Heysesche s-Schreibung
Die Heysesche s-Schreibung bezeichnet in der deutschen Rechtschreibung eine Regel, die festlegt, ob der stimmlose Laut [s] als „ss“ oder als „ß“ geschrieben wird. Seit der Rechtschreibreform von 1996 hat sie die vorher geltende Adelungsche s-Schreibung ersetzt. Beide Regeln behandeln ausschließlich die Verteilung von „ss“ und „ß“, setzen also voraus, dass diejenigen Fälle bekannt sind, wo ein einfaches „s“ geschrieben wird.
Die Regel der Heyseschen s-Schreibung für die Verteilung von „ss“ und „ß“ lautet:
- Nach langem Vokal oder Diphthong schreibt man „ß“, nach kurzem Vokal schreibt man „ss“.
In der Adelungschen Schreibweise hingegen gibt es zu dieser Regel, die auch in der Adelungschen Schreibweise gilt, folgende Ausnahmen: „ß“ statt „ss“ steht:
- am Wortende: muß, Roß, Kuß, daß
- vor einer Wortfuge: kußecht, Schlußstrich, Paßbild
- vor einem Konsonanten: müßt, paßt, häßlich, wäßrig, unvergeßne, Rößl
Geschichte
Die Heysesche Schreibregel wurde im Jahr 1829 formuliert. Es ist ungeklärt, ob sie Johannn Christian August Heyse (1764–1829) oder seinem Sohn Karl Wilhelm Ludwig Heyse zuzuschreiben ist.
Zunächst fand die neue Regel wenig Freunde. Auch Karl Wilhelm Ludwig Heyses Sohn Paul Heyse (1830–1914), dem 1910 als erstem Deutschen der Literatur-Nobelpreis verliehen wurde, verwendete diese Schreibweise nie.
Im Jahr 1876 protokollierte die Erste Orthographische Konferenz zum Thema Heysesche s-Schreibung:
- Demnächst empfahl Hr. Scherer, für jetzt bei der allgemein verbreiteten Adelungschen Regel stehen zu bleiben; Heyse sei bisher im wesentlichen nur in Schulen durchgedrungen, und aus Österreich können Redner bezeugen, daß auch wer danach unterrichtet werde, die Heysesche Regel später wieder aufzugeben pflege.
Erst 1879 kam die Heysesche s-Schreibung zu Ehren, indem sie in Österreich als Rechtschreibregel eingeführt wurde. Von den meisten österreichischen Zeitungen wurde sie allerdings nicht angewandt.
Im Jahr 1902 wurde die Heysesche s-Schreibung auf der Zweiten Orthographischen Konferenz aufgegeben, da sie zu vermehrten Schreibfehlern geführt hatte. Statt dessen wurde die Adelungsche s-Schreibung eingeführt.
Bei der Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996 wurde die Heysesche s-Schreibung zur Schreibregel erhoben, wobei Ausnahmen bestehen blieben. Im Zuge der Korrektur dieser Reform beschäftigt sich der Rat für deutsche Rechtschreibung auch mit dieser Regel, die nach wissenschaftlichen Studien wieder zu häufigeren und neuartigen Schreibfehlern geführt hat.
Eigenschaften
Laut-Buchstaben-Zuordnung
Die Heysesche s-Schreibung wendet die Regel, dass Doppelkonsonanz die Kürze des vorangehenden Vokals anzeigt, auch auf die s-Laute an. Dadurch wird die unterschiedliche Aussprache von Wörtern, bei denen der Kurz- oder Langvokal identisch geschrieben wird, in der Schreibung deutlich:
- Kuss, Nuss – Ruß, Fuß
- floss – Floß
Nach der Adelungschen Regelung werden alle diese Wörter mit „ß“ geschrieben:
- Kuß, Nuß – Ruß, Fuß
- floß – Floß
Die Heysesche Schreibung erleichtert dem Leser die Aussprache unbekannter Wörter, wovon insbesondere diejenigen profitieren, die Deutsch als Fremdsprache lernen.
Stammprinzip
In der Heyseschen s-Schreibung gilt das Stammprinzip, dass der gleiche Wortstamm gleich geschrieben wird:
- „hassen“ – „er hasst“ - Hass.
Ausnahmen:
- verschiedene Endungen auf einfaches „s“ (z. B. Ergebnisse aber Ergebnis, nicht Ergebniss);
- bei Wörtern aus starken Flexionsklassen, deren Worstamm veränderlich ist (z. B. fließen → floss, nicht floß).
In der Adelungschen s-Schreibung gilt das Stammprinzip nicht:
- „hassen“ – „er haßt“
Kritik
Gefahr der Übergeneralisierung
Die Heysesche s-Schreibung führt gelegentlich zur ÜbergeneralisierungVorlage:Ref, weil sie dahin gehend mißverstanden wird, als laute die zugrundeliegende Regel:
- Nach kurzem Vokal folgt immer „ss“, nach langem Vokal oder Doppelvokal folgt „ß“.
Dieses „Missverständniss“ (;--;) führt zu neuen Schreibfehlern wie „Ausweiß“, „Kisste“, „Ergebniss“, „Zeugniss“ oder „Ohne Fleiß kein Preiß“.
Beispiele für die falsche Anwendung der Heyseschen s-Schreibung sind seit der Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996 vermehrt in der Presse und sogar in Schulbüchern zu finden, was dazu geführt hat, dass es mehr und mehr Verfechter der Adelungschen s-Schreibung gibt.
Kritiker dieses Standpunkts halten jedoch entgegen, dass sich nicht erklären lasse, wo die Ursachen für diese Entwicklung liegen. Eine drastische Zunahme von Rechtschreibfehlern sei nämlich in allen Bereichen der Orthographie zu beobachten, was darauf hindeute, dass nicht die Heysesche s-Schreibung dafür ursächlich sei, sondern die starke Beschleunigung der Kommunikation insbesondere durch formlosere elektronische Medien wie E-Mail und SMS, in deren Folge das Bewusstsein für Orthographie generell stark abgenommen habe. Die Presse stehe zudem unter höherem Zeitdruck und setze wesentlich weniger Korrektoren ein. Diese Argumentation erscheint freilich eher spekulativ, wenngleich prima facie einleuchtend.
Ausspracheunterschiede
Ein weiterer regelmäßig geäußerter Kritikpunkt ist, dass die Aussprache einiger Wörter nicht überall im deutschen Sprachraum gleich sei und die Heysesche Schreibweise daher vermehrt Doppelformen erfordere oder Fehler provoziere. Beispiele seien die „Maß Bier“, die in Bayern anders als im übrigen deutschen Sprachraum mit kurzem a gesprochen werde, sowie der „Spaß“, der in einigen Gegenden umgangssprachlich auch mit kurzem Vokal gesprochen werde. Damit sei die korrekte Schreibweise einiger Wörter regionalen Unterschieden unterworfen.
Um dieser Inkonsistenz zu begegnen, wurden neuerdings auch alternative Schreibweisen zugelassen; die 22. Auflage des Duden erlaubt jetzt in bayerischen Texten auch die Schreibweise „Mass“ und in österreichischen „Geschoß“ statt „Geschoss“.
Die Gegenkritik führt jedoch an, dass solcherlei Unterschiede auch unter der Adelungschen Schreibweise bestehen, etwa beim Plural „Geschosse“ (österreichisch „Geschoße“). Zudem seien nur sehr wenige Wörter von dieser Problematik betroffen und diese als Teil des Dialekts anzusehen; im schriftlich niedergelegten Dialekt ergeben sich auch bei anderen Wörtern regelmäßig Unterschiede in der Schreibweise, etwa bayerisch „Preiß“ statt „Preuße“.
Weiterführende Informationen
Quellen
Literaturangaben
- Frank Müller, Nele Winkler: Totenschein für das Eszett. In: Literaturkritik, Ausgabe 1 (Januar 2004)