Reichsversicherungsamt

Das Reichsversicherungsamt (RVA) war die oberste Aufsichts- und Spruchbehörde für die Sozialversicherung im Deutschen Reich. Es bestand von 1884 bis 1945 und nahm exekutive wie judikative Aufgaben wahr; in Teilbereichen hatte es sogar beschränkte legislative Kompetenzen. Der Sitz war zunächst in Berlin-Tiergarten, bald in Berlin-Mitte, Wilhelmplatz (siehe Bild), später erhielt das Amt einen Neubau am (heutigen) Landwehrkanal.[1]
Geschichte, Organisation und Zuständigkeiten
Die Einrichtung des RVA erfolgte aufgrund des Unfallversicherungsgesetzes vom 6. Juli 1884, veröffentlicht 1885.[2] Es nahm seinen ersten Verwaltungssitz in der Linkstraße 17, Berlin-Tiergarten. Als Präsident wurde Tonio Bödiker berufen. Ihm unterstellt waren zwei ständige Mitglieder sowie vier nichtständige Mitglieder. Weitere 15 Mitarbeiter erledigten die organisatorischen Tagesaufgaben.[3] Nach dem Umzug an den Wilhelmplatz 2 in Berlin-Mitte hatte sich die Anzahl der im Amt vertretenen Personen vervierfacht. Es gab nun unter dem Präsidenten fünf ständige Mitglieder (Beamte), sowie nichtständige Mitglieder, zu denen vier gewählte Politiker aus dem Bundesrat gehörten, vier richterliche Mitglieder sowie zahlreiche Vertreter der Arbeitgeber (Berufsgenossenschaftsvorstände) und versicherte Arbeitnehmer.[4] Im Jahr 1888 bestand das RVA damit bereits aus 60 Personen.[5] Nach und nach erweiterten sich die Aufgaben, wie unten genannt, und die Zahl der im RVA beschäftigten Personen stieg ständig. Zusätzlich zum Präsidenten gab es ab 1890 zwei Abteilungsdirektoren.[6]
Die Zuständigkeit des RVA wechselte vom ursprünglichen Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung, für den es geschaffen worden war, über die Invaliditätsversicherung (1889) auf die Krankenversicherung (1913), Angestellten- und Knappschaftsversicherung (1922/23) bis hin zur Arbeitslosenversicherung (1927) und damit auf die gesamte Sozialversicherung. Anfangs unterstand das RVA dem Reichsamt des Innern,[5] nach dem Ersten Weltkrieg dem Reichsarbeitsministerium.
Während der NS-Herrschaft erfolgte kaum eine Umstrukturierung. Die Sozialversicherung war ein komplexes Gebilde mit hohen verwaltungstechnischen und rechtlichen Zusammenhängen, die schwer zu durchschauen waren.
Nach dem Zweiten Weltkrieg, ab 1945 wurden die Aufgaben des Reichsversicherungsamts anfangs von den Landes- und Oberversicherungsämtern übernommen. Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurden sie auf verschiedene Gewalten und Rechtsträger verteilt, unter anderem auf das neu geschaffene Bundessozialgericht mit Sitz in Kassel sowie das Bundesversicherungsamt als Aufsichtsbehörde für bundesunmittelbare Versicherungsträger (vgl. § 90 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV)). Dabei gab es im Bundessozialgericht eine beträchtliche personale Kontinuität, da es anfangs mit ehemaligen Beamten des RVA besetzt wurde. Im Osten Deutschlands übernahm die 1947 neu gebildete Sozialversicherung des Freien Deutschen Gewerkschaftsbunds die Aufgaben des RVA.
Verwaltungsbau
Nachdem die zunächst kleine Verwaltung in einem Gebäude in Tiergarten untergekommen war, erhielt es als Verwaltungssitz ein bestehendes Gebäude am Wilhelmplatz. 1894 bezogen die Angestellten der Reichsbehörde einen Neubau, der nach Plänen von August Busse an der Königin-Augusta-Straße 25–27[6] (heute Reichpietschufer 50) errichtet worden war. Dieses Gebäude hat die Jahrzehnte und zwei Weltkriege überlebt, wurde aber in den 1980er Jahren vom britischen Architekten James Stirling bis auf die kanalseitige Fassade modern überformt. Im 21. Jahrhundert befindet sich in dem Bau das Wissenschaftszentrum Berlin.[1]
Präsidenten des Reichsversicherungsamtes
- 1884 bis 1897 Tonio Bödiker
- 1897 bis 1906 Otto Gaebel
- ab 21. März 1912 bis ? Wilhelm Koch
- bis 1. Dezember 1923 Paul Kaufmann
- bis 31. Dezember 1942 Hugo Schäffer
- bis 1945 Peter Schmitt.
Literatur
- Wolfgang Ayaß: Wege zur Sozialgerichtsbarkeit. Schiedsgerichte und Reichsversicherungsamt bis 1945, in: Peter Masuch/ Wolfgang Spellbrink/ Ulrich Becker/ Stephan Leibfried (Hrsg.): Grundlagen und Herausforderungen des Sozialstaats. Denkschrift 60 Jahre Bundessozialgericht. Band 1. Eigenheiten und Zukunft von Sozialpolitik und Sozialrecht, Berlin 2014, S. 271-288.
- Michael Stolleis: Reichsversicherungsamt. In: W. Stammler u. a. (Hrsg.): Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. IV. Berlin 1964–1998, S. 801–802.
- Gerold Schmidt: Aus der frühen Behörden- und Personalgeschichte der deutschen Sozialversicherung: Das ständige Mitglied des Reichsversicherungsamtes Immanuel Hoffmann (1850–1924). In: Die Sozialgerichtsbarkeit (SGb), 1988, S. 438–440
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ a b Elke Linda Buchholz: Reichsversicherungsamt. In: Kaiserzeit und Moderne. Ein Wegweiser durch Berlin. Berlin Story Verlag, 2007, ISBN 978-3-929829-47-1, S. 127f.
- ↑ Zur Entstehung des Reichsversicherungsamts, seiner Tätigkeit und Rechtsprechung vgl. Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, II. Abteilung: Von der kaiserlichen Sozialbotschaft bis zu den Februarerlassen Wilhelms II. (1881–1890). 2. Band, Teil 2: Die Ausdehnungsgesetzgebung und die Praxis der Unfallversicherung, bearbeitet von Wolfgang Ayaß, Darmstadt 2001; vgl. Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik, III. Abteilung: Ausbau und Differenzierung der Sozialpolitik seit Beginn des Neuen Kurses (1890–1904), 2. Band: Die Revision der Unfallversicherungsgesetze und die Praxis der Unfallversicherung, bearbeitet von Wolfgang Ayaß, Darmstadt 2009.
- ↑ Reichsamt des Innern. In: Berliner Adreßbuch, 1886, Teil 4, S. 19. „10. Reichsversicherungsamt“.
- ↑ Florian Tennstedt: Das Reichsversicherungsamt und seine Mitglieder – einige biographische Hinweise. In: Entwicklung des Sozialrechts, Aufgabe der Rechtsprechung. Köln 1984, S. 47–82, Volltext (PDF; 2,8 MB)
- ↑ a b Reichsamt des Innern. In: Berliner Adreßbuch, 1888, Teil 4, S. 19. „10. Reichsversicherungsamt“.
- ↑ a b Reichsamt des Innern. In: Neues Adreßbuch für Berlin und seine Vororte, 1896, Teil 1, S. 13. „14. Reichsversicherungsamt“.