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Geschichte der Gehörlosen

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Dieser Artikel befasst sich mit der Geschichte der Gehörlosen bzw. der Deaf History.

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Der geringe Umfang und vor allem die Zielrichtung der aus den vergangenen Jahrhunderten erhalten gebliebenen Aufzeichnungen bedingt es, dass die Geschichte der Tauben großenteils nur aus der Perspektive ihrer pädagogischen Erfassung berichtet werden kann.

Verbreitung von Taubheit

Taube Menschen gab es vermutlich so lang, wie die Menschheit auch existierte. Etwa 0,01 Prozent der menschlichen Bevölkerung ist genetisch bedingt taub. In abgeschlossenen Gebieten kann sich jedoch die genetische Taubheit in weit höherem Umfang ausbreiten. So bestand die Bevölkerung der nordamerikanischen Insel Marthas Vineyard im 17. Jahrhundert zu einem so großen Teil aus Tauben, dass hier „jeder die Gebärdensprache sprach“ (so der Titel eines Buches zu dieser Historie von Nora Ellen Groce).

Ein weit höherer Prozentsatz der Bevölkerung wird taub geboren aufgrund von Erkrankungen der Mutter während der Schwangerschaft z.B. durch Röteln oder Masern, weiter erfolgen auch Ertaubungen durch Erkrankungen im Kindesalter. Unter den heutigen Bedingungen hat der Umfang dieser vor- und nachgeburtlichen Ertaubungen eine Rate von etwa 0,1 Prozent in den höher entwickelten und bis etwa 1-2 Prozent in den weniger hoch entwickelten Ländern.

Ertaubungen im Jugend- und Erwachsenenalter und Altersschwerhörigkeit haben aufgrund der bis dahin erworbenen Kennntis der Lautsprache als Mehrheitssprache nicht die spezifischen Auswirkungen wie die von Geburt oder Kindheit an bestehende Taubheit.
Solange die Bevölkerungsdichte noch sehr gering war, waren taube Menschen auch immer nur Einzelerscheinungen und hatten keine eigene Geschichte. Erst bei zunehmender Bevölkerungsdichte konnten sich taube Menschen zu Gruppen zusammenfinden und unter Umständen auch eine spezifische Verständigung mit Gesten und Gebärden entwickeln. Wann und wo dies in bemerkenswerter Weise erstmals geschah, darüber liegen keine Informationen vor.

Gegenwärtig wird geschätzt, dass von der deutschen Gesamtbevölkerung (ca. 80 Millionen) etwa 14 Millionen eine Gehör-Beeinträchtigung haben. Etwa 80.000 davon sind taub, von denen wiederum etwa 35.000 eingetragene Mitglieder der Vereine des Deutschen Gehörlosen-Bundes sind.
Obwohl Taube - wie aus den Zahlenangaben schon ersichtlich - sehr verstreut unter der Bevölkerung leben, habe sie untereinander dennoch stabile Gemeinschaften aufgebaut und verbringen die Zeit außerhalb des Broterwerbs überwiegend unter ihresgleichen.

Frühere Einschätzungen von Taubheit

Taube wurden in Europa lange Zeit und vor allem auch unter dem Regiment der christlichen Kirche nicht als vollwertige Menschen angesehen, da sie die „göttliche“ Sprache, mit deren Beherrschung sich der Mensch nach damaliger Meinung vom Tier unterschied, nicht beherrschten. So sagten der Philosophen Aristoteles (322 - 300 v Chr.): "Wer nicht hören und nicht sprechen kann, kann auch nicht denken" und der Kirchenvater Augustinus (354 - 429): "Wer nicht hören kann, kann daher auch nicht glauben".
"Taubstummheit" wurde bis in die neuere Zeit auch als krankhafte Erscheinung angesehen, wie etwa in der "Beschreibung des Oberamts Oehringen" von 1865 der Eintrag zeigt: „Die Einwohner sind im allgemeinen in mittelmäßigen, nicht selten auch dürftigen Vermögensverhältnissen und erfreuen sich einer guten Gesundheit; nur in Heuholz zeigt sich der Kretinismus (zwei Blödsinige und drei Taubstumme)“.

Wegen des ohnehin verbreiteten Analphabetismus hatten Taube jedoch bis zum Mittelalter vergleichsweise stärkere gesellschaftliche Anpassungsmöglichkeiten als in den darauffolgenden Jahrhunderten. Die Kirche gewährte Tauben zwar im 5. Jahrhundert die Taufe, jedoch erst im 11. Jahrhundert die Heirat, im 13. Jahrhundert die Beichte und im 16. Jahrhundert die Möglichkeit, das Mönchsgelübde abzulegen (nach Aude de Saint Loup, „Darstellungen Tauber im westeuropäischen Mittelalter“, 1993).

Die Beobachtungen im Zusammenhang mit einer Gruppe von Siedlern auf der nordamerikanischen Insel Martha's Vineyard, die um 1630 aus dem aus dem kentischen Weald auswanderten zeigen dagegen, daß Taube auch in so früher Zeit nicht automatisch eine Randexistenz sein müssen, sondern dies eine Folge unterschiedlicher gesellschaftlicher Einstellungen ist.

Erste pädagogische Bemühungen im 16. und 17. Jahrhundert

Mit der ersten Einrichtung von Schulen für Kinder gab es auch pädagogisch tätige Menschen, die taube Kinder zu unterrichten versuchten, sei es aus humanistisch oder religiös motivierten Gründen oder um des Geldes oder der Vergünstigungen willen, das gesellschaftlich besser gestellte Eltern dafür zu gewähren bereit waren.
Anzumerken ist hier, dass damals Mönche der christlichen Kirche trotz der Vorbehalte gegen den "menschlichen" Status von Tauben am ehesten in der Lage waren, mit ihnen zu kommunizieren, da wegen der teilweise herrschenden Schweigepflicht in Klöstern gerade dort spezielle Gebärden zur lautlosen Kommunikation erfunden wurden.

um 1550

Der von 1526 - 1586 lebende spanische Mönch Melchior De Yebra gebrauchte angeblich zur Verständigung mit Tauben ein Fingeralphabet. Welche Form dies hatte, und ob es sich aus dem bereits 900 Jahre zuvor bekannten Fingeralphabet entwickelte, ist nicht bekannt. Unbekannt ist dabei, inwiefern die damals zumeist analphabetisch aufwachsenden Tauben das Fingeralphabet verstehen konnten.

Um 1550 wurden dem spanischen Adligen Juan Fernández de Velasco y Tovar nacheinander drei taube Söhne geboren. Aufgrund der damaligen Anschauungen musste de Velasco y Tovar befürchten, dass seine Söhne mangels Beherrschung der Sprache nicht als Erben seiner Besítzungen anerkannt würden. Deshalb beauftragte er den Benediktiner-Mönch Fray Pedro Ponce de León (1500 -1584) vom Kloster San Salvador de Ona, seine Söhne Pedro und Francisco zu unterrichten. Somit waren die ersten pädagogischen Bemühungen um Taube in Spanien davon motiviert, den Besitz und Privilegien einer Familie zu sichern. Zur Person von Fray Ponce de León wird aufgrund der unüblicherweise fehlenden Informationen seiner Herkunft vermutet, dass er ein illegitimes Kind von Adligen war und die damit entgangenen Privilegien teilweise wiederzuerlangen versuchte, indem er Kinder in adligen Häusern unterrichtete.
Fray Ponce de León konnte die Söhne des Adligen offenbar erfolgreich unterrichten und lieferte damit einen frühen Beweis, dass Taube lesen, schreiben, denken und reden können.

um 1600

Manuel Ramírez de Carrión (1579 - 1652) führte das Werk von Ponce de León fort, indem er den dritten Sohn Luis des Juan Fernández de Velasco y Tovar unterrichtete. In seinem Buch “Wunder der Natur”, das zunächst 1599 in Madrid, dann nochmals 1622 in Montilla in der Druckerei des Marques de Priego und 1629 in Córdoba herausgegeben wurde beschrieb de Carrión „Zweitausend Geheimnisse der Natur“, die er alphabetisch sortiert darbot. Hierin entwickelte er erstmals den für die damalige Zeit wohl revolutionären Gedanken, dass „Taubstumme“ nur deshalb taub sind und keine Laute produzieren, weil sie sie selbst nicht hören. Daher, schrieb er, sei es mit einer speziellen Technik möglich, sie sprechen zu lehren. Worin diese Technik bestand, wurde in dem Werk jedoch nicht verraten.

Ponce de León ließ ebenso wie später de Carrión nichts über die Methoden verlauten, die ihm zum Erfolg verhalfen. Es wird angenommen, dass er den Verlust seiner vorteilhaften Stellung und seines Ansehens befüchtete, wenn seine Methoden von anderen übernommen und verwendet würden. Zu de Carrións Motiven wird angenommen, dass er sich mit der Bewahrung seiner Stellung als einziger geeigneter Lehrer vorbehalten wollte, den Preis für seine Leistungen hoch zu halten. Ponce de León und de Carrión hatten mangels Vorbildern fast völlige Freiheit in der Wahl ihrer Methoden, die in manchen Fällen harsche Behandlung und die Herausbildung psychischer Abhängigkeit ihrer jungen Untergebenen eingeschlossen haben sollen.

1620

De Carrións Methodik wurden jedoch 1620, von dem im Haushalt des de Velasco y Tovar als Sekretär lebenden Juan Pablo Bonet (1579-1633) in „Reducción de las letras y arte para enseñar a ablar los mudos“ als dessen eigenes Werk plagiiert. Bonet selbst soll wenig direkte Erfahrungen mit Tauben gehabt haben und zählte offenbar mit der bloßen Veröffentlichung seines Werkes auf Anerkennung. Dennoch ist dies das erste schriftliche Werk zu diesem Thema. 1623 soll auch der Dominikaner-Mönch, Missionar und Jesuiten-Verfolger Juan Bautista Morales de Carrións Methodik in „Pronunciaciones Generales de Lenguas, Escuela de Escribir y contar y significación de letras por las manos“ publiziert haben.

1666

Sir George Downing, der Namensgeber der Straße, in der sich heute der amtliche Wohnsitz des britischen Premierministers befindet, organisiert für die Regierung Agentennetze, unter denen sich auch mehrere Taube befinden. Gefragt, wie er deren "seltsame Zeichen" verstehen könne, soll Downing geantwortet haben: "Sie brauchen nur ein wenig Übung, dann werden Sie ihn verstehen und sich ihm verständlich machen, und dies alles so leicht und einfach, wie man es sich nur denken kann". Diese Anekdote weist zusammen mit den Beobachtungen auf Martha's Vineyard in Neuengland darauf hin, daß es schon in früher Zeit Enklaven in der Bevölkerung gab, in denen bereits eine voll ausgeformte Gebärdensprache existierte. Downing stammte übrigens auch wie die später erwähnten Besiedler von Martha's Vineyard aus dem kentischen Weald.

Deutschsprachige Länder


Frankreich


England und Neuengland


1630

1634
Siedler aus dem Weald des englischen Kent wandern in Massachusetts ein. Unter ihnen befinden sich einige, die - wie die spätere Geschichte zeigen wird- ein rezessive Erbanlage zur Taubheit mitbringen.

1660

1664
Unter der Leitung des Logikprofessors Johann Lavater, Pfarrer in Uitikon und Professor am Carolineum in Zürich, Schweiz, (nicht zu verwechseln mit Johann Caspar Lavater, 1741 - 1801) wird eine wissenschaftliche Arbeit unter dem Namen „Die Lavater’sche Taubstummenschule“ über die physiologischen, theologischen und pädagogischen Aspekte des "Taubstummenproblems" als Dissertation zur Prüfung vorgelegt

1674
Der von Geburt an taube Etienne de Fay (1669 - 1749) wird im Alter von fünf Jahren in die Obhut der Prämonstratenser-Abtei von Saint Jean d'Amiens gegeben. Er wirkte dort sein ganzes Leben als Architekt, Bildhauer, Bibliothekar, Prokurator und gab vier „taubstummen“ Schülern Unterricht, darunter dem Francois Meusnier und Azy d’Etavigny.

1670
Von den aus Kent 1634 zugezogenen Siedlern wandern sieben Familien auf Martha’s Vineyard ein.

1690
Der taube Kapitän Jonathan Lambert, Nachfahre von Einwanderern aus Kent, überführt auf der Brigantine Tyrel Gefangene der Quebec-Expedition zu den Neuengland-Staaten.

1692
Der taube Zimmermann, Küfer und Kapitän Jonathan Lambert zieht auf die Insel Martha's Vineyard und kauft sich dort Land. Dieser Inselabschnitt heißt bis heute "Lamberts Cove".

18. Jahrhundert, Samuel Heinicke und der Abbé de l'Epée

Deutschsprachige Länder


Frankreich


England und Neuengland


1700

Johann Conrad Ammann, (1669-1724 (?), auch als "Jean Jacques Amman" verzeichnet) Sohn eines Großkaufmannes in Schaffhausen Schweiz promoviert 1749 in Leiden, Holland zum Doktor der Medizin und wird „Taubstummenarzt und Taubstummenlehrer“. Er erfindet eine „mündliche“ Methode zur Unterrichtung tauber Kinder, die später von Samuel Heinicke übernommen worden sein soll.

1710
Die Einwanderung auf der Insel Martha's Vineyard kommt praktisch zum Erliegen. Nachfahren der Siedler aus dem kentischen Weald leben vor allem in der Ortschaften Tisbury und Chilmark.

1740

1744
Jacob Rodrigues Péreire (1715-1780) beginnt als erster Lehrer in Frankreich taube Schüler zu unterrichten. Péreire beherrscht selbst die Gebärdensprache, zieht es jedoch vor, die Schüler oral zu unterrichten. Angeblich folgt er dabei den von Juan Pablo Bonet beschriebenen Methoden. Er lernt Etienne de Fays Schüler Azy d’Etavigny kennen, lehrt ihn sprechen und führt ihn 1749 der Akademie in Paris vor.

1740
Die Anzahl der Tauben auf Martha's Vineyard ist seit dem Ende des 17. Jahrhunderts stetig gestiegen und erreicht in diesem Jahrzehnt ihren Höhepunkt mit 45 Personen. Der Anteil der Tauben an der Inselbevölkerung beträgt 1:155, in Tisbury allein liegt der Anteil bei 1:49, in Chilmark bei 1:25.

1750

1755
Der sächsische Leibgardist Samuel Heinicke (1727-1790) unterrichtet Kinder im Schreiben und in der Musik. Hierbei unterrichtet er auch einen tauben Jungen in der Lautsprache.

1760
Dem Abbé Charles Michel de l'Epée (1712 - 1789) werden zwei taube Kinder vorgestellt, deren Erzieher kurz zuvor verstorben war. Er nimmt die Schwestern bei sich auf und unterrichtet sie weiter. Aus der Beobachtung der von ihnen untereinander verwendeten Gesten und der Idee einer naturgemäßen Erziehung (nach Rousseau) folgend bediente er sich im Unterricht ebenfalls dieser Gesten.

1760
Thomas Braidwood (1715-1806) gründet in Edinburgh eine Privatschule für taube Kinder. Braidwood akzeptiert "natürliche Gesten" solange die Lautsprache nicht beherrscht wird und benutzt das Zwei-Hand-Fingeralphabet, das bis heute in Grossbritannien gebräuchlich ist.

1770

1769
Samuel Heinicke, nach Kriegsgefangenschaft, Studium und Heirat inzwischen nach Eppendorf (Hamburg) bei Hamburg umgezogen, wird Kantor und Dorfschulmeister. Hier unterrichtet er auch wieder einen tauben Schüler, der darauf schriftlich die Konfirmation ablegen kann. Angeblich folgt Hweinicke mit seiner Unterrichtsmethoden den Lehren des schweizer/niederländischen Arztes Johannes Conrad Ammann (1669-1724).

1771
Der Abbé de l'Epée nimmt weitere taube Kinder zum Unterricht auf und gründet die "Institution Nationale des Sourds-Muets de Paris". Sie wird weltweit meist als die erste Schule für Taube angesehen.

Abbé de l'Epée folgte der Anschauung von Descartes, dass Sprache ein Zeichensystem ist, das außerhalb des Menschen existiert. Es sei daher möglich, Sache und Zeichen in jeder Weise willkürlich miteinander zu verbinden, also auch Sache und Gebärde. Aus diesem Gedanken entwickelte er aus den von ihm beobachteten „natürlicher Gestenzeichen“ mit zusätzliche Erweiterungen durch grammatische Zeichen ein System „methodischer Gebärden“.

Während die Gebärde von der Natur des Tauben ausgeht, sollte nach l'Epées Vorstellungen die Schrift zur Kultursprache (Lautsprache) der Hörenden hinführen. Für das Erlernen der Buchstaben, später auch zum Diktieren von Eigennamen, tritt das Fingeralphabet (l'alphabet manuell) als Hilfsmittel hinzu. Die Schüler dachten in dieser Sprache und drückten sich in derselben aus. Dadurch erreichten sie einen hohen Wissensstand, waren aber im Verkehr mit Hörenden weiterhin auf Vermittler angewiesen. Das gebärdensprachlich orientierte Unterrichtssystem von Abbé de l'Epée wurde in späteren Auseinandersetzungen um die beste pädagogischen Methoden zur Unterreichtung tauber Kinder als „französische Methode“ bezeichnet in Abgrenzung zur "deutschen Methode" von Samuel Heinicke.

Abbé de l'Epée missachtete bei seinen Bemühungen wissentlich oder unwissentlich, dass die eigentliche Gebärdensprache, wie sie auf den Straßen von Paris von den „Taubstummen“ gebraucht wurde, ganz andere Strukturen hatte, was ihm später von seinem früheren Schüler Pierre Desloges in seiner Schrift von 1779 vorgeworfen wurde. Es ist zu vermuten, dass Abbé de l'Epée’s „methodische Gebärden“ durch die Hinzufügung von grammatischen Zeichen und die Anlehnung an die französische Grammatik etwa dem entspricht, was heute im Gegensatz zur echten Gebärdensprache als Lautsprachbegleitende Gebärden (LBG) verstanden wird.

1778
Samuel Heinicke zieht mit seinen inzwischen 9 Schülern von Eppendorf nach Leipzig um und gründet das "Chursächsische Institut für Stumme und andere mit Sprachgebrechen behaftete Personen". Heinicke verfolgt das Ziel, seine Schüler vorrangig an die Lautsprache heranzuführen und in dieser zu unterichten. Er benutzt jedoch auch Gebärden, um die Begriffe der Lautsprache zu erklären. Mit der Reduzierung auf den lautsprachlichen Aspekt bei Unterschlagung des gebärdensprachlichen Anteils wird dies später als die "deutsche Methode" eines rein oral ausgerichteten Unterrichts im berühmten "Methodenstreit" definiert.

1776
Abbé de l'Epée gibt das Werk "Institution des sourds-muets par la voie des signes méthodiques" und 1784 "La véritable manière d'instruire les sourds et muets, confirmée par une longue expérience" heraus und beginnt ein "Allgemeines Lexikon der Gebärdenzeichen", das von seinem Nachfolger, dem Abbé Sicard vollendet wurde.

1779
Maria Theresias Sohn, Josef II gründet das Wiener Institut für Taubstumme, nachdem er auf einer Frankreichreise die Schule de l'Epées und dessen Unterrichtsergebnisse kennengelernt hatte. Die beiden ersten Direktoren (Johann Friedrich Stork und Joseph May) werden zur Ausbildung zum Nationalinstitut in Paris geschickt.

1779
Pierre Desloges. 1742 - ? Gehörloser Buchbinder und Schriftsteller schreibt das einzige Buch dieses Jahrhunderts das ausschließlich von einem "Taubstummen" verfasst wurde. Er legt dar, dass Abbé de l'Epée die Gebärdensprache nicht erfunden, sondern sie von den Tauben übernommen hatte.

1783
Die von Thomas Braidwood in Edinburgh gegründete Privatschule für taube Kinder zieht nach Hackney in London, England um.

1780

1788
Ernst Adolf Eschke (bis 1811), der Schwiegersohn von Heinicke, gründete die Schule in Berlin. Eschke verfolgte weniger die mehrheitlich orale Methode Heinickes anstelle einer Methode, die auch der Gebärdensprache mehr Raum gab.

1789
Abbé de l'Epées Nachfolger Abbé Roch Ambroise Cucusson Sicard baut das System der methodischen Zeichen weiter aus. Er beschäftigt geistig sehr hochstehende ehemalige Schüler als Lehrer und betreibt eine erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit.
Der als konservativ geltende Abbé Sicard wurde später von den Revolutionären vor den Vollstreckungsrat gestellt. Daraufhin überreichte sein Schüler Massieu der gesetzgebenden Versammlung eine Petition, in der "Die taubstummen Schüler des Abbé Sicard" um die "Rückkehr ihres Vaters, ihres Freundes und Lehrers" flehten. Die Versammlung war überaus bewegt, als ihr Sekretär Massieus Eingabe vorlas.

1791
Die französische Nationalversammlung dekretiert die Aufnahme des Abbé de l'Epée in die Liste der "Wohltäter der Menschheit". Die private „Pariser Anstalt“ wird das staatliche "Nationalinstitut" umgewandelt. 1838 wirde eine Bronzebüste über Abbé de l'EpéeGrab in der Kirche von Saint-Roch in Paris errichtet.

1799
In Kiel gründet Georg W. Pfingsten eine Schule, die später nach Schleswig umzieht.

1797
Der taube Laurent Clerc, der einmal die wichtigste historische Figur der US-amerikanischen Tauben werden sollte, tritt als 12-jähriger Schüler in das Nationalinstitut für Taubstumme in Paris ein.

19. Jahrhundert - der Methodenstreit

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts gab es 21 Schulen für Gehörlose, an denen zum Teil auch versucht wurde, tauben Kindern primär die Lautsprache beizubringen

Zunehmend werden Menschen nach ihrer gesellschaftlichen Nützlichkeit beurteilt. "Der Taubstumme und dessen Brauchbarmachung zum bürgerlichen Handwerker und anderen Gewerben" ist ein für diesen Gedanken exemplarischer Titel einer Darlegung, die von einem J. M. Weinberger 1805 in Wien gegeben wird. Damit wurde der "Industrieschulgedanke" in das Taubstummenbildungswesen eingeführt.

Dabei wird stets diskutiert, welche Sprache die Tauben lernen sollen - die der Hörenden, die Lautsprache, die sie selbst nicht oder nur unvollkommen verstehen oder ihre eigene Gebärdensprache, die umgekehrt die Hörenden nicht verstehen?

Der Abbé de l'Epée schuf das gebärdensprachlich orientierte und später "französische Methode" genannte Unterrichtsmodell, das mit dem mehrheitlich oral ausgerichteten und als "deutsche Methode" bezeichneten Modell von Samuel Heinicke konkurriert. Daraus entsteht der "Methodenstreit", der sich dann über zweihundert Jahre hin fortsetzt und bis heute kein Ende gefunden hat.
Paradoxerwesie findet die Auseinandersetzung nicht zwischen den beiden Ländern sondern jeweils landesintern statt: In Frankreich und gerade auch am "Nationalinstitut für Taubstumme" wird die orale Methode eingeführt und in Deutschland breitet sich teilweise die Gebärdensprache im Unterricht aus.

In diesem Jahrhundert beginnt auch in den USA der Gedanke der "Taubstummenbildung" Fuß zu fassen.

Deutschsprachige Länder


Frankreich


USA


1800

1803 Der taube Schüler Ludwig Habermaß (1783 Berlin - 1826 Berlin) wurde von Eschke gefördert. Habermaß arbeitete ab 1803 als Hilfslehrer und dann ab 1811 als Lehrer bis zu seinem Tod. Er leitete zeitweise auch Seminare für angehende Lehrer.

1808
Sicard legt das Wörterbuch der Gebärdensprache "Théorie de signes" in 2 Bänden 9 vor.

1812
John Braidwood, Enkel von Thomas Braidwood in London, gründet eine Schule für taube Kinder 1812 in Cobb, Virginia, die jedoch nur kurze Zeit besteht.

1817
Der taube Otto Friedrich Kruse (1801-1879) besucht die Schule in Schleswig und wird dort 1817 Hilfslehrer. Danach ist Kruse neun Jahre Privatlehrer in Altona und in Bremen, bis er 1834 wieder in Taubstummen-Institut Schleswig als Klassenlehrer und Fachlehrer tätig wird. 1872 ging er in Pension. Er hinterließ viele Schriften und versuchte auch mit Beiträgen in den Zeitschriften der T-Lehrer, eine kritische Haltung bei ihnen gegenüber der einseitig gewordenen oralen Methode zu fördern. Er erhielt vier Orden für seine Verdienste, 1873 wurde ihm vom Gallaudet-College in Washington die Ehrendoktorwürde verliehen.


1818
Freiherr Hugo von Schütz (1780 Camberg - 1847 Wiesbaden), Schüler von Stork und May von 1788 bis 1797 in der Wiener Schule, gibt Privatunterricht für die "taubstummen" Kinder in Camberg. 1818 gründet er dort eine Privatschule. Die Schule wird 1820 verstaatlicht, und er arbeitet als deren Direktor bis zur mysteriösen "Aufgabe" des Postens 1828.

1815
In Begleitung seiner "Schüler" Massieu und Laurent Clerc hält Abbé Sicard durch Vermittlung von Fouché öffentliche Vorlesungen in London ab und erntet damit Beifall.

1815
In den USA trifft der Prediger Thomas Hopkins Gallaudet die 9-jährige taube Alice Cogswell und erfährt, daß es in Amerika keine Schule für Taube gibt. Der Vater von Alice, Dr. Mason Cogswell, bittet Gallaudet, in Europa nach Unterrichtsmethoden für taube Kinder zu forschen, insbesondere bei der Familie Braidwood in England.
Gallaudet findet die Braidwoods abgeneigt, ihr Wissen mitzuteilen, zudem die Resultate der dort angewendeten oralen (lautsprachlichen Methode unbefriedigend. In London trifft er Abbé Sicard, Leiter der französischen "Institution Nationale des Sourds-Muets" in Paris und zwei seiner tauben Lehrkörpermitglieder, Laurent Clerc und Jean Massieu. Sicard lädt Gallaudet nach Paris ein, die dortigen Methoden zu studieren.
Beeindruckt von den Erfolgen der gebärdensprachlichen „manuellen“ Methode studiert Gallaudet die Unterrichtsmethoden unter Sicard und erlernte die Gebärdensprache von Massieu und Clerc, beide gebildete Absolventen der Schule.

1816
Gallaudet kehrt in die USA zurück und bittet Laurent Clerc, ihn zu begleiten.

1817
Gallaudet richtet in Hartford, Connecticut, USA mit dem "Connecticut Asylum for the Education and Instruction of Deaf and Dumb and Blinds" die erste Schule für Taube in Amerika ein.

1820

1820
L. Graßhoff regt an, auf einem Gelände in der Nähe von Berlin, für die Abgänger der Königlichen Anstalt eine Taubstummengemeinde zu gründen. Die Begründung für seinen Vorschlag lag darin, daß die Gebärdensprache von den Hörenden nicht verstanden werde und daß selbst, wenn die Gehörlosen sprechen und schreiben könnten, es keine Unterhaltung zwischen beiden gäbe.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt sich in Deutschland die „Verallgemeinerungsbestrebung“, die etwa dem heutigen Gedanken des „Mainstreaming“ entspricht.

1822
Die unmittelbaren Nachfolger Sicards, Abbé Goudelin (1822-1823) und Abbé Périer (1823-1827) halten an der vorgegebenen Methode noch fest.

1824
Bébian (1789-1839) war der erste taube Lehrer in Frankreich und Autor der 1824 veröffentlichten "Mimographie", einer Beschreibung der "natürlichen Zeichen".

1825
Kinder von Martha's Vineyard werden zur schulischen Ausbildung an das American Ayslum in Connecticut geschickt. Die Amerikanische Gebärdensprache ASL (American Sign Language) bildet sich hier aus der französischen Gebärdensprache des ersten lehrers Laurent Clerc und der bereits weit ausgebildeten Gebärdensprache der Kinder vom Martha's Vineyard, die wiederum ihren Ursprung in der Gebärdensprchche der Siedler aus dem kentischen Weald hat.

1826
Der Direktor der Wieder Schule, Michael Venus, gibt ein Methodenbuch heraus: "M. Venus, Methodenbuch oder Anleitung zum Unterricht der Taubstummen", Wien 1826. Unter seiner Leitung wurden in Wien zahlreiche Lehrer ausgebildet, die später Institute gründeten.

Die Wiener Schule übte erheblichen Einfluss aud die Schulen im süddeutschen Raum aus. Ihre Unterrichtsmethode: Jedes neue Wort wird durch Handalphabet und Schrift vermittelt und durch natürliche und künstliche Gebärden erklärt.
Didaktisches Prinzip: Der Taubstumme kann die Sprache nicht erlernen, ohne sie mit der Sprachlehre zu verbinden. Daher liegt dem Sprachaufbau ein festgeführter Kanon, der nach grammatikalischem Gesichtspunkten gegliedert ist, zugrunde.

Die norddeutschen Staaten halten in der Nachfolge Samuel Heinickes theoretisch am Prinzip der Lautsprachmethode fest, stehen bezüglich der Praxis dennoch unter dem Einfluß der Gebärdenmethode. An die Stelle des "Denkens in der Tonsprache" (Heinicke) treten die Gebärde, die Schrift und das Fingeralphabet.

1828
Der von Sicard an das Institut gerufene Ohrenarzt Marc Gaspard Itard (1775-1838) betrieb Hörerziehungsversuche zur Anwendung und Ausbildung der Lautsprache. Sein Ansatz war, die vorhandenen Hörreste für das Erlernen und Nachahmen der Lautsprache zu nutzen. Da er aber im überwiegend gehörlosen Kollegium keine Lehrer für seine Artikulationsübungen fand, unterrichtete er selbst.
Auf seine Empfehlung hin wurde seitens des Ministeriums des Innern im Nationalinstitut eine "Artikulationsklasse" eingerichtet.

Itard verpflichtete durch große Legate in seinem Testament den Verwaltungsrat des Instituts, ständig eine "Classe d'articulation" einzurichten.

1831
Désiré Ordinaire führt als neuer Direktor die "Methode orale" in das Pariser Nationalinstitut ein. Ordinaire, Doktor der Medizin und Professor der Naturgeschichte, unternahm zuvor Reisen in die Schweiz und besuchte dort sog. "Humanitätsanstalten". Er studierte die Lautsprachmethode und vertrat sie nachhaltig in mehreren Schriften.


Die tauben Bevölkerungsmitglieder auf Martha's Vineyard sind in jeder Hinsicht in das Leben der Gemeinschafgt auf der Insel integriert. Es steht ihnen frei., Hörende oder Taube zu heiraten. Nach den Steuerunterlagen haben sie meist ein durchschnittliches oder überdurchschnittliches Einkommen und einige von ihnen sind sogar wohlhabend. Die hörenden Bewohner beherrschen die Gebärdensprache und gebrauchen sie sogar dann, wenn keine andere taube Preson anwesend ist. Die Vineyarder leben in dem Glauben, daß die Präsenz tauber Mitbürger weltweit wie bei ihnen verbreitet sei. Sie sind spärter - um 1895 - sehr erstaunt, als sie deswegen zum Gegenstand von Zeitungsberichten und von Forschungen werden. Es wird berichtet, dass im 19. Jahrhundert alle tauben Vinyarder mit einer Ausnahme Englisch lesen und schreiben können.

1830

1848
Der taube Eduard Fürstenberg (1827 Berlin - 1885 Berlin) gründet den "Allgemeinen Taubstummen-Unterstützungsverein von Groß-Berlin e.V.", der erste in Deutschland, und wird dessen Vorsitzender.


1849
Eduard Fürstenberg gründet den "Zentralverein für das Wohl der Taubstummen in Berlin e.V.", den er bis zu seinem Tod leitet.

1834
Das erste der berühmten "Taubstummenbankette" in Paris wird durchgeführt. Organisator ist Ferdinand Berthier (1803-1886), der neben Jean Massieu (1772-1846) und Laurent Clerc (1785- 1869) zu den berühmtesten Lehrern für Taube in Frankreich gehört. Später wird von diesem Jahr gesagt, daß „Es das Jahr war, in dem die Taubstummen eine Art Selbstbestimmung für sich begründeten, die bis heute andauert." (Bernard Mottez, Paris)

1834
Der französische Taubstummen-Verband wird gegründet

1850

1856
Der Journalist und Politiker Amos Kendall wird wie viele andere Bürger von Washington, DC, um Zuwendung gebeten für eine Schule für die taube und blinde Kinder. Als Kendall erfährt, daß die Kinder, die zum großen Teil aus dem Staate New York stammen nur in geringem Umfang versorgt werden, ersucht Kendall die Behörden mit Erfolg um die Eingemeindung dieser Kinder. Er stiftet darüber hinaus zwei Acres seines Besitzes in Washington, DC für die Gründung der Schule.

1857
Das "Columbia Institution for the Deaf and Dumb and the Blind" wird in Washington, DC gegründet, erster Direktor wird Edward Miner Gallaudet, der spätgeborene Sohn von Thomas Hopkins Gallaudet. Patronin der Schule wird die ebenfalls taube Witwe von T.H. Gallaudet, Sophia Fowler Gallaudet.

1860
In Preußen beginnt die Abspaltung der "Taubstummenschule" von der Volksschule.

1860
bleiben die tauben Kinder von Martha's Vineyard bis zum 15 oder gar 20. Lebensjahr am American Ayslum in Connecticut. Sie heiraten später oft Schüler dieser Einrichtung, die aus anderen Gründen und eventuell auch mit anderen Erbanlagen ertaubt sind. Die hörenden Personen auf der Insel heiraten ihrerseits auch in auswärtige Familien ein. Als Folge davon geht die Zahl der taub geborenen Kinder auf der Insel drastisch zurück. 1870 wird in der Ortschaft Chilmark nur noch ein taubes Kind geboren, um die Jahrhundertwende gibt es nur noch 15 Taube auf der Insel, von denen der letzte 1952 stirbt.

1869
Otto Friedrich Kruse warnt 1869 vor dem Oralismus mit seiner Schrift "Zur Vermittlung der Extreme in der sogenannten deutschen und französischen Taubstummenunterrichtsmethode."


1870
Preußen: Die begonnene Trennung der Taubstummenschule aus der Volksschule wird per Gesetz festgeschrieben, es erfolgt der Aufbau des Sonderschulwesens.

Obwohl die Verallgemeinerungsbewegung (1821 - ca. 1860) gescheitert ist, hat sie mit vielen Schulen in Europa, in denen die hörenden und taubstummen Schüler zusammen Unterricht erhielten, für die Verbreitung der oralen Methode gesorgt. Der "Oralismus" wird ideologisch und politisch zum Durchsetzungskampf motiviert.

1872
Eduard Fürstenberg gibt die Zeitschrift "Der Taubstummenfreund" heraus.

1864
Präsident Abraham Lincoln unterzeichnet eine Verodrnung, mit der dem nunmehrigen "American Asylum for the Education and Instruction of Deaf and Dumb" der Status eines College garantiert wird. Der Name der Einrichtung wird geändert in "National College for the Deaf and Dumb".

1865
Die blinden Schüler verlassen das College und das Institut wird in "Columbia Institution for the Deaf and Dumb" umbenannt, während das College das "National Deaf-Mute College" wird. Es wird später das "Gallaudet College" bzw. die "Gallaudet University".

1867
Die "Clarke Institution", erste oral ausgerichtete Schuule un den USA, wird gegründet und eine Kampagne für die "Orale Methode beginnt.

1868
Alexander Graham Bell (1847 -1922), späterer Bürger der USA gibt in Edinburgh Sprechunterricht für taubstumme Kinder, studiert dazu bis 1870 Anatomie und Physiologie der menschlichen Stimme.

1870
A.G. Bell siedelt mit seinen Eltern nach Kanada über, wo sein Vater eine Lehrtätigkeit ausübt. Ein Jahr später geht Bell als Taubstummenlehrer nach Boston, USA.

1873
Organisation der ersten Taubstummenkongresse durch Eduard Fürstenberg. Dieser lädt die Vorsitzenden der schon bestehenden deutschen "Taubstummenvereine" zu einer Versammlung nach Berlin ein. Dieses Treffen gilt als der "Erste deutsche Taubstummen-Kongreß". Ihm folgten: Wien 1874, Dresden 1875, Leipzig, 1878, Prag 1881, Stockholm 1884, Hamburg 1892, Wiesbaden 1894, Nürnberg 1896, Stuttgart 1899, Berlin 1902, Leipzig 1905, München 1908, Hamburg 1911, Breslau 1914.

1873
Von 1873 bis 1877 bekleidet A.G. Bell eine Professur für Sprechtechnik und Physiologie der Stimme an der Universität Boston. Offenbar aufgrund dieser beruflichen Ausrichtung wird Bell einer der engagiertesten Befürworter des lautsprachlich orientierten Erziehungsprinzips für "Taubstumme".
George Veditz, Präsident der „National Association of the Deaf“ nennt Bell später (1907) „den Feind, den die amerikanischen Gehörlosen am meisten zu fürchten haben“.

1874
Deutscher Taubstummen-Kongreß in Wien 1874. Es wurden auf den Kongressen auch Schulfragen diskutiert: Schulpflicht, Schulzeitverlängerung, Fortbildungsmerkmale, Kindergarten, Schulen für Schwachbegabte, Lehrerbildung. Es wird eine Resolution verfaßt, die darauf abzielt, daß die gehörlosen Gehörlosenlehrer an den Schulen verbleiben und daß die Gebärdensprache an den Schulen erhalten bleiben soll.

1875
Isaac und Eugene Péreire, Sohn und Enkel von Jacob Rodrigues Péreire, die in Paris zu Wohlstand und Einfluß kamen, wollen das Ansehen ihres Vorfahren, der stets im Schatten de l'Epées stand, wahren, indem sie die "Pereire-Gesellschaft" gründen und eine Lautsprachenschule mit neun Schülern eröffnen. Direktor wird Marius Magnat, der in der von Renz in Genf 1866 errichteten Schule in der Zeit von 1872 bis 1875 wirkte.
Vorgänger Magnats an der Schule in Genf war Jacques Hugentobler (1869-1872), der später in Frankreich tätig wird und großen Einfluß nimmt.

1876
A.G. Bell versucht einen "harmonischen" Telegrafenapparat zur gleichzeitigen Übertragung mehrerer Informationen zu entwickeln und entdeckt dabei, dass statt Impulsen auch Tonfolgen übertragen werden können. Er kann diesen Zufall nicht wiederholen, bekommt aber Kenntnis von den Arbeiten von Elisha Gray und Antonio Meucci. Bell reicht am 10. März 1876 nur zwei Stunden vor Gray einen eigenen Patentantrag für das spätere Telefon ein. Ihm kommt dabei zugute, daß er nach neuestem Recht kein funktionierendes Modell vorlegen muss, ferner auch, dass Meucci zwar schon 1871 einen vorläufigen Patentantrag eingereicht hat, jedoch die Gebühren dafür nur bis 1874 zahlen konnte.

1876
In einer Publikation namens "Organ" 1876, Nr. 1, S. 7 äußert O. Danger in kräftigen Worten sein Mißbehagen, über die "Massenversammlungen der Taubstummen". Gemeint sind die jährlich in Hannover, später in Berlin stattfindenden Kirchentage. "So halte ich es auch dieses Jahr für meine Pflicht, wieder auf die Massenversammlungen der Taubstummen in Berlin und auf die Gefahren hinzuweisen, welche sie auf unsere jetzigen und einstigen Schüler ausüben."

1878
Im Rahmen der Weltausstellung in Paris wird ein Kongreß über Taubstumme organisiert. Den Vorsitz übernahm Léon Vaisse, nachdem Etcheverry abgelehnt hatte, Vizepräsident wurde E. Rigault.
Am Kongreß nahmen 27 Teilnehmer teil, davon 23 aus Frankreich, aus Deutschland erschien niemand. Folgende Themen werden behandelt:

  • Taubstummen-Statistik.
  • Ursachen der Taubheit. (Ref. Hugentobler.)
  • Psychologie des Taubstummen.
  • Aufgabe der Familie in der Taubstummen-Erziehung.
  • Der Taubstumme in der Volksschule.
  • Vereinigung der beiden Geschlechter in derselben Anstalt.
  • Gegenwärtiger Zustand der Tbst.-Bildung.
  • Ursachen der zum Theil unbefriedigenden Erfolge im Tbst.-Unterrichte.
  • Unterrichts-Methoden.
  • Lehr- und Stundenplan. (Ref. Hugentobler.)
  • Taubst.-Lehrer-Bildung
  • Taubst.-Lehrer-Versammlungen.

1879
Im Anschluß an den Pariser Weltkongress findet in Lyon die erste nationale Konferenz zur Verbesserung des Schicksals der Taubstummen statt. Aufgrund der Widersprüchlichkeit von Aussagen und Empfehlungen sendet das französische Ministerium seinen Generalinspektor Oscar Claveau und die Mutter Oberin der von Pereire gegründeten Schule in Bordeaux auf eine Rundreise zu 15 lautsprachlichen Schulen. In dem abschließenden Bericht empfehlen sie die lautsprachliche Methode. Das Ministerium ordnet daraufhin an, die Schule in Bordeaux lautsprachlich zu führen und ältere, die Gebärde verwendende Schüler von den neuen zu trennen.

Gesprochenes Französisch ist an allen staatlichen Schulen Unterrichtssprache. Der Direktor Etcheverry des Pariser Instituts wird durch den Hals-Nasen-Ohrenarzt Luis Peyron ersetzt. Dies geschieht vor dem Hintergrund, daß das Pariser Nationalinstitut nach wie vor der Gebärdenmethode eine Priorität einräumt. Es stehen sich in Frankreich damit zwei unterschiedliche Methoden gegenüber.

1877
Bell gründet zusammen mit Thomas Sanders and Gardiner G. Hubbard unter Einschluß seines Assistenten Thomas Watson die Bell Telephone Company.

Zwei Tage später heiratet Bell die taube Tochter Mabel seines Geschäftspartners Hubbard. Bereits vorher lehrte er sie zu sprechen und von den Lippen zu lesen.

1880

1880
Auch im Pariser Nationalinstitut gibt es inzwischen Verallgemeinerungsbestrebungen . Martin Etcheverry schreibt in "Die Taubstummen in Deutschland und Frankreich", „Die Zeichensprache ist dort [im Pariser Institut] streng verboten. Ab der Aufnahme in diesem Kurs beginnt der Schüler sich der in der Gesellschaft gebräuchlichen Umgangssprache zu bedienen [...] Die Schule von Paris lehrt das Wort zwar nicht allen Taubstummen, aber doch denjenigen Schülern, welche schon gesprochen haben, welche einen gewissen Grad von Gehör haben, oder welche, taubstumm geboren, zu sprechen wünschen, gute Begabung und guten Willen zeigen. Von über 200 Schülern haben 60 Artikulationsunterricht [...] Die Wahl der Kinder, welche sich zum Artikulationskurs eignen, findet einige Tage nach der Aufnahme der Schüler in der Anstalt statt."

Der Kongreß in Mailand 1880

Noch auszuführen

Deutschsprachige Länder


Frankreich


USA


1880

1884
Erster Deutschen Taubstummenlehrer Kongreß in Berlin, am 26.09.1884,Dr. Karl Schneider, der von 1879 bis 1899 dem Taubstummenbildungswesen im Preussischen Unterrichtsministerium vorstand, vertrat die Meinung: "Daß nicht vergeblich gearbeitet worden ist, zeigt, daß gegenwärtig in 96 deutschen Anstalten nach der reinen Lautsprachmethode von Angesicht zu Angesicht gesprochen wird.


1885
"Der Taubstummen-Courier" wird in Wien herausgegeben und bis 1904 verlegt.

1881
A.G. Bell gelingt es, das von ihm vorläufig nur als Patentantrag formulierte Telefon in einer gebrauchstüchtigen Form zu realisieren. Damit beginnt die weltweite Verbreitung des Telefons. Bell, der stets vorgab, die Tauben fördern zu wollen, verbreitet damit ironischerweise ein System, das später zum Kommunikations-Standard im Beruf, Geschäftsleben und Alltag wurde, jedoch durch seine Nicht-Nutzbarkeit für Taube diese ausgrenzte und ihre Chancen jahrhundertelang sehr nachhaltig minderte.

1890

1890
Massenpetition der "Taubstummen" an den deutschen Kaiser, um ihn auf die Mißerfolge der einseitigen oralen Methode aufmerksam zu machen.

1892
A. Bell erforscht die aufallende Häufung von Taubheit auf der Boston vorgelagerten Insel Martha's Vineyard. Aus seinen Untersuchungen zieht Bell in Unkenntnis der nur wenig später von Gregor Mendel formulierten Vererbungsgesetze die falschen Schlüsse und empfiehlt in der Monographie „Memoir upon the Formation of a Deaf Variety of the Human Race“ ein Eheverbot unter Taubstummen, warnt vor Internaten für Taube als Zuchtanstalt einer tauben Menschenrasse und empfiehlt die eugenischen Kontrolle von USA-Immigranten. Spätere Arbeiten von Rassehygienikern stützten sich bis weit in das 20. Jahrhundert ungeprüft auf Bells Angaben. Als Folge werden zahlreiche taube Personen ohne ihr Wissen und ohne ihr Einverständnis sterilisiert. Dabei soll sich Bell als akribischer Forscher durchaus über die methodischen Mängel seiner Untersuchungen im klaren gewesen sein.

1893
Das "National Deaf Mute College" wird umbenannt in "Gallaudet College"