Nation
Der Begriff Nation (über franz. nation aus lat. natio "Geburt; Herkunft; Volk(sstamm)") bezeichnet begrifflich eine Abstammungsgemeinschaft, wird jedoch zumeist für eine durch gemeinsame Traditionen, Sitten oder Gebräuche definierte Gruppe von Personen mit Anspruch auf staatliche Souveränität verwendet. Der Begriff wird im sozialwissenschaftlichen Kontext in sehr unterschiedlicher Weise verwendet, so z. B. als vorgestellte Gemeinschaft (vgl. Benedict Anderson), als auf primordialen Bindungen beruhende Gruppe (vgl. Clifford Geertz), als historisch kontingentes Konzept (vgl. Rogers Brubaker) oder als auch als Kombination vorstehender Begriffe (vgl. Anthony D. Smith).
Allgemeines
Im 18. Jahrhundert in Folge der Französischen Revolution entstanden und durch zunehmende Mobilität begünstigt, entfaltete die Idee der Nation (siehe: Nationalismus) eine hohe Dynamik, die anfangs gegen Feudalismus und Autokratie (Frankreich, Deutschland), gegen wirtschaftlich und politisch einengende Kleinstaaterei (Deutschland bzw. deutscher Sprachraum), oder aber gegen imperiale Herrschaft (Russland, Donaumonarchie) gerichtet war. Die Vorstellung vom ethnisch homogenen Nationalstaat gipfelte im 20. Jahrhundert in verschiedenen ethnischen Säuberungen.
Ebenen des Begriffs "Nation"
1. Nation wird als ethnische Homogenität (als "Volk"), aber auch als Stamm (Stammesvolk, früher Völkerstamm) verstanden (vgl. dazu Tribalismus, Reservation).
- Diese Definition der Nation geht von der gemeinsamen Abstammung der Angehörigen der Nation und einer daraus resultierenden Kultur- und Spracheinheit aus. Lange Zeit war diese Auffassung vorherrschend, besonders im Mittel- und Osteuropa des 19. und 20. Jahrhunderts, wo sie zur massenwirksamen Ideologie ausgebaut wurde. Heute wird dieses Konzept vielfach angegriffen und kritisiert, dazu unten mehr.
2. Nation ist Homogenität der Sprache und Tradition (Kulturnation)
- Nation ist dann die durch die Geschichte bewahrte Einheit in Sprache, Kultur und Traditionen (zahlreiche Überlappungen mit dem in der Romantik geprägten "Volks"-Begriff). Sie lässt sich nicht durch territoriale Grenzen definieren. Dies gilt für die Kulturnation Deutschland, ebenso für andere überstaatliche nationale Gemeinschaften.
- Gegenwärtig ist z.B. ein gewisses Streben nach einer Nation z.B. unter Kurden beobachtbar. Der Gedanke einer kurdischen Nation wurde erstmals im Vertrag von Sèvres 1919 berücksichtigt, der jedoch mangels Ratifizierung durch die Türkei nicht in Kraft getreten ist. Der Prozess wird von heftigen Auseinandersetzungen von innen und außen begleitet. Dieses Streben nach einer Nation gilt aber auch für andre Völker, z. B. die Iren in Nordirland, die sich von den Briten trennen und sich wieder mit der Republik Irland zu einer Nation zusammen schließen möchten. Dies wird aber vornehmlich von den protestantischen Menschen in Nordirland, eingewanderte Briten, verhindert.
3. Nation ist ein politischer Zusammenschluss als Staat (Staatsnation)
- Nation ist dann die politisch souverän organisierte und geordnete Staatsnation. Territorialer Zusammenhang kann, muss aber nicht sein. Ethnische, religiöse und sprachliche Gegebenheiten sind nachrangig. Ein Musterbeispiel ist die Schweiz als Willensnation. In diesem Sinne wäre also jedes staatliche Gebilde auch eine Nation, also auch Staaten wie Liechtenstein, Vatikan, Monaco und Andorra. Kritiker dieser Auffassung bemängeln dies als unwissenschaftlichen Humbug, da die Begrifflichkeit Nation dadurch verwässert wird.
In Frankreich versucht man unter dem Sinnbild der Grande Nation Völker in die französische Nation (Französisch als alleinige Sprache) zu integrieren, die eher eine Selbständigkeit oder den Anschluss an den jeweiligen Nationalstaat (Bspl.: italienische Sprachinseln zu Italien) bevorzugen würden (Korsen, Basken, Elsässer, Niederländer, Bretonen). Da Frankreich keine Minderheiten anerkennt, werden Repressalien, wie Umsiedlung von Staatsbeamten oder Nichtzustellung von in eigener Sprache adressierter Post, auf die Bevölkerung der entsprechenden Regionen ausgeübt. 4. Nation als religiöser Zusammenschluss (Religionsstaat, Staatsreligion)
- Eine in der Geschichte häufiges konstituierendes Element von Nation war und ist bis heute in einigen feudalen Ländern die Staatsreligion. Gab es in der Geschichte viele Nationen, die sich über die Religion definierten (das Spanien der Reconquista, das Frankreich Ludwigs XIV., das England Heinrichs VIII.), so waren in den Staaten des Hl. Römischen Reiches Deutscher Nation nach dem Westfälischen Frieden 1648 regelmäßig die Religion des Fürsten ausschlaggebend (cuius regio eius religio - lateinisch für Wes das Land, des die Konfession). Dass die Bevölkerung einen Glaubenswechsel nicht mitzumachen brauchte, gab es allerdings auch (in Preußen war der König kalvinistisch, die Bevölkerung jedoch lutherisch, und in Sachsen der Kurfürst katholisch, die Bevölkerung lutherisch). Beispiele für Religionsstaaten: Israel als jüdischer Staat, der Iran des Ayatollah Chomeini, Afghanistan der Taliban, Saudi Arabien der wahabitischen Saudi-Familie. Eine bedeutende Rolle spielt die Religion im Gegensatz zwischen Kroatien und Serbien (katholisch | christlich-orthodox).
Begründungen von Nation
Die Vorstellungen von Nation beruhen unter anderem auf zwei sehr unterschiedlichen Begründungen der Nation, die bis heute einen großen Einfluss haben:
- Die essentialistische Definition, die Johann Gottlieb Fichte zugeschrieben wird, nach der Nation überzeitlich existent sei und lediglich noch der Artikulation bedürfe. Fichte sieht demnach die Nation als eine von Gott geschaffene, in alle Ewigkeit und unabhängig von der Geschichte bestehende ontologische Einheit. - Die essentialistische Definition der Nation war eine der Grundlagen für den deutschen Nationalismus. An essentialistische Vorstellungen von Volk und Nation knüpft auch Carl Schmitt an, was bis heute vor allem für die Repräsentationslehre von Bedeutung ist und durch den solche Vorstellungen in der deutschen Staatsrechtslehre wirksam sind.
- Die jakobinische Vorstellung von Nation, die in der Nation eine Einheit sieht, die politisch gebildet werden muss. Siehe die klassische Definition einer Staatsnation von Ernest Renan.
Literatur
Klassiker
- Johann Gottlieb Fichte (1808), Reden an die deutsche Nation, in: Philosophische Bibliothek, Bd. 204, 5. Aufl., Hamburg: Meiner, 1978
- Friedrich Meinecke (1907), Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates, München: Oldenbourg, 1907 (2. Aufl. 1911)
- Ernest Renan (1882), Qu´est-ce qu´une nation?, Rede vor der Sorbonne, Paris, 1882, dt. Was ist eine Nation
- Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin: Duncker & Humblodt, 1932, Neuausgabe 1963
Neuere Literatur
- Reinhart Koselleck (1972): Volk, Nation, Nationalismus, Masse, in: Brunner, O., Conze, W. und Koselleck, R. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, S. 141-431.
- Benedict Anderson: Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, 1983, ISBN 0-86091329-5 (dt. zuerst u.d.T. Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt am Main: Campus 1988) ISBN 3-593-33926-9
- Etienne Balibar: Die Nation-Form: Geschichte und Ideologie, in: ders./Immanuel Wallerstein: Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg, Berlin: Argument, 1990, ISBN 3-88619-386-1
- Karl W. Deutsch, Nationenbildung, Nationalstaat, Integration, Düsseldorf 1972
- Ernest Gellner: Nations and Nationalism, Oxford 1983, (dt. zuerst u.d.T. Nationalismus und Moderne, Berlin: Rotbuch 1991), ISBN 3-88022-358-0
- Eric Hobsbawm; Nationen und Nationalismus, Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt/New York: Campus 1990, ISBN 3-59337498-6
- Otto Dann: Nation und Nationalismus in Deutschland 1770-1990, München 1993, ISBN 3-40-634086-5
- Karlheinz Weißmann: Nation?, Bad Vilbel: Edition Antaios 2001, ISBN 3-935063-21-0
- Roger Griffin: Völkischer Nationalismus als Wegbereiter und Fortsetzer des Faschismus: Ein angelsächsischer Blick auf ein nicht nur deutsches Phänomen. In: Heiko Kauffmann, Helmut Kellershohn, Jobst Paul (Hg.): Völkische Bande. Dekadenz und Wiedergeburt – Analysen rechter Ideologie. Münster, 2005. ISBN 3-89771-737-9
Weblinks
- at.indymedia.org: Nation: eine gesellschaftliche Konstruktion
- Ernest Renans Rede vor der Sorbonne Was ist eine Nation (1882).
- Thomas Riklin, Worin unterscheidet sich die schweizerische "Nation" von der Französischen bzw. Deutschen "Nation"? (2005)