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Die Todten an die Lebenden

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Die Todten an die Lebenden ist ein politisches Gedicht, das Ferdinand Freiligrath im Juli 1848 in Düsseldorf verfasste. In dem Gedicht lässt Freiligrath die Berliner Märzgefallenen der Deutschen Revolution zornige Anklagen und revolutionäre Appelle an die Lebenden richten.

Inhalt des Gedichts

Das Gedicht beginnt damit, dass die Berliner Märzgefallenen sich vorstellen und in drastischen Bildern schildern, wie sie im Trauerzug präsentiert wurden. An die Lebenden richten sie den Vorwurf, sich ihres Opfers nicht würdig erwiesen zu haben: „Und Alles feig durch euch verscherzt, was trotzig wir errangen! Was unser Tod euch zugewandt, verlottert und verloren“. An den seit ihrem Tod schmachvollen und ungünstigen Gang der Dinge, die im Einzelnen aufgeführt werden, knüpfen sie die Erwartung, dass ihre Leichen ausgegraben und erneut präsentiert werden müssten, aber nicht vor dem preußischen König, „jenem abgethanen Mann“, sondern hinaus „in’s Land“. Als die Kraft für einen notwendigen „zweiten Krieg“ wird sodann der Zorn der Lebenden in den Blick genommen: „Euch muß der Grimm geblieben sein – o, glaubt es uns, den Todten! Er blieb euch! ja, und er erwacht! er wird und muß erwachen! Die halbe Revolution zur ganzen wird er machen!“ Im Ergebnis dieser durch den „Grimm“ genährten Revolution, in deren Verlauf die Waffengewalt des Heeres unter Führung der Bürgerwehr zum Einsatz kommt, würden König und Fürsten schließlich fliehen müssen, und das Volk, dann souverän, würde seine Zukunft folglich selbst gestalten können.

Geschichte

Vorgeschichte

Ferdinand Freiligraths Lyrik, die zuvor durch romantische Züge geprägt war, hatte sich in den 1840er Jahren zunehmend politisiert. 1844 legte er unter dem Titel Ein Glaubensbekenntniß eine Sammlung politischer Gedichte vor, die Stimmungen des Vormärz aufgriffen und Freiligraths Ruf als politischer Dichter begründeten. Im gleichen Jahr verzichtete er auf eine Pension, die ihm vom preußischen König Friedrich Wilhelm IV. 1842 gewährt worden war, sowie auf eine mögliche Anstellung am Hof von Weimar. Im August 1844 emigrierte er wegen der Gefahr polizeilicher Verfolgung. Er ging nach Brüssel, wo er engen Kontakt zu Karl Heinzen, Karl Marx und Heinrich Bürgers hatte. Anschließend hielt er sich in der Schweiz auf. 1846 veröffentlichte er den Gedichtband Ça ira!. In diesem Werk vertrat er den Standpunkt, dass Deutschland für die Revolution reif sei. Aus finanziellen Gründen reiste er dann nach London, wo er als Angestellter einer Bank und als Dozent an der Universität arbeitete. Er war im Begriff, in die Vereinigten Staaten zu emigrieren, als in Europa eine Reihe von Revolutionen ausbrachen und in einigen Staaten des Deutschen Bundes die „Märzrevolution“ stattfand. Im Königreich Preußen, Freiligraths Heimat, kam es am 18. März 1848 in Berlin zum Barrikadenaufstand, nachdem König Friedrich Wilhelm IV. die Massen mit liberalen Zugeständnissen hatte besänftigen wollen. Bei der Niederschlagung dieses Aufstandes starben über 200 Personen. Am 20. März wurden 183 von ihnen feierlich auf dem Berliner Gendarmenmarkt aufgebahrt und in einem Trauerzug über den Schlossplatz geführt, wo der König den Toten die letzte Ehre erwies, indem er seine Mütze abnahm. Anschließend fanden die Toten ihre letzte Ruhestätte auf dem eigens angelegten Friedhof der Märzgefallenen.

Revolutionäre Aktivitäten in Düsseldorf und Köln

In dieser Situation gab Freiligrath seinen Plan einer Emigration in die Vereinigten Staaten auf. Von London reiste er im Mai 1848 nach Düsseldorf, wo er Freunde hatte und in der Oststraße eine Wohnung nahm. In Düsseldorf schlossen sich seit Beginn der Märzrevolution demokratisch gesinnte Bürger in einer Bürgerwehr zusammen, die ihr Kommandeur Lorenz Cantador vor den Augen der preußischen Obrigkeit und des Militärs durch die Straßen der Stadt paradieren ließ, um den demokratischen Aufbruch und die Machtübernahme durch das Volk zu demonstrieren. Der Düsseldorfer Bürgerwehr gehörte auch Freiligrath an. Außerdem schloss er sich in Düsseldorf dem Volksklub an, einer politisch links stehenden, raschen Zulauf erfahrenden Vereinigung der frühen Arbeiterbewegung, die eine „sociale Demokratie“ in einer „rothen Republik“ anstrebte. In dieser Vereinigung, die Ferdinand Lassalle, Louis Kugelmann und Paul von Hatzfeld zu ihren Mitgliedern zählte, übernahm er zeitweise das Amt des Kassierers. Im Juni war er im Kölner Arbeiterverein zu Besuch, wo er auf Einladung des Vorsitzenden Andreas Gottschalk sein Gedicht Trotz alledem! vortrug.

Veröffentlichung des Gedichts

Im Juli 1848 entstand dann das Gedicht Die Todten an die Lebenden. Es stellt auch eine Reaktion auf die Nachricht von der gewaltsamen Niederschlagung des Pariser Juniaufstandes dar, mit der die Februarrevolution 1848 ein konterrevolutionäres Ende fand, ein Ereignis, auf das der Kölner Politiker Franz Raveaux zum Entsetzen Freiligraths mit einer lobenden Grußadresse an die französische Regierung geantwortet hatte.[1] Freiligrath trug das Gedicht in der Sitzung des Volksklubs am 1. August 1848 vor, die im Wirtshaus von Stübben, nahe des Düsseldorfer Bahnhofs, stattfand. Der Vorsitzende des Volksklubs, Julius Wulff, befand sich zu diesem Zeitpunkt im Düsseldorfer Arresthaus in Haft, nachdem er in einer Volksklub-Veranstaltung am 3. Juli Max Cohnheims Schrift Republikanischer Katechismus an das deutsche Volk vorgetragen und verteilt hatte. Freiligraths Gedicht fand großen Beifall[2] unter den ein- bis zweihundert Zuhörern, die für ihren Zutritt zur Veranstaltung je einen Silbergroschen bezahlt hatten. Im Volksklub wurde beschlossen, das Gedicht sofort drucken zu lassen, um es zugunsten der Vereinskasse für einen Silbergroschen das Stück zu verkaufen. Die Franck’schen Buchdruckerei in der Neustraße von Düsseldorf übernahm den Druckauftrag für 9000 Exemplare, die durch direkten Verkauf und durch den Buchhandel anschließend reißenden Absatz fanden.

Reaktion des Staates, Verhaftung und Prozess

Von diesen Ereignissen erfuhr auch der Ober-Prokurator Karl Schnaase, dessen Aufgabe als Organ der staatlichen Rechtspflege darin bestand, Verstöße gegen die Rechtsordnung zu verfolgen. Er und der General-Prokurator in Köln erkannten in dem Gedicht eine „directe Aufreizung der Bürger zur Bewaffnung gegen die landesherrliche Macht und zum Umsturze der bestehenden Staatsverfassung“. Sie ließen Freiligrath am 29. August verhaften und in die gleiche Zelle des Düsseldorfer Arresthauses bringen, in der bereits Julius Wulff saß und auf seinen Prozess wartete. Am 18. September erfolgte die Anklage wegen „Verbrechen gegen Art 102 und 87 des Straf-Gesetzbuchs“. Am Morgen des 3. Oktober wurde die öffentliche Verhandlung des Königlichen Assisenhofes in Düsseldorf unter Leitung ihres Präsidenten Broicher eröffnet und die Geschworenen vereidigt. Nach Verlesung des Anklageaktes führte Staatsprokurator von Ammon die Anklage näher aus. Nach der Vernehmung des Angeklagten und der Zeugen ergriffen die Rechtanwälte Mayer und Weiler zur Verteidigung Freiligraths das Wort. Sie führten zur Untermauerung ihrer Forderung nach Freispruch des Angeklagten aus, dass sein Gedicht nicht als Straftat, sondern als „Poesie“ und als bildhafte Sprache dichterischer Fantasie zu bewerten sei. Auch andere Dichter seien zu ihrer Zeit hierfür nicht bestraft worden. Eine unmittelbare „Aufreizung“ der Bürger habe sich nicht ereignet. Die Geschworenen, die nach diesen Ausführungen von dem Vorsitzenden um ihr Urteil gebeten wurden, kamen bereits nach wenigen Minuten mit absoluter Mehrheit zur Entscheidung, dass Freiligrath nicht schuldig sei. Daraufhin erhob sich ein Jubel im Gerichtssaal; wiederholt wurde ein Hoch auf den Dichter ausgebracht. Nach der Verhandlung feierten ihn begeisterte Bürger in einem Festzug in den Straßen Düsseldorfs. Laut Polizeiberichten sollen dabei 15.000 Menschen auf den Beinen gewesen sein, unter ihnen Karl Marx. Am Folgetag fand dann der Prozess gegen Julius Wulff statt. Freiligrath war dazu als Zeuge geladen. Auch dieser Prozess endete mit einem Freispruch und Freudenkundgebungen.

Literatur

  • Erster politischer Prozeß vor dem Geschwornen-Gerichte: der Dichter Ferdinand Freiligrath, angeklagt, durch sein Gedicht: „Die Todten an die Lebenden“ die Bürger aufgereizt zu haben, sich gegen die landesherrliche Macht zu bewaffnen, auch die bestehende Verfassung umzustürzen : Verbrechen gegen §§. 102 und 87 des Straf-Gesetzbuches ; nach den am 3. Oktober 1848 zu Düsseldorf stattgehabten Assisenverhandlungen ausführlich mitgetheilt / von J. K. H. Schaub’sche Buchhandlung, Düsseldorf 1848 (Digitalisat der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main)
Wikisource: Die Todten an die Lebenden – Quellen und Volltexte

Einzelnachweise

  1. Thomas Giese: „Trotz alledem und alledem“. Artikel im Portal nrhz.de, abgerufen am 19. Juli 2015
  2. Detlev Hellfaier: „Bitterster Hohn“ über den König. Zum Prozess gegen Freiligrath 1848. Artikel im Portal llb-detmold.de, abgerufen am 19. Juli 2015