Belgische Revolution
In der belgischen Revolution von 1830 erhoben sich die südlichen Niederlande gegen die holländische Vorherrschaft im Vereinigten Königreich der Niederlande unter König Willem I. Die früheren Österreichischen Niederlande waren 1815 als Ergebnis des Wiener Kongresses gemeinsam mit dem Bistum Lüttich an die Niederlande angeschlossen worden. Die bürgerliche, liberale Revolution war die Folge einer tiefgreifenden religiösen, sprachlichen und wirtschaftlichen Kluft, die sich zwischen beiden Landesteilen entwickelt hatte, seit ihre gemeinsame Geschichte im Zuge der Glaubensspaltung und des Achtzigjährigen Krieges im 16. Jahrhundert getrennt worden war. Innerhalb weniger Wochen im August und September führte der Aufstand zur Abspaltung von den Niederlanden und zur Gründung des belgischen Staates.
Belgien und die Niederlande bis 1815
Gemeinsame Geschichte

Die Territorien, die heute die Niederlande, Belgien und Luxemburg umfassen, hatten mit Ausnahme des Bistums Lüttich vom Mittelalter bis ins 16. Jahrhundert als Burgundische Niederlande, zuletzt als Burgundischer Reichskreis gemeinsam zum Heiligen Römischen Reich deutscher Nation gehört und waren kulturell auf das Engste miteinander verbunden gewesen. Die Grafschaft Flandern und das Herzogtum Brabant nahmen mit ihren Städten (Antwerpen, Brügge, Gent, Brüssel, Ypern, Mechelen) eine kulturelle und wirtschaftliche Führungsrolle im niederländischen Raum ein. Die 1464 zum ersten Mal einberufenen Generalstaaten der Niederlande tagten in Brüssel, das höchste Gericht kam in Mechelen zusammen. Vom Haus Burgund waren die Niederlande 1482 durch Erbfolge auf die Habsburger übergegangen und erlebten unter Karl V. eine Blütezeit. Nach dessen Abdankung kam das Territorium als Spanische Niederlande an dessen Sohn Philipp II. und damit an Spanien.
Getrennte Geschichte

Zur Trennung kam es im Zuge der Glaubensspaltung. Während sich im Norden der Calvinismus durchsetzte, behielt der Süden den katholischen Glauben bei. 1568 war der Achtzigjährige Krieg zwischen Spanien und den protestantischen nördlichen Niederlanden ausgebrochen. Während sich die wallonischen Provinzen in der Union von Arras (niederl.: Unie van Atrecht) ausdrücklich zum katholischen Spanien bekannten, schlossen sich 1579 die nördlichen Territorien, einschließlich Flanderns und Brabants, in der Utrechter Union zusammen. 1581 lösten sich die nördlichen Provinzen als Republik der Sieben Vereinigten Niederlande von der spanischen Oberhoheit und vom Deutschen Reich, mit dem sie ohnehin nur noch lose verbunden waren.
Der Fall Antwerpens 1585 markiert eine Zäsur in der Geschichte beider Länder. Mit ihm fiel der Süden dauerhaft an Spanien und zahlreiche Intellektuelle, Künstler und Kaufleute flohen in den Norden. Die Folge war ein Verlust der dominierenden Stellung der flämischen Städte und ein gleichzeitiges Aufblühen im Norden, wo jetzt das Goldene Zeitalter anbrach, während die südlichen Niederlande für Jahrhunderte Teil der absolutistischen Habsburgermonarchie blieben. Die Interessen Madrids nahm ein Provinzstatthalter wahr, der von Brüssel aus regierte. Die Trennung wurde 1648 im Westfälischen Frieden zementiert. Da die Scheldemündung an die Niederländer ging, die diese schlossen, wurde Antwerpen von der See abgeschnitten und sein Handel erlag nun völlig.
1714 wurde das bisher spanische Gebiet im Frieden von Utrecht, der den Spanischen Erbfolgekrieg beendete, als nunmehr Österreichische Niederlande den deutschen Habsburgern zugesprochen.

1789/90 kam es unter Einfluß der Französischen Revolution nach Auseinandersetzungen mit Kaiser Josef II. zu Aufständen in Brabant und Lüttich. Am 11. Januar 1790 erklärten sich die südlichen Niederlande als Vereinigte Niederländische Staaten bzw. Vereinigte Belgische Staaten (Etats Belgiques Unis) unabhängig. Diese konföderierte Republik hatte zwar nur kurze Zeit Bestand, bis er im Dezember wieder von Österreich zurückerobert wurde, doch sollte er eine gewisse Rolle für das Bewußtsein während der Revolution von 1830 spielen.
Nachdem sowohl die österreichischen, als auch die nördlichen Niederlande während des 1. Koalitionskriegs 1794 bzw. 1795 durch französische Revolutionstruppen besetzt worden waren, wurde Belgien durch den Friedensvertrag von Campo Formio ein Teil Frankreichs, während der Norden zur von Frankreich abhängigen Batavischen Republik wurde.
Vereinigtes Königreich der Niederlande 1815-1830
Wiener Kongreß
Noch vor der Schlacht von Waterloo 1815 hatte Großbritannien, das die eigene Sicherheit durch ein Kräftegleichgewicht auf dem europäischen Festland gewahrt wissen wollte, die anderen Großmächte Österreich, Preußen und Rußland davon überzeugen können, die frühere Republik der Sieben Vereinigten Niederlande, die ehemaligen österreichischen Niederlande, Lüttich und Luxemburg zum Vereinigten Königreich der Niederlande zusammenzufügen, um einen Puffer gegen Frankreich zu errichten. Gleichzeitig entschädigten die Briten mit diesem territorialen Zugewinn die Niederlande für die Inbesitznahme der Kapkolonie. Diese Vereinbarung wurde auf dem Wiener Kongreß bestätigt, obwohl die Vertreter der südlichen Niederlande versuchten, wieder unter österreichische Hoheit zu gelangen. Österreich hatte daran jedoch kein Interesse mehr. Auch der Kompromißvorschlag eines unabhängigen Staates unter einem österreichischen Prinzen fand keine Zustimmung, da ein solcher Staat als zu schwach eingeschätzt wurde.
Gemeinsamer Staat
Der neue Staat wurde nicht als föderaler, sondern als Einheitsstaat aufgebaut. Dies sollte sich als schwere Bürde herausstellen, denn schnell wurden die Gegensätze zwischen Nord und Süd zum Problem für das Vereinigte Königreich. Hauptsächliche Faktoren dafür waren religiöse und sprachliche Unterschiede, verschärft wurde die Entwicklung durch wirtschaftliche Probleme und die Nichterfüllung liberaler Forderungen. Das Ungleichgewicht wurde noch dadurch verstärkt, daß auf allen Gebieten der Norden dominierte, obwohl er mit zwei Millionen Einwohnern gegenüber 3,5 Millionen im Süden die deutlich geringere Bevölkerungszahl aufwies. Die mentale Kluft zwischen Belgiern und Holländern wuchs so, daß ein Aufstand unausweichlich schien, zumal auch in Frankreich, Griechenland, Polen und Italien Revolutionen ausbrachen und die unruhige Lage weiter schürten.
Nicht zuletzt trug auch das undiplomatische Auftreten König Willems I. zum Ausbruch der Revolution bei. Willem I. war von den konservativen Staatsvorstellungen der Restauration durchdrungen, die auch unter den Fürsten des Deutschen Bundes vorherrschte, insbesondere bei seinen preußischen Verwandten (seine Mutter Friederike Sophie Wilhelmine, die bis zu ihrem Tod 1820 großen Einfluss auf ihn hatte, war die Schwester des preußischen Königs Friedrich Wilhelm II.).
Religiöse Gegensätze
Im Vereinigten Königreich standen 3,8 Millionen Katholiken (davon 800.000 im Norden) 1,2 Millionen Protestanten gegenüber. Im spanischen Süden war der römisch-katholische Glaube Staatsreligion gewesen, während der Calvinismus früher im Norden Landeskirche gewesen war. Für Konservative auf beiden Seiten waren deshalb zwei gleichberechtigte Religionen im Königreich nicht anzustreben.
Willem I. selbst war ein Anhänger der deutschen lutherischen Tradition der Landeskirche, in denen der Fürst auch Haupt der Kirche war. Er versuchte, die katholische Kirche vom Einfluß der Römischen Kurie zu lösen, berief selbst Bischöfe und entfachte einen Schulstreit, als er 1825 den freien katholischen Schulunterricht abschaffte.
Die Unterrepräsentation des Südens war nicht zuletzt den katholischen Bischöfen zuzuschreiben, die den Gläubigen unter Androhung der Exkommunikation verboten hatten, eine Staatsstellung anzunehmen. Dieses Verbot war schon 1815 von dem französischen Bischof von Gent, Prinz de Broglie, ausgesprochen worden. 1817 eskalierte der Streit zwischen de Broglie und dem Haus Oranien und er wurde seines Amtes enthoben und des Landes verwiesen. Sein persönlicher Haß auf die Oranier hatte solche Ausmaße angenommen, daß er öffentlich das ungeborene Kind der schwangeren Prinzessin von Oranje verfluchte. Den offenen Widerstand der katholischen Kirche nutzte widerum die Regierung, um bei der Ernennung von Beamten für die Beibehaltung des holländisch-protestantischen Charakters des Staatsapparates zu sorgen. Trotzdem wollte König Willem I. das Grundgesetz so anpassen, daß auch ein Katholik König werden konnte.
Aufgebracht durch die Schulpolitik Willems I. und unter dem Einfluß des französischen Priesters Félicité de Lamennais, der eine deutliche Trennung von Kirche und Staat lehrte, näherten sich die Katholiken sogar den Liberalen an, um gemeinsam gegen Willem I. zu opponieren. Im Dezember 1825 rief der katholische Politiker Baron de Gerlache aus Lüttich die Liberalen zum ersten Mal zu einer Vereinigung beider Oppositionsgruppen auf. Er verband die Freiheit des Unterrichts, die die Kirche forderte, mit der persönlichen Freiheit der Religionsausübung und der Presse. Ab 1828 wuchs die gemeinsame Kritik in den Zeitungen. Durch einige Zugeständnisse im Sprachgebrauch und des Schulunterrichts gelang es Willem I. aber, die Katholiken wieder aus der Opposition zu lösen.
Sprachkonflikte
1815 lebten im Süden 218.000 Analphabeten, gegenüber nur 23.000 im Norden. Die Bemühungen Willems I. konzentrierten sich auf dieses Feld: Während seiner 15jährigen Regierungszeit wurden im Süden 1.500 Schulen gebaut, in denen in der Volkssprache unterrichtet wurde, in Flandern und in Brüssel war also Niederländisch Schulsprache, in Wallonien Französisch. Die Zahl der Grundschüler in den südlichen Provinzen verdoppelte sich von 150.000 auf 300.000.
Das frankophone Beamten- und Bürgertum reagierte jedoch empfindlich auf die Durchsetzung der niederländischen Sprache in der Armee, der Regierung und im Schulunterricht in Flandern und später auch in den Arrondissements Brüssel und Löwen. Nicht nur Wallonien war französischsprachig, auch im flämischen Norden sprach die Bourgeoisie französisch, während die übrige flämische Bevölkerung niederfränkische Dialekte sprach. So waren in Limburg noch bis um 1900 Limburgisch, Deutsch und Französisch (v.a. um Maastricht) die führenden Sprachen, während Niederländisch nur sporadisch gesprochen wurde und eher unbeliebt war.
Ökonomische Gegensätze
Der Süden war industriell fortschrittlicher, der Norden traditionell eine auf Seefahrt ausgerichtete Handelsnation. Hatte Willem I. anfangs noch Unterstützung in Belgien, so kam diese v.a. aus der auf wirtschaftliche Entwicklung orientierten, gemäßigt-liberalen Ecke des französischsprachigen Wallonien. Auch in und um Antwerpen hatte die Öffnung der Schelde einiges Wohlwollen zur Folge.
Die Industrien des Südens machten innerhalb kurzer Zeit eine Metamorphose durch: Durch die Abspaltung von Frankreich hatten sie ihren wichtigsten Absatzmarkt größtenteils verloren, doch durch die Öffnung des Antwerpener Hafens und den Zugang zum ostindischen Markt wuchs die belgische Wirtschaft trotzdem stark an. Gent war Ende der 1820er Jahre mit 30.000 gutbezahlten Arbeitern die Textilhauptstadt des europäischen Kontinents und der Schiffsverkehr im Hafen von Antwerpen stieg von 585 Schiffen mit 65.000 Tonnen Fracht 1819 auf 1.028 Schiffe mit 129.000 Tonnen 1829 an.
Andererseits überschwemmte Großbritannien nach dem Wegfall der Kontinentalsperre den Kontinent mit billigen Produkten, gegen die die im Vergleich zu England weniger mechanisierte Industrie der südlichen Niederlande kaum konkurrenzfähig war. Nur wenig später flammte in Ostindien ein langandauernder Aufstand auf, unter dem die Industrie zusätzlich litt. Hinzu kam 1829 eine Mißernte, die die Lebensmittelpreise in die Höhe trieb.
Als Ungerecht wurde die Zusammenlegung der sehr ungleich eingebrachten Staatsschulden (1,25 Milliarden Florin des Nordens gegenüber nur 100 Millionen Florin des Südens) empfunden, die von beiden Landesteilen gemeinsam getragen wurde. Allerdings zahlte der Norden, v.a. Süd- und Nordholland, höhere Steuern. Mit der Algemeene Nederlandsche Maatschappij ter begunstiging van de Volksvlijt, aus der später die Belgische Nationalbank hervorging, richtete Willem I. ein Gegenstück zur Bank von Amsterdam ein. Als öffentlicher Kreditgeber sollte die Gesellschaft die Ökonomie stimulieren.
Unterrepräsentation
Obwohl der Bevölkerungsanteil des Südens 62% betrug, war er nur mit 50% der Sitze im Parlament vertreten und nur einer von fünf Ministern war Süd-Niederländer. Die meisten staatlichen Institutionen waren im Norden angesiedelt, wo auch der größte Teil der Beamten angestellt war.
Das Kontingent, das die südlichen Niederlande für das Militär zu stellen hatten, war unverhältnismäßig groß. Gleichzeitig kam nur einer von sechs Offizieren aus dem Süden, die meistens auch nur in niedrigeren Rängen der Infanterie und Kavallerie zu finden waren. Bei der Artillerie und den Pionieren, für die eine besondere Ausbildung nötig war, war der Anteil belgischer Offiziere noch geringer.
Liberale Forderungen

Die antiklerikal eingestellten Liberalen waren neben Vertretern der Wirtschaft anfangs die einzigen gewesen, von denen Willem I. Unterstützung erhielt. Nach etlichen Enttäuschungen begann Ende der 1820er Jahre für eine Gruppe junger Liberaler der Wunsch nach einer neuen Staatsordnung jedoch stärker zu werden als ihr Antiklerikalismus. Diese Generation hatte die privilegierte Position der Kirche vor der Französischen Revolution nicht mehr kennengelernt und stand unter starkem Einfluß der französischen Liberalen, die zusammen mit der Kirche einen Kampf gegen den absolutistisch regierenden Karl X. führten. Als Element der Meinungs- und persönlichen Freiheit wurde jetzt auch die Freiheit des Glaubens betont. Großen Einfluß auf diese Gruppe junger Liberaler, u.a. Louis de Potter aus Brügge, Joseph Lebeau, den französischstämmigen späteren Premierminister Belgiens Charles Rogier aus Lüttich und den Luxemburger Jean-Baptiste Nothomb hatte der schweizerisch-französische Philosoph Benjamin Constant.
1815 hatte Willem I. dem Süden einen heftig kritisierten und sehr konservativen Grundgesetzentwurf aufgezwungen: Während der Norden seine Zustimmung gab, fiel er im Süden durch. Willem I. wandte eine spöttisch als arimethique hollondaise bezeichnete Interpretation an und erklärte kurzerhand alle Enthaltungen als Zustimmung. Im Grundgesetzt fehlte jede ministerielle Verantwortung dem Parlament gegenüber, das auch weder gesetzgebende Macht, noch das Haushaltsrecht besaß. Überdies wurden die Mitglieder der ersten Kammer nach Vorbild des britischen Oberhauses vom König selbst auf Lebenszeit berufen, die der zweiten Kammer der Generalstaaten nach einem gestuften Zensuswahlrecht gewählt.
Als besonders gravierender Mißstand wurde unter Intellektuellen das Fehlen von Presse- und Versammlungsfreiheit empfunden. Dies wurde als ein zusätzliches Mittel zur Kontrolle durch den Norden wahrgenommen.
Die Revolution von 1830
Politische Krise

1829 wurde die Auseinandersetzung zwischen König und Liberalen immer heftiger. Der König lehnte jede ministerielle Verantwortung gegenüber dem Parlament ab und noch entschiedener eine Trennung von Nord und Süd in Verwaltung und Regierung. Das Regime von Willem I. wurde nach preußischem Muster immer offensichtlicher autoritär. Der König erklärte, daß seine Souveränität zeitlich dem Grundgesetz vorangegangen sei und daß dieses ihn deshalb nicht einschränken könne.
Im Mai 1829, mitten in die politische Krise hinein, berief er seinen Sohn, den Prinzen von Oranien, den späteren König Willem II., zum Vorsitzenden des Ministerrats und Vizepräsidenten des Staatsrates, um deutlich zu machen, daß die Minister allein dem König verantwortlich seien. Regierungskritik bedeutete unter diesen Voraussetzungen einen Angriff auf die Monarchie.
Die Presse, v.a. der Courrier des Pays-Bas, hatte zunehmend ihre Stimme gegen Willem I. erhoben und immer weitgehendere Forderungen gestellt, wodurch sich die Regierung schließlich zu energischem Auftreten veranlaßt sah. Am 11. Dezember 1829 erschien mit einem reaktionären Pressegesetzentwurf eine königliche Botschaft, die von allen Beamten unter Androhung der Absetzung binnen 24 Stunden unterzeichnet werden mußte und in der diese ihre Loyalität zum König und ihre Zustimmung zum Grundgesetz versichern mußten. Gleichzeitig wurde gegen die Presse streng eingeschritten und nach einem aufsehenerregenden Prozess wurden im März mehrere der angesehensten Stimmführer der Opposition des Landes verwiesen, darunter Louis de Potter (der 1828 bereits zu einer 18monatigen Haftstrafe verurteilt worden war), François Tielemans und Adolf Bartels.
Äußere Einflüsse

Die Julirevolution vom 27. Juli 1830 in Paris hatte für kaum drei Tage König Karl X. gestürzt und den Bürgerkönig Ludwig Philipp auf der Grundlage einer konstitutionellen Monarchie an die Macht gebracht. Er wurde ein roi des Français par la volonté nationale. Diese liberale Revolution strahlte auf Belgien aus und verstärkte die unruhige Stimmung. Manche hofften, notfalls auf militärische Hilfe Frankreichs rechnen zu können, andere setzten auf innere Reformen der Vereinigten Niederlande.
Während die Revolution in Frankreich liberal ausgerichtet war, standen die Revolutionen in Griechenland, Polen und Italien, die im Zeitraum von 1829 bis 1831 ausbrachen, im Zeichen eines romantisch inspirierten Nationalismus. Hier stand das Volk im Mittelpunkt, das durch historische Entwicklungen verbunden sei und eine Gemeinschaft bilde, die das Recht auf Selbstregierung und die Bildung einer Nation habe.
Die August-Unruhen
Am 24. August 1830 brach nach einer Vorstellung der romantisch-nationalistischen Oper La Muette de Portici ('Die Stumme von Portici' von Daniel-François-Esprit Auber) in der Brüsseler Oper im Publikum der Ruf vive la liberté los. Nach dem Ende der Aufführung zog das Publikum aus dem Theater und ließ die Menschenmasse, die sich ironischerweise zur Feier des Geburtstags König Willems I. versammelt hatte außer Kontrolle geraten. Gemeinsam stürmte man den Justizpalast. Am späten Abend wurde das Haus des Verlegers Libry-Bagnano geplündert (möglicherweise auf Agitation französischer Geheimagenten) und das des Ministers van Maanen, der treibenden Kraft hinter der Sprachpolitik des Königs, in Brand gesteckt. Die amtliche Druckerei wurde zerstört. Als die herbeigeeilten Ordnungskräfte von der Schusswaffe gebrauch machten, gab es Tote.
Die Unruhen sprangen auf Arbeiter und Arbeitslose über und am nächsten Tag zerstörten Maschinenstürmer die Dampfmaschinen und Webstühle in den Brüsseler Fabriken, die für die Massenarbeitslosigkeit verantwortlich gemacht wurden, und plünderten Lebensmitteldepots. Ab dem 27. August kam es zu ähnlichen Aktionen in Lüttich, Verviers, Hoei, Namen, Mons und Löwen.
Das Bürgertum, das sich nun bedroht sah und feststellen mußte, daß die Regierung die Situation nicht in den Griff bekam, stellte in verschiedenen Städten Bürgerwehren auf, die die Lage schnell unter Kontrolle brachten. Durch diese Erfolge selbstbewußt geworden, übernahm eine Gruppe von Honoratioren, die im Brüsseler Rathaus zusammengekommen war, die Initiative und entsandte am 28. August eine Abordnung mit der Forderung zu Willem I., Justizminister van Maanen zu entlassen und in einem Eilverfahren die Mißstände in den Generalstaaten zu besprechen. Von einer Trennung Belgiens von den Niederlanden war zu diesem Zeitpunkt noch kaum die Rede.
Die Versammlung hißte die Brabantisch-Hennegauische Trikolore, die das Symbol des Brabanter Umsturzes von 1789 gewesen war. Sie wurde am 26. August vom Rechtsanwalt und Redakteur Lucien Jottrand und dem Journalisten Edouard Ducpétiaux entworfen und war als Gegenentwurf zur französischen Trikolore gedacht, da man eine militärische Intervention Frankreichs befürchtete. Nach der Unabhängigkeit Belgiens wurde aus dieser Fahne die Nationalflagge Belgiens.
Die Septemberrevolution
Das zaudernde und ungeschickte Auftreten Willems I. und seiner Söhne führte im September 1830 zum endgültigen Bruch. Zwar hatte er schon im Juni die unbeschränkte Sprachfreiheit wieder eingeführt und ein umstrittenes philosophisches Seminar für Priester wieder abgeschafft, ließ aber weder Pressefreiheit, noch eine Staatsreform zu. Während er seinen Sohn, den späteren Willem II., zu Verhandlungen nach Brüssel schickte, stand sein anderer Sohn, Prinz Friederich, als Oberbefehlshaber der Armee mit einer 6000 Mann starken Truppe in und um Vilvoorde bereit. Dieses Auftreten wurde als das eines Besatzers aufgefasst. Vorläufig blieben die Truppen jedoch in Vilvoorde und Prinz Willem kam unter Begleitung der Brüsseler Bürgerwehr in die Stadt. Dort verlangte man eine steuerliche Trennung von Belgien und den Niederlanden. Willem I. zögerte jedoch und ließ mehrere Wochen verstreichen.
Während die belgischen Abgeordneten der Generalstaaten am 13. September zu einer außerordentlichen Sitzung nach Den Haag zogen, wurden die Auseinandersetzungen in Brüssel wieder gewalttätiger, v.a. seit Anfang September bewaffnete Verstärkung aus Lüttich eingetroffen war. Spontan wurden Freikorps errichtet, die von gewählten oder selbsternannten Führern befehligt wurden.

Am 23. September marschierte die Armee mit 12.000 Soldaten in Brüssel ein. Der Volkszorn schlug nun in einen nationalen Aufstand um und die Truppen, die sich im Park de Warande aufgestellt hatten, wurden zur Zielscheibe der Bürgerwehr und der zahlreichen herbeigeströmten Idealisten. Auch aus dem Ausland schlossen sich Freiwillige an: so wurde in Frankreich die Légion belge parisienne aufgestellt, die aus Privatmitteln finanziert wurde (u.a. durch den Grafen von Merode) und zwei Bataillone mit jeweils 400 Mann umfaßte. Dies geschah mit Zustimmung der französischen Regierung, die einen eventuellen Anschluß Belgiens an Frankreich ins Auge fasste.
Nach viertägigen Gefechten zog die niederländische Armee in der Nacht vom 26. auf den 27. September ab. Beide Seiten hatten hunderte Tote und Verletzte zu beklagen.
Die Regierungstruppen, die zu 2/3 aus Süd-Niederländern rekrutiert waren, erwiesen sich als sehr empfänglich für die revolutionären Ideen und fielen rasch auseinander. Befehle wurden verweigert und schließlich kam es zu massenhaften Desertationen und zu Gefangennahmen Nordniederländischer Offiziere. Trotz ihrer bunten Mischung waren die Freiwilligenbrigaden deshalb fast überall erfolgreich, die Stellungen der regulären Truppen einzunehmen. Bis auf die Gemeinden Mook und Middelaar in Nordlimburg und die Städte Maastricht und Luxemburg (die zum Deutschen Bund gehörte und in der deshalb preußische Truppen stationiert waren) war Ende Oktober das gesamte Gebiet Belgiens 'befreit' und in der Hand der Freikorps. Von 1830 bis 1839 blieben auch einige Gebiet faktisch unter belgischer Kontrolle, die vor 1815 nicht zu den Österreichischen Niederlanden gehört hatten, ehe sie wieder an die Niederlande übergeben wurden.
Die Bildung des belgischen Staates
Vorläufige Regierung

Schon während der Gefechte hatte sich am 23. September ein 'Verwaltungsausschuß' gebildet, der aus Brüsseler Honoratioren bestand und den Aufstand zu lenken versuchte. Am 29. September erklärte das Komitee, die Regierungsgewalt des Königs zu übernehmen und am 4. Oktober proklamierte es die Unabhängigkeit der belgischen Provinzen und ernannte zwei Tage später eine Kommission zur Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs. Außerdem ernannte sie ein Gericht und die allgemeine Verwaltung und organisierte Wahlen zu einem Nationalkongreß. Jetzt wurde es üblich, die Kommission als ‚Provisorische Regierung’ zu bezeichnen. Die spontan eingerichtete Institution bestand aus neun Personen: Charles Rogier, Louis de Potter, Alexandre Gendebien, dem Grafen Félix de Mérode, Baron Emmanuel d’Hoogvorst, André Jolly, Sylvain van de Weyer, Baron José de Coppin und Joseph Vanderlinden.
Der Nationalkongreß

Während sich die militärischen Positionen konsolidierten und man sich um einen Waffenstillstand bemühte, hatten am 3. November in ganz Belgien Wahlen zu einem Nationalkongreß stattgefunden. Wahlberechtigt waren allerdings nur gut 46.000 steuerzahlende, männliche Bürger über 25 Jahre, d.h. etwa 1% der Bevölkerung. Die Wahlbeteiligung lag bei 75%. Der Nationalkongreß trat am 10. November zum ersten Mal zusammen und bestätigte die am 4. Oktober ausgerufene Unabhängigkeit des belgischen Staates. Ausgenommen davon war Luxemburg, das Mitglied des Deutschen Bundes war. Zum ersten Vorsitzenden wurde Erasme Louis Surlet de Chokier gewählt. Am 25. Februar 1831 wurde die vorläufige Regierung vom Nationalkongreß entbunden. Der Nationalkongreß bestand bis zur Wahl des ersten Parlaments am 8. September 1831.
Grundgesetz
Die wichtigste Aufgabe des Nationalkongresses war es, ein Grundgesetz für den neuen Staat zu beschließen. Seit dem 25. November wurde im Nationalkongreß über den Entwurf der vorläufigen Regierung debattiert, der schließlich am 7. Februar 1831 angenommen wurde.
Das Grundgesetz war eine Synthese der französischen Verfassungen von 1791, 1814 und 1830, des niederländischen Grundgesetzes von 1814 und des englischen Staatsrechts. Das Ergebnis ging aber weit über ein einfaches eklektisches Gesetzeswerk hinaus. Das Hauptprinzip war die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative. Der König und die Minister bildeten die ausführende Gewalt, wobei die Macht des Königs stark eingeschränkt war. Kein vom König unterzeichnetes Gesetz war ohne Gegenzeichnung durch einen Minister gültig. Die Minister waren dem Parlament verantwortlich, dessen zwei Kammern aus dem Abgeordnetenhaus und dem Senat bestand, der König hatte die Gesetze zu bestätigen. Alle Abgeordneten wurden nach einem Zensuswahlrecht gewählt. Das passive Wahlrecht sah noch größere Hürden vor: Wählbar waren nur Männer, die eine relativ hohe Steuer zahlten und mindestens 40 Jahre alt waren. Trotz dieser Einschränkungen, die zu ihrer Zeit kaum als antidemokratisch wahrgenommen wurden, galt die Verfassung als die progressivste und liberalste ihrer Zeit. Der belgische Staat kann als erste parlamentarische Monarchie überhaupt angesehen werden. Die Gerichte waren unabhängig, ihre Sitzungen hatten öffentlich stattzufinden. Den Bürgern wurden weitreichende Grundrechte garantiert: Gleichheit vor dem Gesetz, das Recht auf persönliche Freiheit, auf Eigentum, das Briefgeheimnis, Religions-, Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit wurden festgeschrieben. Aus Sorge vor separatistischen Bestrebungen wurde der Staat sehr zentralistisch organisiert. Die Grundzüge der Verfassung von 1831 sind bis heute gültig.
Die Monarchie
Zunächst diskutierte der Kongreß noch, ob nicht auch ein Mitglied des Hauses Oranien König werden könne, doch als am 27. Oktober die Stadt Antwerpen aus der Zitadelle heraus vom niederländischen General Chassé beschossen wurde, war der Haß und die Erbitterung zwischen Belgiern und Holländern so gesteigert, daß eine Versöhnung nicht mehr möglich war und man schloss die Oranier vom Thron aus. De Potter beantragte nun die Proklamation der Republik, doch auf Antrag des Präsidenten Surlet beschloss die Versammlung am 22. November die Errichtung einer parlamentarischen Monarchie unter einer neuen Dynastie mit 187 gegen 13 Stimmen. Zunächst wurde die Krone dem 16jährigen Prinz Ludwig, Sohn des französischen Königs Ludwig Philipp angetragen, doch dies war für England nicht hinzunehmen. Als vorläufiger Regent wurde deshalb am 25. Februar 1831 Surlet de Chokier benannt und war damit das erste Staatsoberhaupt des jungen Staates, an seiner Stelle wurde Étienne Constantin de Gerlache neuer Vorsitzender des Kongresses.
Nun wurde (gegen den Protest des katholischen Klerus) dem deutschen Prinzen Leopold von Sachsen-Coburg und Gotha, der in England lebte und bis zu ihrem Tode 1817 mit der britischen Thronerbin Charlotte verheiratet gewesen war, der Thron angeboten. Leopold hatte zuvor den griechischen Königstitel ausgeschlagen, akzeptierte aber den belgischen und wurde am 4. Juni 1831 mit 142 von 196 Stimmen gewählt. Am 21. Juli, der seitdem belgischer Nationalfeiertag ist, legte er auf dem Brüsseler Königsplatz den Eid auf die Verfassung ab und wurde erster König der Belgier.
Behauptung der Souveränität
Annexionsversuch Frankreichs
Während all dessen verfolgte Frankreich weiter die Idee einer Annexion wenigstens von Teilen Belgiens. Talleyrand legte einen detaillierten Plan zur Aufteilung des Gebietes unter den Nachbarländern Frankreich, Preußen und den Niederlanden vor, bei dem ein 'Freistaat Antwerpen' unter britischer Protektion stehen sollte.
Tatsächlich war für nicht Wenige, nicht zuletzt in der vorläufigen Regierung selbst, die Angliederung Walloniens oder auch ganz Belgiens an Frankreich das eigentliche Ziel des Aufstandes und die Ausrufung der Unabhängigkeit Belgiens nur ein Schritt in diese Richtung gewesen. Diese, als Rattachisme bezeichneten Bestrebungen verfolgte zunächst auch der spätere Premierminister Belgiens, der aus Frankreich stammende Lütticher Revolutionär Charles Rogier.
Konferenz von London (1830)
Da sowohl Großbritannien, als auch Preußen eine Stärkung Frankreichs unbedingt vermeiden wollten, setzten die beiden Großmächte die Unabhängigkeit Belgiens bei einer Konferenz in London durch. Gegen die von Tayllerand vertrenen Interessen Frankreichs betonte der britische Außenminister Lord Palmerston das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung. Rußland unterstützte zwar den niederländischen König, war jedoch mit dem Aufstand in Polen gebunden und konnte keine Unterstützung leisten. Am 20. Dezember 1830 erkannten die europäischen Großmächte die belgische Unabhängigkeit mit der Auflage der striken Neutralität des neuen Königreichs an.
Zehntägiger Krieg
Willem I. konnte sich mit dieser Situation freilich nicht zufriedengeben, marschierte am 2. August 1831 in Belgien ein und erreichte ohne große Gegenwehr Brüssel. Nachdem ein französisches Heer aber von Süden die Grenze überschritt, mußten sich die Niederländer, die schon vor Löwen standen, nach zehn Tagen wieder zurückziehen.
Vertrag von London (1839)

Die Niederlande erkannten trotz der militärischen Niederlage erst acht Jahre später die Unabhängigkeit Belgiens offiziell im Vertrag der XX. Artikel an. Dieser schloss direkt an den Vertrag von 1830 an, der von Willem I. nicht unterzeichnet worden war und wurde erneut in London ausgehandelt. Mit dem Vertrag von 1839 nahm das Vereinigte Königreich der Niederlande auch juristisch ein Ende und war die Trennung endgültig vollzogen. Belgien gewann damit die staatliche Unabhängigkeit, verlor aber die Teile seines Staatsgebiets wieder, die vor 1815 nicht zu den Österreichischen Niederlanden gehört hatten: Ost-Limburg wurde wieder Teil der Niederlande (Limburg war schon seit dem Westfälischen Frieden 1648 geteilt gewesen) und gleichzeitig Mitglied im Deutschen Bund, während West-Limburg belgische Provinz blieb. Auch der nördlichste Teil Flanderns (Zeeuws Vlaanderen) an der Scheldemündung wurde erneut niederländisch, der südlichste (Französisch-Flandern) französisch, wie schon seit 1678. Eupen kehrte in den Deutschen Bund zurück und kam erst nach dem Ersten Weltkrieg wieder zu Belgien. Ein großer Teil Luxemburgs blieb dagegen als Provinz Luxemburg bei Belgien und schied damit auch aus dem Deutschen Bund aus, das verkleinerte Großherzogtum Luxemburg wurde wieder in einer Personalunion mit den Niederlanden verbunden, gewann aber dafür weitgehende Autonomie und verblieb im Bund, bis es 1890 die volle Souveränität erlangte.
Neben den territorialen Bestimmungen sah der Vertrag vor, daß die Niederlande Belgien den freien Zugang zum Hafen von Antwerpen über die Schelde und eine Eisenbahnverbindung durch Ost-Limburg ins Ruhrgebiet garantieren mußten (den sog. Eisernen Rhein). Alle Einwohner Belgiens und der Niederlande sollten frei wählen können, welche Staatsbürgerschaft sie annehmen wollten. Die Sicherheit und strikte Neutralität Belgiens wurde bestätigt.
Nachwirkungen
Wirtschaftliche Folgen für Belgien
Die unmittelbaren ökonomischen Folgen der Unabhängigkeit waren für Belgien verheerend: Hatte die wichtigste Industriestadt Gent 1829 noch 7,5 Millionen kg Baumwolle verarbeitet, so waren es 1832 nur noch 2 Millionen kg. Als unmittelbare Folge der Sezession waren die meisten Arbeiter arbeitslos geworden und die Löhne für die verbliebenen Stellen hatten sich auf 30% des Niveaus von 1829 reduziert.
Noch schlimmer sah es für die Hafenstadt Antwerpen aus: 1829 betrug der Schiffsverkehr noch 1.028 Schiffe mit 129.000 Tonnen Fracht. Das war doppelt so viel, wie Rotterdam und Amsterdam zusammen aufbrachten. 1831 liefen nur noch 398 Schiffe ein und der Handel mit Ostindien hörte völlig auf.
Die belgische Neutralität
Die 1830/39 festgeschriebene Neutralität Belgiens wurde erst 1914 mit der dem Schlieffen-Plan folgenden Invasion Deutschlands gebrochen. Da der Londoner Vertrag immer noch Gültigkeit hatte, wurde Großbritannien als Garantiemacht damit zwangsläufig in die Kriegshandlungen hineingezogen, so daß die Verletzung der Neutralität letztlich den Ersten Weltkrieg mit auslöste. Daß Belgien bis dahin 84 Jahre lang von Kriegen verschont blieb, ist eine der großen Leistung der internationalen Diplomatie des 19. Jahrhunderts.
Sprachpolitik

Als Reflex auf die Schul- und Sprachpolitik König Willems I., die die niederländische Sprache enorm befördert hatte, war es eine der ersten Maßnahmen der vorläufigen Regierung, alle öffentlichen Schulen wieder abzuschaffen. Nur die französischsprachigen Universitäten von Gent und Lüttich blieben erhalten und dienten zur Bildung einer neuen Elite. Als Folge davon waren bei der Musterung zum Militär noch 1900 10,1% Analphabeten gegenüber nur 2,3% in den Niederlanden, 4,7% in Frankreich und lediglich 0,5% in Deutschland. 1913 gab es in Belgien (bei 7,5 Millionen Einwohnern) weniger Grundschüler als in den Niederlanden (mit 6 Millionen Einwohnern). Damit stand Belgien 1914 auf dem selben Niveau wie 1814.
Langfristig konnte der Sprachenstreit nicht gelöst werden, ja verschärfte sich im belgischen Staat noch. Als Reaktion auf die Vorrangstellung des Niederländischen im Vereinigten Königreich folgte nun die Bevorzugung der französischsprachigen Wallonen. Auch in Flandern sollte Niederländisch nur in der Grundschule benutzt werden, ab der Sekundarstufe verlief der Unterricht auf Französisch. Praktisch war Belgien l'état franco-belge, ein französisch-belgischer Staat. Le Flamand wurde zum Schimpfwort um eine Reihe von Mundarten anzudeuten, Niederländisch in den ersten Jahren die "Sprache der Holländer".
Belgisches Nationalbewußtsein
Die belgische Revolution knüpfte enger an die liberale französische Julirevolution an, als andere Ereignisse des Jahres 1830. Während die Aufstände in Polen, Griechenland und Italien und der deutsche Vormärz stark von einem romantischen Nationalismus geprägt waren, bildete sich in Belgien auf lange Sicht kein ausgeprägtes Nationalbewußtsein heraus. Definierten Italiener oder Deutsche die Kulturnation über die Sprache, so wurde gerade der Sprachenstreit zwischen Flamen und Wallonen zum dauerhaften Hindernis für die innere Einheit Belgiens. Der belgische Staat wurde von Anfang an eher in Abgrenzung zu den Niederlanden bzw. zu Frankreich bestimmt, als aus sich heraus.
Schon unmittelbar nach 1830 entstanden politische Kreise mit dem Ziel, Flandern wieder mit den Niederlanden bzw. Wallonien mit Frankreich zu vereinigen. Die erste Richtung wurde Orangisme genannt und mündete schließlich in der Vlaamse Beweging, die pro-französische wird Rattachisme genannt.
Als Napoleon III. die Annexion Belgiens an Frankreich betrieb, kam es 1860 zu einer Annäherung an die Niederlande und sogar der als Rattachist geltende Premierminister Charles Rogier erklärte nun, daß das frühere Vereinigte Königreich als Konföderation unter zwei getrennten Regierungen wieder hergestellt werden müsse. Deshalb ließ er die Nationalhymne Brabançonne anpassen, deren Text bis dahin gegen die Holländer polemisiert hatte. In den 1920er Jahren gewann der Gedanke an eine Wiedervereinigung von Belgien und den Niederlanden erneut an Attraktivität. Heute stehen etwa 30% der flämischen Bevölkerung solchen Gedankenspielen positiv gegenüber.
Gleichwohl entwickelte sich Belgien zu einem stabilen Staat, der bis heute die 1830 festgelegten Grundzüge seines politischen Systems beibehalten hat. Lediglich die Gliederung Belgiens wurde im späten 20. Jahrhundert vom Zentral- zu einem föderalen Staat modifiziert und in der Sprachpolitik konnte das Niederländische seit den 1960er Jahren eine Gleichberechtigung gegenüber dem Französischen erreichen. War die Errichtung der parlamentarischen Monarchie, statt einer Republik, nach der bürgerlichen Revolution von 1830 eher ein Zugeständnis an die internationale Politik, um Unterstützung für die staatliche Unabhängigkeit zu erhalten, so trug sie als integrative Kraft doch wesentlich zur Stabilität des Landes bei.
Literatur
- Dieter Langewiesche: Europa zwischen Restauration und Revolution 1815–1849. (=Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Band 13). 4. Auflage. München 2004. ISBN 3-486-49764-2
- Gordon A. Craig: Geschichte Eruopas 1815-1980, 3. Auflage, München 1989. ISBN 3-406-09567-4
- Dokumente der Geschichte Belgiens. Band 2: Belgien der Neuzeit. Von 1830 bis heute. (Informationsbericht. Sammlung 'Ideen und Studien'. Nr. 109, 1978). Hg. v. Ministerium für Auswärtige Abgelegenheiten und Entwicklungszusammenarbeit. Brüssel 1978.
- Rolf Falter: Achtiendertig: de scheiding van Nederland, België en Luxemburg. Tielt 2005. ISBN 90-209-5836-4