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Rettung der bulgarischen Juden

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Die Rettung der bulgarischen Juden (insgesamt 48.000) im März 1943 während der Zeit des Nationalsozialismus wurde durch den Einsatz der bulgarischen Politiker und Intellektuellen, des bulgarischen Königs Boris III. und der Bulgarisch-orthodoxen Kirche möglich.

Historischer Kontext

Bulgarien wurde seit 1935 von König Boris III. absolutistisch geführt, dem ab 1938 ein Parlament mit eingeschränkten Vollmachten zur Seite stand. Die bulgarische Führung verfolgte zunächst eine Neutralitätspolitik, trat aber im März 1941 dem Dreimächtepakt bei und verwirklichte die Gebietsansprüche auf Thrakien, Mazedonien und Pirot. Bulgarien bewahrte jedoch weitgehend seine Eigenständigkeit: Es kam zum Beispiel den deutschen Forderungen zur Beteiligung am Russlandfeldzug nicht nach und stellt einen Sonderfall unter den mit dem Großdeutschen Reich verbündeten Staaten dar.[1]

Innenminister Peter Gabrovski und sein „Judenkommissar“ Alexander Belev folgten den deutschen Wünschen zur Einführung antisemitischer Bestimmungen und kündigten im Juli 1940 eine entsprechende Vorlage an. Das „Gesetz zum Schutz der Nation“ sah die Registrierung von Juden sowie wirtschaftliche und politische Einschränkungen vor. Juden sollten aus öffentlichen Ämtern aussscheiden, Teile ihres Eigentums eingezogen, eine Sondersteuer erhoben und der Zugang zu einigen Berufen kontingentiert werden. Ausgenommen wurden Juden, die zum Christentum übergetreten, mit Bulgaren verheiratet oder in den Miltärdienst getreten waren. Trotz hitziger Debatten und einer breiten Protestbewegung trat das Gesetz am 23. Januar 1941 in Kraft.[2]

Kommissariat für Judenfragen

Im Juni 1942 forderte Martin Luther vom Auswärtigen Amt die bulgarische Regierung auf, der Deportation ihrer in Deutschland ansässigen Staatsangehörigen zuzustimmen, nach deutschem Vorbild die rassistische Einordnung als „Jude“ zu übernehmen und Ausnahmebestimmungen zu streichen.[3] Am 26. August 1942 wurde durch Regierungsdekret ein „Kommissariat für Judenfragen“ (Komisarstvo za evreiskite vuprosi - KEV) eingerichtet, in dem bis zu 160 Mitarbeiter beschäftigt waren. An der Spitze stand der Antisemit Alexander Belev, der das deutschen Begehren weitreichend umsetzte.

Die Kennzeichnung der Juden mit einem kleinen gelben Knopf[4] im August 1942 war eine der zahlreichen diskriminatorischen Maßnahmen. Auch die Häuser und Betriebe sollten markiert werden. Zudem wurden Sachwerte der Juden eingezogen und ihr Geldvermögen auf Sperrkonten sichergestellt, ihre Rundfunkgeräte und Fahrräder konfisziert, die Berufsausübung wurde eingeschränkt und eine Dienstverpflichtung in separaten Arbeitskolonnen angeordnet. Eine Registrierung der Juden ergab, dass 51.500 in Altbulgarien und weitere 11.900 in den annektierten Gebieten lebten.[5]

Im Oktober 1942 wurde das Auswärtige Amt erneut bei der „Judenfrage“ initiativ. Der deutsche Gesandte in Sofia, Adolf Heinz Beckerle, teilte dem Referat D III des Auswärtigen Amtes die prinzipielle Bereitschaft Bulgariens zur Deportation der Juden mit. Beide Stellen waren bei der Bestellung eines RSHA-Judenberaters beteiligt.[6] Im Januar 1943 kam Theodor Dannecker nach Sofia.

Tatsächlich reagierte die Bulgarische Regierung zur Enttäuschung Walter Schellenbergs ausweichend. Im Kabinett bestünde noch keine einheitliche Zustimmung, angeblich würden die Juden noch dringend zum Straßen- und Eisenbahnbau benötigt und der bulgarischen Bevölkerung würde das Verständnis fehlen. Während man auf höherer Ebene noch Vorbehalte machte, unterzeichneten Belev und Dannecker am 22. Dezember 1943 ein Abkommen, bis Ende Mai 20.000 Juden „aus den kürzlich befreiten Territorien“ zu deportieren. Diese Einschränkung war angesichts der Zahlen – insgesamt lebten dort nicht mehr als 12.000 Juden – nicht haltbar und wurde, nachdem das Kabinett am 2. März zugestimmt hatte, stillschweigend gestrichen. Damit war der Weg geebnet, auch Juden aus Altbulgarien zu deportieren.[7]

Rettungsaktionen

Als die Polizei am 10. März 1943 die Juden zusammentrieb, wurde klar, dass die Aktion entgegen des Kabinettsbeschlusses sich auch gegen Juden aus Altbulgarien richtete. Zahlreiche Einzelpersonen, Kirchenvertreter, Schriftsteller wie auch Jako Baruh vom illegalen zionistischen Zentrum versuchten zu intervenieren.[8] Dimitar Peschew, ein bulgarischer Rechtsanwalt und Vize-Parlamentspräsident, informierte persönlich Premierminister Bogdan Filow über den Verstoß und erreichte den Aufschub der Deportationen aus Altbulgarien. Peschew verfasste ein Manifest zur Beendigung der antisemitischen Maßnahmen. Er konnte weitere 42 Parlamentarier überzeugen, das Dokument zu unterzeichnen. Dieses Manifest überreichte er am 17. März 1943 persönlich dem Leiter der Staatskanzlei. Die Proteste weiteten sich in der Volksversammlung aus, fanden aber keine Mehrheit für eine Rüge oder Entlassung der Zuständigen.

Die Juden in den von Bulgarien während des Zweiten Weltkriegs besetzten Territorien konnten nicht gerettet werden. Im März 1943 wurden 11.343 bulgarische Juden aus den beiden Gebieten in das Vernichtungslager Treblinka deportiert.[9] Zur selben Zeit erklärten die Briten bei einem britisch-amerikanischen Gipfeltreffen in Washington, sie seien angesichts der Vorgänge in Bulgarien bereit, Juden in Palästina aufzunehmen. Ein entsprechender Vorschlag wurde über die Berner Botschaft übermittelt. Erst angesichts der militärischen Erfolge entfaltete der alliierte Druck jedoch eine Wirkung.[10]

Ende der Deportationen

Bei einem Besuch Boris III. in Berlin, der im April 1943 stattfand, betonte Joachim von Ribbentrop die Notwendigkeit einer weitergehenden radikalen Lösung, während der bulgarische König behauptete, mindestens 25.000 arbeitsfähige Juden für wichtige öffentliche Arbeiten zurückhalten zu müssen. Judenkommissar Belev entwarf einen stufenweisen Deportationsplan, der in einem ersten Schritt die Aussiedlung von 16.000 Juden aus Sofia vorsah, und zwar entweder „aus Gründen der Sicherheit“ nach Polen oder aber in die Provinz. Der König stimmte nur der letztgenannten Version zu, die am 21. Mai 1943 öffentlich verkündet wurde. Am 24. Mai 1943 intervenierte die Bulgarisch-orthodoxe Kirche: Das in der bulgarischen Öffentlichkeit sehr angesehene Kirchenoberhaupt Stefan I. von Sofia wandte sich, nachdem er noch eine Delegation aus Vertretern der jüdischen Gemeinde empfangen hatte, unmittelbar an Zar Boris III. und forderte ihn auf, alle Deportationen unverzüglich auszusetzen, da diese in fundamentalem Gegensatz zur traditionellen Toleranz der Bulgaren stünden. Noch am selben Tag zelebrierte Stefan I. von Sofia auf dem Alexander-Newski-Platz ein Tedeum und setzte sich öffentlich für die Juden ein. Er selbst nahm den Großrabbiner von Sofia unter persönlichen Schutz.

In einem Brief vom April 1943 an seine Vorgesetzten hielt der Polizeiattache in Bulgarien fest, seitens der Bevölkerung seien weder die ideologischen noch die „rassischen Voraussetzungen“ für eine Unterstützung der Deportationen gegeben.[11] Der Gesandte Beckerle schrieb, man müsse die bulgarische Mentalität, den Mangel an ideologischer Stärke, ihr Unverständnis gegenüber Antisemitismus berücksichtigen und solle die bulgarische Regierung nicht zu sehr unter Druck setzen. Nur ein deutscher Sieg könne nachhaltig wirken.[12]

Nach dem plötzlichen Tod Boris III. am 28. August 1943 wurde das Kabinett umgebildet. Die juristischen Restriktionen blieben bestehen, wurden aber nicht verschärft. Mit dem Vormarsch der roten Armee schwand der deutsche Einfluss. Am 31. August 1944 hob das – abermals umgebildete – Kabinett alle die Juden betreffenden Gesetze und Erlasse auf. Fast alle der 50.000 bulgarischen Juden aus dem Altreich konnten ihr Leben retten.

Deutungen

Hans-Heinrich Hoppe stellt dar, dass die Bulgaren seit Jahrhunderten eng mit anderen Nationalitäten wie Türken, Griechen, Zigeunern, Armeniern und Juden zusammenlebten und daher bis auf Splittergruppen keine antisemitischen Vorbehalte hatten. Die bulgarische Führung übernahm die deutsche Judengesetzgebung nur halbherzig und nur so lange, wie sie Schutz vor der Sowjetunion und Erfüllung ihrer territorialen Wünsche erwarten konnte. Angesichts der Kriegslage musste man auf die Alliierten Rücksicht.

Für die Rettung war der massive Protest der bulgarischen Gesellschaft wichtig. Die Proteste der Opposition zeugten nur begrenzt Wirkung. Entscheidend für die Umstimmung der Regierung waren die Proteste aus den eigenen Reihen.[13]

Die Enzyklopädie des Holocaust, die auf dem Forschungsstand

Juden aus anderen europäischen Ländern

Mit der Unterstützung der bulgarischen Königin Johanna stellte der italienische Botschafter in Sofia italienische Pässe und Transitvisa für die in Bulgarien lebenden Juden ausländischer Nationen aus. Der bulgarische König Boris III. half Tausenden Juden von der Slowakei, Transitvisa für Palästina zu bekommen.

Ehrung

Für seine Tat wurde Dimitar Peschew zum Ehrenbürger Israels erklärt, zu seinen Ehren wurde ein Baum im Garten der Gerechten in Jerusalem gepflanzt. Eine Büste von Dimitar Peschew steht im Gebäude des Europarates in Straßburg. Die internationale Raoul-Wallenberg-Stiftung hat eine Medaille mit seinem Bild herausgegeben.

Literatur

  • Gabriele Nissim: L’uomo che fermo Hitler. La storia di Dimitar Peshev che salvò gli ebrei di una nazione intera. Mondadori, Milano 1998, ISBN 88-04-42209-2.
  • Gabriele Nissim: Der Mann, der Hitler stoppte. Dimitar Pesev und die Rettung der bulgarischen Juden. Siedler Verlag, Berlin 2000, ISBN 3-88680-694-4.
  • Gabriele Nissim: Peschew-Protest, in: Dan Diner (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK). Band 4, Metzler, Stuttgart/Weimar 2013, S. 509–512
  • Michael Bar-Zohar: Beyond Hitler’s grasp. The heroic rescue of Bulgaria’s Jews. Adams Media Corporation, Avon MA 1998, ISBN 1-58062-060-4.
  • Димитър Пешев: Спомени. ИК Гутенберг, София, 2004 (Dimitar Peschew, Erinnerungen. Verlag Gutenberg, Sofia 2004, posthum erschienen, nur auf Bulgarisch erhältlich), ISBN 954-9943-73-9.
  • Tzvetan Todorov: La fragilité du bien – Le sauvetage des juifs bulgares. Textes réunis et commentés par Tzvetan Todorov. Traduit du bulgare par Marie Vrinat et Irène Kristeva. Albin Michel 1999, Paris (Auswahl und Kommentar zeitgenössischer Texte, übersetzt ins Französische, darunter auch Auszüge aus Peschews "Erinnerungen") ISBN 2-226-11086-0.
  • Ангел Джонев: Къща-Музей „Димитър Пешев“. Кюстендил 2005 (Angel Džonev, Museumshaus „Dimitar Peschew“. Küstendil 2005, Bulgarisch/Englisch) ISBN 954-8191-09-1.0

Einzelnachweise

  1. Hans-Joachim Hoppe: Bulgarien. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Dimensionen des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. dtv München 1996, ISBN 3-423-04690-2, S. 275-277.
  2. Hans-Joachim Hoppe: Bulgarien. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Dimensionen des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. dtv München 1996, ISBN 3-423-04690-2, S. 280-281.
  3. Hans-Joachim Hoppe: Bulgarien. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Dimensionen des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. dtv München 1996, ISBN 3-423-04690-2, S. 282.
  4. Israel Gutman u. a. (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust. München und Zürich 1995, ISBN 3-492-22700-7, Bd. 2, S, 752.
  5. Hans-Joachim Hoppe: Bulgarien. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Dimensionen des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. dtv München 1996, ISBN 3-423-04690-2, S. 283-285.
  6. Eckart Conze; Norbert Frei; Peter Hayes; Mosche Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit - deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010, ISBN 978-3-89667-430-2, S. 282-284.
  7. Hans-Joachim Hoppe: Bulgarien. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Dimensionen des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. dtv München 1996, ISBN 3-423-04690-2, S. 286-288.
  8. Hans-Joachim Hoppe: Bulgarien. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Dimensionen des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. dtv München 1996, ISBN 3-423-04690-2, S. 2289-291.
  9. Israel Gutman u. a. (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust. München und Zürich 1995, ISBN 3-492-22700-7, Bd. 1, S. 264.
  10. Hans-Joachim Hoppe: Bulgarien. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Dimensionen des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. dtv München 1996, ISBN 3-423-04690-2, S. 299-302.
  11. Israel Gutman u. a. (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust. München und Zürich 1995, ISBN 3-492-22700-7, S. 262.
  12. Hans-Joachim Hoppe: Bulgarien. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Dimensionen des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. dtv München 1996, ISBN 3-423-04690-2, S. 305.
  13. Hans-Joachim Hoppe: Bulgarien. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Dimensionen des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. dtv München 1996, ISBN 3-423-04690-2, S. 309