Der Einzige und sein Eigentum
Das Buch Der Einzige und sein Eigentum ist das erstmalig 1844 in Leipzig herausgegebene Hauptwerk von Max Stirner.
Inhalt
Stirner eröffnet mit dem Satz "Ich hab' Mein Sach' auf Nichts gestellt" eine nominalistische Reduktion aller bestehenden Moral- und Wertesysteme, Religionen und sonstiger Ideologien, die das Leben von Individuen innerhalb einer Gesellschaft bestimmen sollen. Dagegen stellt Stirner als einzige Realität das Ich, den „Einzigen“. Nur dieser könne zu echter Handlungsfreiheit im außermoralischen Sinne gelangen: Nur durch die Realisation seines Eigeninteresses kann er seine vormalig entfremdete Lebenszeit und Arbeitskraft retten. Die Schrift gilt damit als radikalstes Werk des Egoismus in der abendländischen Philosophie.
In der ersten Abteilung, „Der Mensch“, versucht Stirner alle Philosophien von der Antike bis zur Neuzeit als Ideologien der Fremdbestimmung zu entlarven. Der Ton ist durchgängig von spöttischem Amoralismus bestimmt und bezieht sich in seinen satirischen Elementen primär auf die europäische Geistesgeschichte des zeitgenössischen Philosophen Hegel. Auch die Ideen der anderen Junghegelianer um Bruno Bauer und Ludwig Feuerbach, die er ob ihres inkonsequenten Atheismus fromme Männer nennt, werden seziert. Max Stirner ist im deutschen Idealismus der erste, der über Gott und alle Positiva behaglich lachen kann. Das Werk hat seine Herkunft im deutschen Idealismus, aber der Bruch damit ist radikal. Noch vor Marx stellte Stirner den Idealismus „vom Kopf auf die Füße“, allerdings ganz anders als jener, nicht auf postulierte Klasseninteressen, sondern ganz aufs Einzelinteresse.
In der Religions- und Kulturgeschichte, die den Hegelschen Positivismus parodiert, befinden sich die Menschen eben auf der Schwelle von der nicht reflektiven Christentümelei auf die neue Ideologie des bürgerlichen Liberalismus. Der Tod der alten Gespenster werde nicht zur Überwindung der christlichen Moral führen, solange Begriffe heilig sein können, mit anderen Worten, man werde keinen Fortschritt erzielen, solange der Mensch ideen- und autoritätshörig bleibt. Bei Hegel ist die autoritäre Struktur in der Phänomenologie des Geistes im Herr-Knecht-Verhältnis beschrieben. Auch der neuzeitliche Liberalismus der „Freien“ sei falsch und biete keine echte Freiheit: denn er predige immer noch Werte und Begriffe. Das „Jenseits außer uns“ sei zwar überwunden, aber noch nicht das „Jenseits in uns“.
Morden im Namen von Jesus (Religionskrieg) könnte sich dann etwa in Morden im Namen der Menschlichkeit verwandeln. Es ist gerade die Beliebigkeit der Ideen, die in der Stirnerschen Darstellung der Geschichte herausgestellt wird. In der Austauschbarkeit solcher Gedankensysteme zeige sich nach Stirner auch ihre Endlichkeit.
In der zweiten Abteilung, „Ich“, legt Stirner das Gegenbild dazu dar. Einzig gesunde Egozentrik ermögliche es dem Einzelnen, sich vor dem Egoismus der Anderen, d.h. der Macht der Privilegierten, zu retten. Stirner beschreibt auch einen Verein der Einzigen, die in freier Assoziation gemeinschaftlich ihre Produktivität entfalten. Die natürliche Konsequenz dieses Werkes dürfte radikalen politischen Anarchismus darstellen. Autorität im Namen der abstrakten Idee ist innerhalb dieses Rahmens destruiert, und der Stirnersche Gedankengang führt in ein Hegelsches Nichts. Hier öffnet sich Raum für Kreatives, hier haben Dialektik und Revolution freies Spiel.
Wirkung
In den Hauptlinien der Philosophie ist das Werk bis heute nicht in größerem Maße rezipiert worden. Kritik kam zunächst von einigen Junghegelianern, am prominentesten Ludwig Feuerbach. Auf diese Kritik antwortete Stirner ausführlich (siehe Literatur). Danach geriet es bis etwa 1900 fast in Vergessenheit, seitdem wird es vor allem in Randnotizen, etwa als abschreckendes Beispiel, erwähnt. Ansätze einer Rezeption finden sich etwa bei Karl Löwith. Kleinere Bewegungen haben sich des Werks allerdings immer wieder angenommen, bis hin zu für Außenstehende befremdlicher Verehrung.
Politische Rezeption findet es vor allem bei Anarchisten aller Couleur, sowohl bei als „links“ geltenden Anarchisten als auch bei Anarchokapitalisten und in einigen Strömungen des Libertarismus. Allerdings gibt es auch hier starke Meinungsverschiedenheiten über das Werk.
In der Nietzsche-Forschung streitet man sich um den Einfluss der Stirnerschen Ideologiekritik auf das Werk von Friedrich Nietzsche. Dass Nietzsche zumindest die Existenz des Buches bekannt war, ist unumstritten; schon die Frage, ob er es gelesen hat, ist ungeklärt. Die Positionen reichen vom Vorwurf des Plagiats, den als erster Eduard von Hartmann erhoben hat, bis zur völligen Gegensätzlichkeit der Stirnerschen und Nietzscheschen Gedanken. Verfechter der Lehre vom starken Einfluss sehen etwa im Übermenschen einen Wiedergänger des Einzigen. Andere verweisen darauf, dass Nietzsche gerade das Konzept eines unteilbaren „Ich“ immer wieder kritisiert hat und damit in seiner Kritik sogar weiter als Stirner gegangen sei; einige Anhänger Stirners sagen dagegen, Nietzsche hätte z.B. seine Lehre von der „Ewigen Wiederkunft“ und seine neuen Werte nur erfunden, weil er sich vor dem Stirnerschen Nihilismus gefürchtet hätte. Siehe hierzu unten Literatur.
Karl Marx schrieb innerhalb der Deutschen Ideologie eine massive Polemik gegen Stirner. Er spottete über Stirner als „Sankt Max“, da dieser selbst den Einzigen heilig gesprochen habe. Die Polemik geriet Marx länger als das (schon sehr umfangreiche) Werk Stirners selbst, und er verzichtete auf eine Veröffentlichung, weil, wie er vorgab, das Buch der Aufmerksamkeit gar nicht wert sei. Sie wurde erst post mortem veröffentlicht.
Weitere Rezipienten:
- Der Sexologe und Psychoanalytiker Wilhelm Reich war ein erklärter Anhänger des Stirnerschen Gedankens.
- Der phantastische Schriftsteller und Filmpionier Hanns Heinz Ewers verarbeitete Stirners Vorstellungen des Ich in seinem Werk weiter.
- Otto Gross versuchte, den "Einzigen" und Freuds Psychoanalyse zu verbinden.
- Der frühe Rudolf Steiner war von Stirners Werk beeinflusst.
- Anarcho-Feministen wie Dora Marsden waren von Stirner inspiriert.
- Heute bezieht sich unter anderem der Bergsteiger Reinhold Messner in seinen Büchern immer wieder auf Stirners Werk.
Kritik
Von Anhängern betont wird vor allem die frühe Form der Ideologiekritik im „Einzigen“. Eine bis heute wichtige Botschaft sei, dass sich der „Einzige“ nicht im Namen irgendeiner Idee irreführen lassen solle. Niemand solle sich von Versprechungen und großen Reden irreführen lassen, um danach zu behaupten, er hätte "von nichts gewusst".
Kritik richtet sich einerseits gegen die Radikalität des Buches und seine angeblich rein destruktive Absicht. Andererseits wurde schon früh (etwa von F.A. Lang im Standardwerk „Geschichte des Materialismus“) darauf hingewiesen, dass Stirners Werk ins Leere laufe, weil der „Einzige“ ja auch aus freien Stücken eine durchaus unegoistische Moral vertreten kann. Die schon genannten Kritik Marx' und einiger Interpreten Nietzsches sieht erstaunlicherweise gerade bei Stirner einen Mangel an Konsequenz, wenn er sein „Ich“ verehrt und über alles stellt; dieses sei aber auch nur eine fixe Idee und ein Produkt unbewusster (Nietzsche, Psychoanalyse) oder gesellschaftlicher (Marx) Kräfte.
Zitate
- „Ich hab' mein' Sach' auf NICHTS gestellt“
- gleichermaßen Motto und Schlusssatz des Buches, paraphrasiert Goethe, der damit wiederum die alte Kirchenliedzeile „Ich hab mein Sach auf Gott gestellt“ parodierte
- „Wie Ich Mich hinter den Dingen finde, und zwar als Geist, so muss Ich Mich später auch hinter den Gedanken finden, nämlich als ihr Schöpfer und Eigner. In der Geisterzeit wuchsen Mir die Gedanken über den Kopf, dessen Geburten sie doch waren; wie Fieberphantasien umschwebten und erschütterten sie Mich, eine schauervolle Macht. Die Gedanken waren für sich selbst leibhaftig geworden, waren Gespenster, wie Gott, Kaiser, Papst, Vaterland usw. Zerstöre Ich ihre Leibhaftigkeit, so nehme Ich sie in die Meinige zurück und sage: Ich allein bin leibhaftig.“
- „Was soll nicht alles Meine Sache sein! Vor allem die gute Sache, dann die Sache Gottes, die Sache der Menschheit, der Wahrheit, der Freiheit, der Humanität, der Gerechtigkeit; ferner die Sache Meines Volkes, Meines Fürsten, Meines Vaterlandes; endlich gar die Sache des Geistes und tausend andere Sachen. Nur Meine Sache soll niemals Meine Sache sein.“
- „Dir kommt mehr zu, als das Göttliche, das Menschliche usw.; Dir kommt das Deinige zu.“
- „Ich bin aber nicht ein Ich neben andern Ichen, sondern das alleinige Ich: Ich bin einzig. Daher sind auch meine Bedürfnisse einzig, meine Taten, kurz Alles an Mir ist einzig.“
- „Man sagt von Gott: »Namen nennen Dich nicht«. Das gilt von Mir: kein Begriff drückt Mich aus, nichts, was man als mein Wesen angibt, erschöpft Mich; es sind nur Namen. Gleichfalls sagt man von Gott, er sei vollkommen und habe keinen Beruf, nach Vollkommenheit zu streben. Auch das gilt allein von Mir.“
- „Mir geht nichts über Mich.“
Literatur
- Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, ISBN 3150030579
- Max Stirner, Recensenten Stirners (Antwort Stirners auf die Kritiker seines "Einzigen": Feuerbach, Hess, Szeliga)
Zur Wirkungsgeschichte:
- Helms, Hans G.: Die Ideologie der anonymen Gesellschaft. Köln 1966 (leitete eine neuerliche Rezeption des "Einzigen" ein, vor allem durch seine umfangreiche Bibliographie)
- Laska, Bernd A. Ein dauerhafter Dissident. Nürnberg 1996 (bietet eine konzise Wirkungsgeschichte des "Einzigen", die dessen Aktualität deutlich zu machen versucht)
Zur Nietzsche-Stirner-Debatte:
- Overbeck, Franz: Erinnerungen an Friedrich Nietzsche. In: Neue Rundschau, Feb. 1906, S. 209-231 (227-228)
- Nietzsches initiale Krise (umstrittene These zu Nietzsches Lektüre des "Einzigen")