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Evolutionäre Fehlanpassung

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Evolutionäre Fehlanpassung oder fehlerhafte bzw. fehlende Angepasstheit ist eine örtlich und zeitlich begrenzte oder prinzipiell dauerhafte, evolvierte Abweichung biologischer Merkmale oder Populationen von Anpassungen an die Umwelt.

Begriffserläuterung und Geschichte

Mit dem Begriff evolutionäre Anpassung wurde im frühen Verständnis der darwinistischen Evolutionstheorie häufig verbunden, dass Populationen oder Merkmale von Arten durch den akkkumulierenden Mechanismus von Mutation und Selektion stets an ihre Umwelt angepasst sind bzw. anpasst sein müssen. Andernfalls würden sie in ihrer Umwelt behindert und phylogenetisch ausgesondert; nicht angepasste Arten könnten nicht überleben. Dies ist ein Missinterpretation der Lehre Darwins und der Synthetischen Evolutionstheorie. Darwin selbst hatte bereits darauf hingewiesen, dass Anpassungen von Merkmalen nicht perfekt seien. Die Hauptursache der Organisation jedes Lebewesens sei in der Vererbung zu sehen. Aus diesem Grund sei zwar jede Art als Organismen für ihren Platz in der Natur gut angepasst, viele organismische Strukturen in Lebewesen hätten jedoch keinen direkten Bezug zu ihrer Umwelt.[1] Ernst Mayr konnte das kritisch bestätigen. Das Ziel der Selektion ist nach ihm immer ein vollständiges Individuum und weniger ein einzelnes Gen. Adaptation ist demnach notwendigerweise stets ein Kompromiss zwischen den selektiven Vorteilen verschiedener Organe, verschiedener Geschlechter, verschiedener Abschnitte im Lebenszyklus und unterschiedlicher Umwelteinflüsse. Evolutionärer Wandel ist nach Mayr kein perfekter Optimierungsprozess. Stochastische Prozesse und andere Constraints verhindern perfekte Adaptation.[2]

Evolutionäre Fehlanpassung existieren einerseits für Populationen und Merkmale zeitlich und örtlich begrenzt auf Grund der Unvollkommenheit der Natur und ihrem permanenten Wandel. Natürliche Selektion variiert im Zeitverlauf oft auf Populationen. Darüber hinaus existiert eine Reihe von Bedingungen, die dazu führen, dass Fehlanpassungen evolvieren[3] und in der Evolution als systemisch immanent gesehen werden müssen. Ein fehlangepasstes Merkmal besitzt eine geringere Fitness als ein angepasstes Merkmal.

Fehlanpassung kann im Modell der von Sewall Wright eingeführten Fitness-Landschaften als Abweichungen von lokalen Gipfeln definiert[4] und dargestellt werden. Dabei handelt es sich um eine Form grafischer Darstellung der Fitness (Reproduktionserfolg) unterschiedlicher Genkombinationen, die sowohl ein bestimmtes phänotypisches Merkmal (z.B. Wirbeltierauge, Kiemen, Außenskelett) als auch den vollständigen Phänotyp repräsentieren können. Täler in diesen Landschaften bedeuten geringeren Reproduktionserfolg der Genkombinationen, Hügel repräsentieren günstigere Genkombinationen. Evolutionäre Fehlanpassung bedeutet in diesem Modell eine durch natürliche Selektion gesteuerte Bewegung auf einer horizontalen Höhenlinie oder bergab. Das Merkmal oder die Population bleibt unterhalb des lokalen Gipfels an seine Umwelt fehlangepasst.[5][6]

Ursachen von Fehlanpassungen

Ultimative Ursachen von Fehlanpassungen liegen in Betrachtungen des genetischen Systems im Verhältnis zu Veränderungen seiner Umwelt.[3] Diese Veränderungen umfassen unter anderem Mutationen, genetische Drift, Inzucht, natürliche Selektion, Pleiotropie, Koppelungs-Ungleichgewicht („linkage disequilibrium“)[7], Heterozygotenvorteil [8] und Genfluss. In jüngerer Vergangenheit findet eine verstärkte Betrachtung von Koevolution und Exaptation statt. Im Rahmen der Evolutionären Entwicklungsbiologie (EvoDeVo) werden Entwicklungsonstraints als Adaptationshemmnisse erforscht.

Mutationen

Die meisten Mutationen sind Fehlanpassungen oder Nichtanpassungen, da ihre Auswirkungen unabhängig von adaptiver Signifikanz sind.

Genetische Drift

Genetische Drift ist eine zufällige Veränderung der Allelfrequenz innerhalb des Genpools einer Population. Durch ein Umweltereignis kann insbesondere bei kleinen Populationen eine gegebene Anpassung verringert werden, da der Genpool nach dem Ereignis mit hoher Wahrscheinlichkeit anders zusammengesetzt ist als davor.

Inzucht

Inzucht-Phänotypen weisen geringere Vitalität und Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten auf, da die genetische Information in beiden Chromosomensätzen gleich ist und dadurch weniger unterschiedliche Gene vorhanden sind, die somit auf natürliche Selektion und Adaptation nicht in ausreichendem Umfang reagieren können.

Natürliche Selektion

Der Phänotyp weist in der Regel eine zu geringe Genotyp-Variationsfähigkeit auf, um Umweltänderungen bestmöglich zu reagieren.

Pleiotropie

Bei Pleiotropie wirken einzelne Gene oder Genkomplexe auf unterschiedliche Phänotypmerkmale eines Organismus'. Eine bestmögliche Anpassung aller Merkmale ist dabei nicht möglich oder sehr unwahrscheinlich. Es kommt zu einer Teilanpassung eines bestimmten Merkmals des Phänotyps, wobei andere Merkmale desselben Genkomplexes eine geringe Anpassung aufweisen können. Wenn das angepasste Merkmal für die Fitness des Organismus' wichtig ist, "toleriert" die natürliche Selektion die Fehlanpassung der weniger oder nicht adaptierten Merkmale.[2]

Koppelungs-Ungleichgewicht

Bei einem Koppelungs-Ungleichgewicht erscheinen zwei Allele benachbarter Genloci häufiger oder seltener als Haplotyp, als es das Produkt ihrer Allelhäufigkeiten erwarten lässt. Das Kopplungs-Ungleichgewicht kann durch Koppelungsdrift oder Selektion verursacht sein. Es führt zu einschränkenden Effekten auf den Phänotyp und damit zu Fehlanpassung.

Heterozygotenvorteil

Heterozygotenvorteil führt bei Individuen, die an einem bestimmten Genort heterozygot (Heterozygotie) sind, zu einem größeren Fortpflanzungserfolg als bei Individuen, die für das betreffende Allelpaar homozygot (Homozygotie) sind.

Genfluss

Der Genfluss zwischen unterschiedlich adaptierten Populationen kann zu Fehlanpassungen führen. Deren Ausmaß hängt von Migrationsraten und der Stärke der Selektion ab.

Koevolution

Koevolution bedeutet den anhaltenden, reziproken Wandel der selektiven Landschaft für die betrachteten Arten. Populationen können bei solchen Umwelteinflüssen, bei denen die koevolvierende Art im ökologischen Sinn jeweils selbst ein Umweltfaktor ist, nur selten adaptive Gipfel erreichen und nicht dort verbleiben. In Modellen können Bedingungen simuliert werden, die es den betrachteten Arten prinzipiell nicht erlauben, lokale Gipfel dauerhaft zu erreichen. Koevolution erhöht die evolutionäre Komplexität. Anders als bei gewöhnlicher Adaptation an physikalische Umweltbedingungen kann Adaptation an eine andere Art reziproke genetische Antworten induzieren, da die jeweils andere Art selbst auf spezielle Weise derart evolviert, dass sie die auf sie einwirkenden evolutionären Einflüsse verbessert oder abschwächt.[4]

Exaptation

Exaptation meint die einem phylogenetisch ursprünglichen Zweck entfremdete Anpassung eines Merkmals.[9] Als Beispiel dient heute die Vogelfeder, die nicht zum Fliegen sondern ursprünglich als eine zu den Reptilienschuppen nicht homologe, eigenständige Körperbedeckung evolvierte.

Entwicklungsconstraints

Entwicklungsconstraints sind definitionsgemäß ontogenetische Hindernisse, die adaptiv nicht beliebig verändert werden können. Als Beispiel werden die Lungen von Walartigen angeführt, die nicht mehr in Kiemen evolvieren können, obwohl Kiemen in einer früheren phylogenetischen Phase vorhanden waren und in der jetzigen Phase eventuell Fitnessvorteil bieten würden. Auch das Wirbeltierauge von Walartigen kann nicht mehr zu dem für die Tiefsee besser adaptierten Oktopus-Linsenauge mit auf der Netzhaut lichtabgwandten Fotorezeptoren evolvieren.

Beispiele für Fehlanpassungen

Klimawandel

In Perioden von Klimaveränderungen, etwa globaler Erwärmung oder Abkühlung, werden Arten, die zuvor klimatisch gut angepasst waren, an das neue Klima fehl-angepasst, wenn es ihnen nicht gelingt zu migrieren. Fehlanpassungen bei Klimaveränderungen mit menschlichem EIngriff können in Situationen entstehen, in denen Klimaschutz-Projekte kurzfristige Anpassungen unterstützen, jedoch versteckte Effekte beinhalten, die zu langfristiger Verwundbarkeit oder Anpassungsunfähigkeit von Arten an die Klimaveränderung führen.[10][11]

Antibiotikaresistenz

Mikroorganismen können Eigenschaften besitzen, die es ihnen ermöglichen, die Wirkung von antibiotisch aktiven Substanzen abzuschwächen oder ganz zu neutralisieren. Antibiotikaproduzenten wie Streptomyceten besitzen in den meisten Fällen Resistenz gegen die von ihnen selbst erzeugten Stoffe. Die Fehlanpassung besteht in der Resistenz gegen einen oder mehrere Mikroorganismen (Antibiotika), die als Abwehrmechanismen gegen schadhafte andere Mikroorganismen eingesetzt werden, aber nicht mehr funktionieren, da der Organismus ihre schadensbegrenzende Wirkung fälschlicherweise abwehrt.

Metabolisches Syndrom

Unter dem Begriff metabolisches Syndrom wird eine Reihe von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zusammengefasst. Es wird eindeutig assoziiert mit Fettleibigkeit und Insulinresistenz, dem Vorstadium von Diabetes Typ II. Als Ursache wird mangelnde genetische Anpassungsfähigkeit an die evolutionär schnelle Änderung der menschlichen Lebensweise seit der Mitte des 20. Jahrhunderts gesehen. [12] Ein inaktiver, sitzender Lebensstil hat schädliche Konsequenzen auf die menschliche Gesundheit. Eine Korrelation zwischen zu wenig körperlicher Bewegung und der Entwicklung moderner chronischer Krankheitenen, hier Degenerierung von Herz- und Skelettmuskeln und koronarer Herzkrankheit ist nachgewiesen.[13]

Phantomschmerz

Phantomschmerz kann bei Individuen entstehen, die Gliedmaßen verloren haben. Das Gehirn reagiert falsch und missinterpretiert das nicht mehr vorhandene Körperteil als noch vorhanden. Die Ursache liegt in der Neuroplastizität-Fähigkeit des Gehirns, der Eigenschaft von Synapsen, Nervenzellen oder auch ganzen Hirnarealen, sich in Abhängigkeit von der Verwendung in ihren Eigenschaften anzupassen. Im Fall von Phantomschmerz ist die neuroplastische Reaktion des Gehirns jedoch eine Fehlanpassung, da das Gehirn Schmerzsignale erhält, obwohl keine Nervenbahnen und -signale von der Gliedmaße existieren.[14]

Fehlende väterliche Sorge

Anatinae, ein Unterfamilie der Entenvögel, lassen väterliche Sorge vermissen, wo sie erwartet wird und Fitness-fördernd wäre. Als Grund wird eine verzögerte genetische Reaktion auf Selektion gesehen.[15]

Zu kleine Meisengelege

Von Vögeln wird erwartet, dass die Größe des Geleges (Eierzahl) so groß ist, dass die Reproduktion von Nachkommen maximiert wird. Das ist bei beobachteten Blaumeisen und Kohlmeisen nicht der Fall. Die Beobachtung wird mit dem Genfluss zwischen verschiedenen an lokale Habitate angepasste Populationen begründet.[16]

Fehlende Krankheitsresistenz bei Pflanzen

Populationen der Kletterpflanze Amphicarpaeabracteata weisen genetisch stark unterschiedliche Abstammungslininen in Bezug auf die Resistenz gegenüber dem Pathogen Synchytrium auf. Ein hoher Grad von Selbstbefruchtung unterbindet Rekombinationen und resultiert in hoher Korrelation zwischen der Krankheitsresistenz und anderen ökologisch wichtigen Merkmalen, darunter auch der Morphologie. Natürliche Selektion auf diese korrelierten Merkmale führt zu feh-ladaptierten Veränderungen der Krankheitsresistenz. Das Paarungssystem der Pflanze wird als Basis-Constraint für eine adaptive Verbesserung der Resistenz gesehen.[17]

Literatur

  • David M. Buss, Martie G. Haselton, Todd K. Shackelford, April L. Bleske, Jerome C. Wakefield. Adaptations, Exaptations, and Spandrels
  • Bernard J Crespi. The evolution of maladaptation. Heredity (2000) 84, 623–629; doi:10.1046/j.1365-2540.2000.00746.x
  • Timothy E. Farkas, Andrew P. Hendry, Patrik Nosil, Andrew P. Beckerman. How maladaptation can structure biodiversity: eco-evolutionary island biogeography
  • Stephen Jay Gould and Richard C. Lewontin. The Spandrels of San Marco and the Panglossian Paradigm: A Critique of the Adaptationist Programme. PROCEEDINGS OF THE ROYAL SOCIETY OF LONDON, SERIES B, VOL. 205, NO. 1161 (1979), PP. 581-598
  • Daniel E. Liebermann. Unser Körper. Geschichte, Gegenwart, Zukunft. S. Fischer . 2015
  • Alexandre Magnan. Avoiding maladaptation to climate change: towards guiding principles. SAPIENS. 7.1 | 2014 : VOL.7 / N°1. Perspectives
  • Ernst Mayr. How to Carry Out the Adaptationist Program? The American Naturalist, Vol. 121, No. 3. (Mar., 1983), pp. 324-334
  • Randolph M. Nesse. Maladaptation and Natural Selection. The Quarterly Review of Biology. 2005, 80/1., 62-71 pdf
  • Thompson JN, Nuismer SL, Gomulkiewicz R. Coevolution and maladaptation. Integr Comp Biol. 2002 Apr;42(2):381-7. doi: 10.1093/icb/42.2.381

Siehe auch

The Limits to Adaptation and Maladaptation. Jon Barnett, The University of Melbourne

Einzelnachweise

  1. Charles Darwin: On the Origin of Species. 1. Auflage, John Murray, London 1859. S. 199-201
  2. a b Ernst Mayr. How to Carry Out the Adaptationist Program? The American Naturalist, Vol. 121, No. 3. (Mar., 1983), pp. 324-334. Referenzfehler: Ungültiges <ref>-Tag. Der Name „Mayr“ wurde mehrere Male mit einem unterschiedlichen Inhalt definiert.
  3. a b Bernard J Crespi. The evolution of maladaptation. Heredity (2000) 84, 623–629; doi:10.1046/j.1365-2540.2000.00746.x
  4. a b * Thompson JN, Nuismer SL, Gomulkiewicz R. Coevolution and maladaptation. Integr Comp Biol. 2002 Apr;42(2):381-7. doi: 10.1093/icb/42.2.381. Referenzfehler: Ungültiges <ref>-Tag. Der Name „Thompson“ wurde mehrere Male mit einem unterschiedlichen Inhalt definiert.
  5. S. Wright: Proceedings of the Sixth International Congress on Genetics. 1932, The roles of mutation, inbreeding, crossbreeding, and selection in evolution, S. 355–366 (blackwellpublishing.com [PDF]).
  6. Richard Dawkins: Gipfel des Unwahrscheinlichen: Wunder der Evolution. rororo, 2008. S. 85ff
  7. Koppelungsungleichgewicht (Spektrum.de)
  8. Heterozygotenvorteil (Spektrum.de)
  9. Stephen Jay Gould, Elisabeth S. Vrba: Exaptation – a missing term in the science of form. In: Paleobiology. Band 8, Nr. 1, 1982, S. 4–15, Volltext (PDF)
  10. Magnan, A. (2014). "Avoiding maladaptation to climate change: towards guiding principles." "S.A.P.I.EN.S" "'7'"(1)
  11. Maladaptation. The negative spin-off: exploring the issue of increased risk as a result of adaptation activities
  12. Terence J Wilkin and Linda D Voss. Metabolic syndrome: maladaptation to a modern world. J R Soc Med. 2004 Nov; 97(11): 511–520. doi: 10.1258/jrsm.97.11.511
  13. Morris, Robert Tyler. 2007. Maladaptation of cardiac and skeletal muscle in chronic disease: effects of exercise. (Diss.) https://mospace.umsystem.edu/xmlui/handle/10355/4720
  14. Nava, E., Roder, B., & Enhancing Performance for Action and Perception. (January 01, 2011). Adaptation and maladaptation. Progress in Brain Research, 191, 177-194.
  15. Johnston, KP, McKinney, F and Sorensen, MD. 1999.Phylogenetic constraint on male parental care in the dabbling ducks. Proc. R. Soc. Lind. B. 266, 759-763
  16. André A. Dhondt, Frank Adriaensen, Erik Matthysen and Bart Kempenaers. Nonadaptive clutch sizes in tits. Nature 348, 723 - 725 (27 December 1990); doi:10.1038/348723a0
  17. Matthew A. Parker. Nonadaptive Evolution of Disease Resistance in an Annual Legume. EVOLUTION 45(5):1209 · 1991