Musiklebens in der "klassischen Musik" wurden, während sich die Komponisten zunehmend in spezialisierte Konzertreihen o. Festivals abgedrängt sahen (vgl. Donaueschinger Musiktage), in denen gelegentlich auch die Rolle des Interpreten experimentell variiert wurde (vgl. John Cage, Karlheinz Stockhausen, Earle Brown). Die Aufmerksamkeit, die Interpreten wie Yehudi Menuhin und David Oistrach (Violine), Artur Rubinstein und Vladimir Horowitz (Klavier), Maria Callas und Dietrich Fischer-Dieskau (Gesang) oder Dirigenten wie Herbert von Karajan und Leonard Bernstein auf sich zogen, wurde von Komponisten der gleichen Generation nicht mehr erreicht.
In den nachfolgenden Generationen kam es nicht mehr zu solchen alles überragenden Karrieren, da es einerseits zur Stagnation im Repertoire kam - die Werke der zeitgenössischen Komponisten etablierten sich ebensowenig in den Konzertprogrammen wie die "Entdeckung" weniger bekannter Komponisten früherer Epochen (z.B. Muzio Clementi) - andererseits die unbegrenzte Verfügbarkeit mustergültiger Interpretationen als Schallaufzeichnung den Entfaltungsraum jüngerer Interpreten erheblich einschränkten. Die historische Aufführungspraxis, (N. Harnoncourt, J. E. Gardiner) sorgte da nur vorübergehend für einen neuen Anschub.
Interpretation als Schreiben über Musik
Weitgehend in der Musikwissenschaft von Bedeutung ist Interpretation als erläuternder Kommentar zu einem Werk der "klassischen Musik" hinsichtlich seines Aufbaus (Werkanalyse), seines Ausdrucksgehalts, seiner Wirkung, seines historischen Kontextes und seiner "Aussage". Im Vergleich zur Interpretation literarischer Texte ist ein solcher Kommentar spekulativer oder auf außermusikalische Hinweise angewiesen. Diese können in der Musik selbst gegeben sein, indem sich diese auf einen Text bezieht, dessen Vertonung sie ist (Lied, Oper, Oratorium), oder der als Programm zugrundeliegt (Programmmusik). Dann ist Interpretation in erster Linie eine Darstellung der Wort-Tonbeziehung. In reiner Instrumentalmusik ohne vorgegebene außermusikalische Bezüge (absolute Musik) werden mehr oder weniger konkrete programmatische Andeutungen als Hilfe genommen, um auf einer Vergleichsebene dem Ausdrucksgehalt des interpretierten Musikstücks nahe zu kommen. Ihren Niederschlag findet die Interpretation über die Musikwissenschaft hinaus in Begleittexten zu Kompositionen in Konzertprogrammen oder CD-Booklets.
Geschichte
Eine Wurzel findet die Interpretation als hermeneutischer ("auslegender") Prozess in der Affektenlehre, in der Figurenlehre und in der Nachahmungsästhetik des Barock. Darin wird angenommen, dass bestimmte melodische Wendungen, bestimmte harmonische Folgen oder auch rhythmische Motive Gemütszuständen (Affekten) entsprechen. Aufgabe der Musik sei es, diese Zustände "nachzuahmen". Für nicht anschauliche Begriffe bediente sich der Kompnist u.U. auch eines Symbols in Tönen, einer "Figur". Die theoretische Ausarbeitung der Affektenlehre diente allerdings nicht der "Auslegung" von Musik, sondern als eine theoretische Grundlage für den Komponisten. In der Klassik kam diese Anschauung mehr und mehr außer Gebrauch, da einerseits "Nachahmung" außermusikalischer Sachverhalte nicht mehr als Ziel musikalischen Schaffens angesehen wurde, und auch der Glaube an die Möglichkeit, "Affekte" in musikalischen Formeln gleichsam zu katalogisieren, abnahm.
Im 19. Jahrhundert bildete sich mit dem Interesse an Musik vergangener Epochen die moderne Musikwissenschaft heraus, die ihre Aufgabe nicht mehr im theoretischen Vorbereiten von Musik, sondern mehr in ihrem "Verstehen" sieht. Damit gewann die Affektenlehre als ein Schlüssel zum Verständnis der Musik bis zum Barock und der früheren Klassik wieder an Bedeutung. Ansonsten standen sich zwei Auffassungen gegenüber: Zum einen wurde Musik als autonom verstanden und als letztlich nicht "auslegbar". Entsprechend entwickelten sich sehr differenzierte Analysemethoden, die sich allerdings rein auf musikalische Sachverhalte beziehen Hugo Riemann. Demgegenüber steht die Auffassung, dass Musik durchaus "Sinn-" und "Ideengehalt" besitzt, auch wenn sich dieser nicht so konkret bestimmten musikalischen Mustern zuordnen lässt, wie in der Affektenlehre angenommen (in Anlehnung an Wilhelm Dilthey: Herrmann Kretzschmar). Auch wenn dieser Ansatz immer etwas umstritten blieb, erwies er sich jedoch als hilfreich im Instrumental- oder im allg. Musikinterricht.
Literatur
- Alfred Brendel: Über Musik. Sämtliche Essays und Reden. München 2005
- Heinrich Neuhaus: Die Kunst des Klavierspiels. Bergisch-Gladbach 1967
- Joachim-Ernst Berendt: Das Jazz-Buch. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2005
- Carl Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik. Kassel: Bärenreiter 1978
- Carl Dahlhaus, Hans Heinrich Eggebrecht: Was ist Musik? Wilhelmshaven: Noetzel 1985