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Futurismus

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Der Futurismus war eine aus Italien und Russland stammende avantgardistische Kunstbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts.

Das Gründungsmanifest

Am 20. Februar 1909 publizierte der italienische Dichter Filippo Tommaso Marinetti in der französischen Zeitung Le Figaro sein erstes futuristisches Manifest und gründete damit die futuristische Bewegung.

Inhalt

Das erste futuristische Manifest gliedert sich in drei Teile: Eine Einleitung, 11 Thesen und einen Ausblick. Sehr häufig findet man jedoch nur die 11 Thesen zitiert.

Inhalt dieses ersten Manifestes war eine Aufforderung zum Brechen mit jeglicher Tradition und eine Verherrlichung der Jugend, der Geschwindigkeit, der Gewalt und des Krieges. Jedes Kunstwerk müsse aggressiven Charakter haben. Ein schnelles Auto sei schöner als die Nike von Samothrake. Die Bibliotheken, die Museen und die Akademien seien als Hort des Passatismus (= Gegenbegriff des Futurismus) anzuzünden, zu überfluten oder sonstwie zu zerstören. (Siehe auch der provokative Ausspruch von Pierre Boulez: "Sprengt die Opernhäuser n die Luft!", der eine ähnliche Attitüde aufweist.)

Manifest des Futurismus

  1. Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen, die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit.
  2. Mut, Kühnheit und Auflehnung werden die Wesenselemente unserer Dichtung sein.
  3. Bis heute hat die Literatur die gedankenschwere Unbeweglichkeit, die Ekstase und den Schlaf gepriesen. Wir wollen preisen die angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag.
  4. Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen... ein aufheulendes Auto, das auf Kartäschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.
  5. Wir wollen den Mann besingen, der das Steuer hält, dessen Idealachse die Erde durchquert, die selbst auf ihrer Bahn dahinjagt.
  6. Der Dichter muß sich glühend, glanzvoll und freigebig verschwenden, um die leidenschaftliche Inbrunst der Urelemente zu vermehren.
  7. Schönheit gibt es nur noch im Kampf. Ein Werk ohne aggressiven Charakter kann kein Meisterwerk sein. Die Dichtung muß aufgefasst werden als ein heftiger Angriff auf die unbekannten Kräfte, um sie zu zwingen, sich vor den Menschen zu beugen.
  8. Wir stehen auf dem äußersten Vorgebirge der Jahrhunderte!... Warum sollten wir zurückblicken, wenn wir die geheimnisvollen Tore des Unmöglichen aufbrechen wollen? Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit erschaffen.
  9. Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.
  10. Wir wollen die Museen, die Bibliotheken und die Akademien jeder Art zerstören und gegen den Moralismus, den Feminismus und jede Feigheit kämpfen, die auf Zweckmäßigkeit und Eigennutz beruht.
  11. Wir werden die großen Menschenmengen besingen, die die Arbeit, das Vergnügen oder der Aufruhr erregt; besingen werden wir die vielfarbige, vielstimmige Flut der Revolution in den modernen Hauptstädten; besingen werden wir die nächtliche, vibrierende Glut der Arsenale und Werften, die von grellen elektrischen Monden erleuchtet werden; die gefräßigen Bahnhöfe, die rauchende Schlangen verzehren; die Fabriken, die mit ihren sich hochwindenden Rauchfäden an den Wolken hängen; die Brücken, die wie gigantische Athleten Flüsse überspannen, die in der Sonne wie Messer aufblitzen; die abenteuersuchenden Dampfer, die den Horizont wittern; die breitbrüstigen Lokomotiven, die auf den Schienen wie riesige, mit Rohren gezäumte Stahlrosse einherstampfen und den gleitenden Flug der Flugzeuge, deren Propeller wie eine Fahne im Winde knattert und Beifall zu klatschen scheint wie eine begeisterte Menge....

Zitiert nach Baumgarth, S. 26-27 (s. Literaturangaben)

Ausgangslage

Das erste futuristische Manifest ist in erster Linie als Angriff auf die herrschenden Überzeugungen, als bewusster Tabubruch zu verstehen. Gerade in bezug auf die Kunst hatte die damalige Gesellschaft ziemlich klare Vorstellungen, was richtig und was falsch ist. So bevorzugte man in den bildenden Künsten Porträts, Landschaften und Darstellungen historischer Ereignisse in konventionell-altmeisterischen Manier. Die Klarheit dieser Vorstellungen wurde von den Futuristen als beengend empfunden.

Obschon im Manifest das Neue betont wird und das Manifest - man möchte fast sagen, um jeden Preis - originell sein will, steht es nicht völlig ohne Vordenker in der Geschichte. Deutlich sind etwa die Spuren der Philosophie von Georges Sorel erkennbar - es ist anzunehmen, dass Filippo Tommaso Marinetti ihn gekannt hat.

Der italienische Futurismus vor dem Ersten Weltkrieg

Die Zeit zwischen dem ersten futuristischen Manifest im Jahre 1909 und dem Kriegseintritt Italiens war die eigentliche Blütezeit des italienischen Futurismus.

In der Literatur

Typisch für den Futurismus sind seine Manifeste. Über alles und jedes wurde zunächst ein Manifest verfasst - so etwa auch zur futuristischen Frau. Sehr oft sind jedoch die Manifeste viel radikaler als deren tatsächliche Umsetzung.

Eine Erfindung der Futuristen sind die Parole in libertà - wörtlich zu übersetzen mit Worte in Freiheit: Es handelt sich dabei um Gedichte, die unter Missachtung jeglicher Syntax, Grammatik oder typographischen Regeln verfasst sind und daher mehr an ein Bild voller Buchstaben als an ein Schriftstück im klassischen Sinne erinnern.

Daneben gehörten die aus der Malerei übernommene Technik der Collage und Montage als Ausdruck der modernen Industriegesellschaft und die Simultaneität als Darstellung der Dynamik und Gleichzeitigkeit aller Prozesse in der industriellen Welt zu den literarischen Ausdrucksformen des Futurismus. Die Darstellung der Moderne sollte aber nicht nachahmend naturalistisch, sondern eher überhöht und stilisiert sein.

In der Bildenden Kunst

Große Bedeutung hatten im Futurismus die bildenden Künste: Auch hier forderten die Futuristen eine Abkehr von dem Kult der Vergangenheit, der Nachahmung und demgenüber eine unbedingte Originalität. Klassische Motive - insbesondere die Aktmalerei (welche gemäß dem technischen Manifest von 1910 ebenso widerwärtig und deprimierend ist wie der Ehebruch in der Literatur) - wurden ebenfalls abgelehnt, die Kunstwerke sollten einen Lobpreis auf den Dynamismus und die Bewegung und die Geschwindigkeit sein.

Da futuristische Maler teilweise versuchten, bewegte Gegenstände abzubilden und den Betrachter mitten ins Bild zu setzen, sind manche ihrer Bilder für den uninformierten Betrachter nicht von kubistischen Bilder zu unterscheiden. Allerdings betonten die Futuristen, keine Kubisten zu sein. Der Kubismus versucht nämlich, gleichzeitig alle möglichen Perspektiven eines statischen Gegenstandes zu erfassen, während im Futurismus eben die Bewegung im Vordergrund steht.

Sehr bekannt ist auch eine futuristische Skulptur von Umberto Boccioni: Sie ziert die italienische 20-Eurocent-Münze.

Übriges Wirken

Wie kaum eine andere Kunstbewegung versuchte der Futurismus alle Kunstrichtungen zu beeinflussen: So gab es auch futuristisches Theater, futuristische Musik ja sogar eine futuristische Küche (siehe Artikel in der Süddeutschen Zeitung [1]). Zudem waren die Futuristen auch sehr neugierig auf die neuen Möglichkeiten, die die damals moderne Technik der Kunst eröffnete: So beschäftigten sie sich auch mit Fotografie, Film und entwickelten sogar die ersten elektrischen Musikinstrumente (die sog. "Intonarumori").

Die Futuristen waren auch die ersten, welche die Post als Ausdrucksmittel verwendeten; einige sehen darin einen Vorläufer zur Mail Art.

Der italienische Futurismus nach dem Ersten Weltkrieg

Bereits im ersten futuristischen Manifest von 1909 wurde der Krieg als „einzige Hygiene der Welt“ verherrlicht. Daher erstaunt es nicht, dass die Futuristen ob des Kriegseintritts Italiens begeistert waren. Die meisten Futuristen meldeten sich freiwillig zum Kampf, das künstlerische Schaffen kam fast vollständig zum Erliegen.

Nach dem Krieg erreichte der Futurismus nie wieder die Bedeutung, die er vor dem Krieg hatte. Einerseits kamen einige Künstler durch ihn ums Leben, andererseits waren viele der überlebenden Künstler von der Realität eines modernen Krieges desillusioniert und wandten sich vom Futurismus ab. Einzig Filippo Tommaso Marinetti selber versuchte noch einige Zeit lang, den Futurismus wieder zum Leben zu erwecken - allerdings mit mäßigem Erfolg. Direkt aus dem Futurismus hervor ging jedoch die Stilrichtung der Aeropittura in der Malerei.

Der italienische Futurismus und Faschismus

Schon früh wurde die Frage der Beziehung des Futurismus zum Faschismus aufgeworfen. So stellte etwa der russische Revolutionär Leo Trotzki in seiner Schrift „Literatur und Revolution“ die Theorie auf, dass sich die kleinbürgerlichen Futuristen dem Faschismus angeschlossen hätten, da dort, anders als in Russland, wo der Futurismus schon früh mit dem Bolschewismus sympathisierte, das Proletariat nicht die Macht ergreifen und alle Zwischenschichten auf seine Seite ziehen konnte. Die Anschauung, dass eine Verbindung zwischen den Futuristen und den Faschisten bestand, wird insbesondere dadurch gestützt, dass Filippo Tommaso Marinetti selber betonte, wie viel er zum Aufbau des Faschismus beigetragen habe.

Gerade die Aussage von Marinetti selber ist jedoch mit Vorsicht zu genießen: Marinetti verfolgte damit klare politische Absichten. In einer Mischung aus Naivität und Größenwahn träumte er nämlich davon, Benito Mussolini würde ihm die Macht überlassen, damit er eine „Artokratie“, eine Herrschaft des Künstlers errichten kann. Als diese Hoffnung enttäuscht wurde, zog sich Marinetti schmollend aus der Politik zurück.

Gewisse Parallelen zwischen dem Futurismus und dem Faschismus, zumal dem frühen, sind nicht zu übersehen. Allerdings würde es wohl zu kurz greifen, den Futurismus als faschistische Kunst zu verstehen. Der Faschismus bestand teilweise auch aus Ideen, die genau das Gegenteil der futuristischen darstellten. So ist etwa aus futuristischer Sicht das Streben der Faschisten, Italien als direkter Erbe des römischen Imperiums anzusehen und alles Altrömische zu bewundern, als rettungslos passatistisch zu betrachten.

Futurismus außerhalb Italiens

Aus der literarischen Fraktion des russischen Futurismus sticht insbesondere der russische Lyriker Wladimir Majakowski heraus. In Russland entwickelte sich mit dem Kubofuturismus eine Kunstrichtung, die Futurismus und Kubismus verband.

In Deutschland griff der Kreis um Herwarth Waldens expressionistisch-avantgardistische Zeitschrift Der Sturm ab 1910 Elemente des Futurismus vor allem in der Literatur auf: Der Autor Alfred Döblin verwendete die futuristische Technik der Montage und Simultaneität bereits in seinen Erzählungen im Band Die Ermordung einer Butterblume (1913). Die deutsche Variante des literarischen Futurismus wurde auch unter dem Namen Berliner Futurismus bekannt. Alfred Döblin perfektionierte sie in seinem berühmten und mehrfach verfilmten Roman Berlin Alexanderplatz (1929). Die Reichsschrifttumskammer des Nationalsozialismus stigmatisierte und verbot dann aber den Futurismus als Entartete Kunst, so dass futuristische Elemente in der Kunst in Deutschland nicht mehr möglich waren.

Marinettis Vorstellung der Metallisierung des Körpers wird heute noch von vielen japanischen Mangas und Künstlern aufgegriffen. So zum Beispiel in dem Film Tetsuo von Shinya Tsukamoto.

Shinya Tsukamoto griff auch weitere Elemente des Futurismus auf, so wie die Darstellung der Faust in Tokyo Fist oder die Verwandlung des Menschen in eine Waffe in Tetsuo 2.

Auswirkungen des Futurismus

Der Futurismus hatte Einfluss auf die Entwicklung von Strömungen der Moderne wie Expressionismus, Dadaismus, Surrealismus und Konstruktivismus.

Der moderne Roman wurde vom Futurismus maßgeblich beeinflusst: Die bahnbrechenden Romane Ulysses (1918) von James Joyce, Manhattan Transfer (1925) von John Dos Passos und Berlin Alexanderplatz (1929) von Alfred Döblin sind (neben dem Stream of Consciousness/Bewusstseinsstrom) auch geprägt von den futuristischen Techniken der Montage und der Simultaneität.

Die Sprache wurde durch den Futurismus um den Begriff Avantgarde bereichert - soweit bekannt, taucht dieser im Zusammenhang mit der Kunst zum ersten Mal im Gründungsmanifest von 1909 auf.

Liste futuristischer Künstler

Literatur

  • Baumgarth, Christa: Geschichte des Futurismus, Reinbek bei Hamburg: 1966
  • Benesch, Evelyn / Brugger, Ingried: Futurismus - Radikale Avantgarde Milano, 2003, ISBN 88-202-1602-7 (Ausstellungskatalog).
  • Schmidt-Bergmann, Hansgeorg: Futurismus - Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Reinbek bei Hamburg 1993, ISBN 3-499-55535-2.

Wikimedia

Wikisource: Futuristische Manifest (it) – Quellen und Volltexte

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