Zeitgenössische Vokalmusik
Die zeitgenössische Vokalmusik fasst die Kompositionen der Neuen Musik nach 1945 für eine oder mehrere Stimmen zusammen.
Vom Textsinn zum Klang oder Sprache und Musik
Befreiung von der Semantik
Die Sprache ist eine absolut menschliche Errungenschaft der Evolution. Sie weist bestimmten Lauten und Lautkombinationen eine ebenso bestimmte Bedeutung zu und kombiniert damit Klang und Bedeutung. Für die klanglichen Aspekte der Sprache hat sich die Wissenschaft der Phonetik herausgebildet, die Bedeutungslehre hat entsprechend dazu die Semantik. Kombiniert man nun Sprache mit Gesang, erhalten die klanglichen Anteile der Sprache einen weiteren Zuwachs an Wichtigkeit. Gesang hebt die normale Sprache auf eine andere Ebene. Dass Gesang auch ohne wortgebundenen semantischen Inhalt auskommen kann, beweisen Liedtexte seit jeher; vom volksliedhaften „la la la“ bis „awopbopaloobop alopbamboom“ (Little Richard) hat die vokale Musik immer auch wortlose, dem reinen Klang verpflichtete Laute gekannt, die im jazzorientierten, improvisierten Scatgesang ihre deutlichste Existenzberechtigung erhielten (z.B. Ella Fitzgerald in „Cotton Tail“). Lautmalerische Elemente finden sich auch in der sogenannten ernsten Musik, man denke nur an Richard Wagners „Walkürenritt“ mit den Neuschöpfungen „Hojotoho“ und „Wagalaweia“.
Trotzdem bleiben diese Einwürfe in einem Kontext, der den Rahmen der Semantik nicht sprengt. Auch in der koloraturenreichsten Arie finden sich Hinweise auf einen Hintergrund, in dem sie stehen, einen Sinnzusammenhang, der nicht vollends verschleiert wird. Ein Gesangsstück, in dem durchweg nur klangliche Elemente der Stimme in den Vordergrund treten, bleibt die Ausnahme. Als Beispiel kann die Arie „Diggi, daggi, schurry, murry“ von Wolfgang Amadeus Mozart aus der Oper “Bastien und Bastienne” gelten, deren Text vollständig aus ebendiesen Worten besteht. Hiermit sollen für den Zuschauer auf und vor der Bühne geheimnisvolle fremde Zauberworte dargestellt werden. Der komplette Bedeutungsverlust des Textes verstärkt das ohnehin unverständliche Brimborium des Zauberers Colas, der darauf Wert legt, von seinem Publikum gerade nicht verstanden zu werden.
Nach 1945 stellte sich die Situation anders dar. Ein Neubeginn war gefragt, sowohl in der Instrumentalmusik als auch im gesanglich-sprachlichen Bereich. „Wenn Sprache musikalischen Klang und musikalischen Sinn erhalten soll, muß sie aus der Abhängigkeit ihrer Ver-Tonung entlassen werden, muß sich der Sinn vom Wortklang lösen, gilt es, ihre ‚materiale Struktur’ zu beachten“ , sinnierte Dieter Schnebel. Zwischen Klang und Wortsinn tat sich ein weites Experimentierfeld auf, das Dichter und Musiker beeinflussten.
Schnebel versucht, die Elemente von Sprache zu kategorisieren, wie es der italienische Lautpoet Russolo schon mit den Geräuschen an sich getan hatte. Schnebel unterscheidet Vokale, Laute und Nasale als „Töne mit bestimmter Farbe“, stimmhafte Konsonanten werden als „Farbgeräusche“ bezeichnet, Plosiv- und Zischlaute als „reine Geräusche“ etc. Damit versucht Schnebel eine Katalogisierung des vorhandenen „Vokal-Materials“.
Schnebels Schritt zur Verselbständigung des Sprachklanges geschieht im „Geistlichen Lied“ (später dt 316) für Chor von 1956. Ein Text liegt der Komposition zwar noch zugrunde, vertont wrd er allerdings nicht mehr. Die Universalität der Aussage, ihre Über-sprachlichkeit drückt Schnebel dadurch aus, dass er den hebräischen „Urtext“ auf griechisch, lateinisch, deutsch, englisch, französisch, russisch übersetzt und aus diesen Sprachen die Phoneme exzerpiert, welche die Grundlage des Stückes bilden. Zum Teil belässt Schnebel sie in ihrem ursprünglichen Zusammenhang und ordnet jeder Silbe einem Ton zu. Weitere Phoneme werden verlängert, zerdehnt zum eigenen Klangprozess. Ähnlich Nonos „canto sospeso“ werden dabei die einzelnen Phoneme des Wortes unter die Stimmen verteilt. Das geschieht auch bei den überdehnten und dadurch verfremdeten Silben wie „s-a-ä-i-t“ (seid), „ä-t“ (êtes) oder „go-o-u-t“ (Gott). Zur Verdeutlichung dieser Grundlage schrieb Schnebel in den 60er Jahren die Textverteilung noch einmal unter die eigentliche Partitur, die für die 15 Vokalisten der Schola Cantorum Stuttgart unter Clytus Gottwald gedacht war.