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Richard Wilhelm

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Richard Wilhelm

Richard Wilhelm (* 10. Mai 1873 in Stuttgart; † 2. März 1930 in Tübingen) war ein deutscher Sinologe. Daneben war er Theologe und Missionar. Später wandte er sich dem Daoismus zu, wobei er mit seiner Tätigkeit als Übersetzer und Kommentator, insbesondere des I Ging, Weltruhm erlangte.

Leben

Jugend

Richard Wilhelm wurde 1873 in Stuttgart als Sohn eines aus Thüringen stammenden Glasmalers geboren. Nachdem er bereits mit neun Jahren seinen Vater verloren hatte, „der als milder Schein über meinen Kindheitstagen steht“, übernahmen seine Mutter und Großmutter die Erziehung.

Der Theologe

1891 nahm er an der Universität Tübingen ein Theologie-Studium auf. Nach seiner Ordinierung in der Stuttgarter Stiftskirche 1895 wurde Wilhelm Vikar in Wimsheim, 1897 in Boll. Die dortige Begegnung mit Christoph Friedrich Blumhardt, der sich in seinen späten Jahren aus der engen Bindung mit der evangelischen Kirche löste und zu sozialen Fragen und der Sozialdemokratie hingezogen fühlte, wurde für Wilhelm lebensbestimmend. 1899 verlobte er sich mit Blumhardts Tochter Salome.

Wirken in Qingdao

Im selben Jahr brach Wilhelm im Dienste der Ostasienmission als Missionar in das Kaiserreich China auf. Nachdem er 1900 in Shanghai Salome geheiratet hatte, kam er in das damalige deutsche Pachtgebiet Tsingtau in der chinesischen Provinz Shandong. Dort lernte er zunächst Chinesisch und arbeitete als Pfarrer und Pädagoge. Unter anderem gründete er eine deutsch-chinesische Schule. Durch seine pädagogische Tätigkeit lernte er traditionell gebildete chinesische Gelehrte kennen, die sein Verständnis der chinesischen Kultur und Geschichte vertieften, vor allem aber sein Studium der Schriften des klassischen chinesischen Altertums unterstützten. Für seine Verdienste um die chinesische Erziehung verlieh ihm die Kaiserinwitwe Cixi den »Rangknopf vierter Klasse«, verbunden mit dem Titel »Daotai«.

Während des Japanisch-Russischen Krieges 1904–1905, dessen Auswirkungen auch in Qingdao zu spüren waren, führte er seine Arbeit weiter und trat dann 1907 mit seiner inzwischen fünfköpfigen Familie den ersten Heimaturlaub an.

Bereits 1908 reiste Richard Wilhelm zum zweiten Mal nach China. Unter der japanischen Besetzung im Ersten Weltkrieg konnte er seine Arbeit in der Schule und als Pfarrer der deutschen Gemeinde in Qingdao nur unter großen Schwierigkeiten weiterführen. Im Sommer 1920 beendete Wilhelm seine zwanzigjährige Missionarstätigkeit und kehrte abermals vorübergehend nach Deutschland zurück. Sein kommissarischer Nachfolger wurde Hermann Bohner.

Intermezzo in Peking

1922–1924 arbeitete Richard Wilhelm als wissenschaftlicher Berater in der deutschen Gesandtschaft in Peking, daneben lehrte er an der Peking-Universität. Hier übersetzte er auch das I Ging (Buch der Wandlungen) ins Deutsche. Die Edition, welche er zu seiner Übersetzung als Vorlage nutzte, war das Dschou I Dsche Dschung aus der Kangxi Zeit (1662–1723). Mit Hilfe seines Lehrers Lau Nai Süan (vgl. sein Vorwort zur Erstausgabe) schuf er seine in viele westliche Sprachen übersetzte Ausgabe und kommentierte sie, wobei er Zitate aus der Bibel und von Goethe sowie Gedankengut westlicher Philosophen und protestantischer, parsischer und alt-griechischer Theologie einfließen ließ, und zeigte so Parallelen zu chinesischer Weisheit.

Zurück in Deutschland

1924 wurde er als Honorarprofessor auf den neu gegründeten Stiftungslehrstuhl für Chinesische Geschichte und Chinesische Philosophie in Frankfurt am Main berufen; 1927 wurde er ordentlicher Professor.

Er stand in freundschaftlicher Verbindung mit vielen großen Gelehrten und Philosophen seiner Zeit. Zu seinen Freunden zählten u. a. Albert Schweitzer, Hermann Hesse, Martin Buber, Carl Gustav Jung, Hermann Graf Keyserling, Hans-Hasso von Veltheim-Ostrau und der indische Philosoph Tagore, um nur die wichtigsten zu nennen. Das Studium der chinesischen Kultur prägte Wilhelm so tief, dass er sich ausschließlich der Sinologie zu widmen begann.

Wilhelm wandte sich gegen eine eurozentrische Sichtweise der chinesischen Kultur. Er war von Bewunderung für die Chinesen und die chinesische Kultur erfüllt und setzte sich für einen Austausch der Kulturen ein. Daher zog er sich auch immer mehr aus der Missionstätigkeit zurück und konzentrierte sich auf die Sinologie. Die Missionstätigkeit sah er zunehmend kritisch: „Es ist mir ein Trost, daß ich als Missionar keinen Chinesen bekehrt habe“.

Tod

Datei:Richard Wilhelm.JPG
Richard Wilhelm

Kurz vor seinem Tod hatte er sein zwanzig Jahre zuvor begonnenes Hauptwerk abgeschlossen, die Übersetzung und Herausgabe des achtbändigen Quellenwerkes Religion und Philosophie Chinas. Wilhelm starb am 1. März 1930 an einer schweren Tropenkrankheit in Tübingen und wurde am 3. März auf dem kleinen Friedhof in Bad Boll in aller Stille beigesetzt. Im Zentrum der eigentlichen Grabstätte befindet sich eine große Travertin-Kugel, umschlossen von acht Hexagrammen. Seine Frau Salome wurde dort ebenfalls beigesetzt. Sein Freund C.G. Jung verfasste einen Nachruf, den er 1930 veröffentlichte (C.G. Jung, Gesammelte Werke, Band 15: Über das Phänomen des Geistes in Kunst und Wissenschaft, Auflage 2001, Walter Verlag, ISBN 978-3-530-40715-0)

Familie

Das Ehepaar Wilhelm hatte vier gemeinsame Kinder, ein Sohn, der Sinologe Hellmut Wilhelm (1905–1990) wurde später Professor an der University of Washington.

Werk

Konfuzianismus und Daoismus als Philosophie bilden die Eckpfeiler seines Schaffens als Übersetzer und Kommentator des I Ging und der drei Hauptwerke des Taoistischen Kanons (Daodejing, Zhuangzi und Liezi). In der Einleitung zu seiner Übersetzung des Daodejing („Tao te king“, Eugen Diederichs Verlag, Leipzig 1910) bemerkt er dazu:

„Uns genügt hier die Tatsache, dass Laotse ebensogut die Fortsetzung einer alten chinesischen Geistesrichtung bedeutet wie Kungtse (Konfuzius).... Das alles gibt uns einen Fingerzeig dafür, daß Laotse mindestens ebenso mit dem chinesischen Altertum geistige Fühlung hat als Kungtse, der den überlieferten Stoff sehr stark nach seinen Anschauungen umredigiert zu haben scheint. Gerade dass in diesem redigierten Stoff, sowohl im »Buch der Urkunden« (Schu Ging) als besonders im »Buch der Wandlungen« (I Ging) noch so viel »Taoistisches« steht, ist der beste Beweis für unsere Auffassung....Es hat natürlich von alters her auch in China nicht an Leuten gefehlt, die ihre Ansichten in den in den Tao te king hineinzuerklären wußten, sei es, daß sie seine Lehren mit den konfuzianischen zu vereinigen suchten, sei es, daß sie die Pflege buddhistischer Kontemplation bei ihm fanden, sei es, daß sie ihn zu Hilfe nahmen bei Herstellung des Lebenselixiers oder des Steins der Weisen, der Blei in Gold verwandelt, sei es, daß er benützt wurde für militärische oder strafrechtliche Lehren, sei es, daß er verknüpft wurde mit dem animistischen Polytheismus oder mit gewissen vegetarischen und antialkoholischen Riten, oder daß man aus dem Taoteking Zaubersprüche zum Segnen und Fluchen zusammenstellte, ja bis in die Kreise der politischen Geheimsekten hinein, die mit ihrem Geisterzauber zu verschiedenen Zeiten den Umsturz des Bestehenden planten: überall mußte der alte Weise mit seinem Namen herhalten. Aber alle diese Richtungen sind, wie ein chinesischer Gelehrter sehr richtig bemerkt, nur Räuber an Laotse.“

Richard Wilhelm: Tao te king

Neben den bekannten Übersetzungen der Texte des klassischen chinesischen Altertums, die immer wieder neu aufgelegt werden, steht aber noch eine Vielzahl von Arbeiten, in denen er sich aufmerksam und kritisch mit der chinesischen Gegenwart befasst. So veröffentlichte er Tagebuchaufzeichnungen über die zeitgenössischen Ereignisse und sein Leben und Arbeiten in Qingdao, aber auch ein Werk über chinesische Wirtschaftspsychologie, das eine durchaus praktische Zielsetzung hatte.

In der Sinologie werden seine Übersetzungen als veraltet angesehen, da sie durch sein christliches Verständnis geprägt seien oder ihm Fachkompetenz, z. B. in Bezug auf den Daoismus als Religion, gefehlt habe. Im Umkehrschluss könnte man der modernen Sinologie vorhalten, die von Richard Wilhelm detailliert für das westliche Verständnis aufbereiteten wichtigen Aspekte des chinesischen Denkens weitgehend ignorieren zu wollen. Ein Zitat aus Dschuang Dsi (Zhuangzi), Buch XVII, 1., beleuchtet auf entspannte Weise das gespannte Verhältnis (das Wort 'Leben', wenn es von Richard Wilhelm in Großbuchstaben gesetzt wird, steht für das chinesische Wort 'Te', wie z. B. in 'Tao te king', wobei in diesem Zusammenhang auch eine Übersetzung mit 'Natur', 'Wesen', 'Geist' oder 'Kraft' möglich wäre; vgl. Richard Wilhelm, Tao te king, Einleitung):

„Mit einem Fachmann kann man nicht vom LEBEN reden, er ist gebunden durch seine Lehre.“

Richard Wilhelm: Dschuang Dsi, Das wahre Buch vom südlichen Blütenland

Zur Übersetzung des Daodejing (Tao te king, Eugen Diederichs Verlag, München, 1978, Ausgabe mit Kommentar und Erklärungen, als vollständige Taschenbuchausgabe bei Bastei Lübbe, 1999) benutzte Richard Wilhelm u. A. folgende, im Literaturverzeichnis gelisteten Quellen (Umschrift nach dem Lessing-Othmer-System):

  • Niën Erl Dsï Ho Ko (Gesamtausgabe der 22 Philosophen), Schanghai 1894. Steindruck. Band I: Laotse, kommentiert von Wang Bi mit textkritischen Bemerkungen von Lu De Ming.
  • Lau Dsï Dsi Gië, von Süo Hui (2 Bände). Alter Holzdruck aus dem Jahr 1598.
  • Dau De Ging Tsche, von Hung Ying Schau (2 Bände), Holzdruck, Ming-Dynastie, ohne Jahresangabe.
  • Lau Dsï Te Gië, von Dazai Shuntai (2 Bände)
  • Wang Fu Dschï, aus sämtlichen Werken der Band, der einen Kommentar des Laotses enthält, Ende der Ming-Dynastie.

In seinen Erklärungen zu den einzelnen Abschnitten des Daodejing verweist er auf die Gespräche des Konfuzius (zu Abschnitt 2, 7, 10, 15, 27, 32, 37, 62, 63-65), auf das Buch der Urkunden (zu Abschnitt 64), auf Huai Nan Dsï (zu Abschnitt 62), auf das I Ging (zu Abschnitt 56), und auf Liä Dsï/Liezi (zu Abschnitt 6). Des Weiteren hat er lt. Literaturverzeichnis umfangreiches Material und andere Übersetzungen in europäische Sprachen gesichtet, so z. B.:

  • James Legge: The Sacred Books of the East, vol. XXXIX: The Texts of Taoism, Oxford 1891.
    Nahe der Landstraße zwischen Bad Boll und der Autobahn befindet sich das Grab Richard Wilhelms und seiner Frau auf dem historischen Blumhardt-Friedhof
  • F. H. Balfour: Taoist Texts. London 1884.
  • Paul Carus: Lao-tze's Tao-Teh-King. Chicago 1898.
  • Lionel Giles: The Sayings of Lao Tzu. London 1905, 2. Auflage 1909.
  • C. Spurgeon Medhurst: The Tao Teh King. Chicago 1905.
  • C. de Harlez: Textes Taoistes. (Annales du Musée Guimet, Tome XX), Paris 1891.
  • Léon de Rosny: Le Taoisme. Paris 1892 (Materialsammlung)
  • Stanislas Julien: Lao Tseu. Tao Te King, Paris 1842.
  • Viktor von Strauß und Torney: Lao-tse's Tao Te King. Leipzig 1870.
  • Franz Hartmann: Theosophie in China. Leipzig o. J.
  • Josef Kohler: Des Morgenlandes größte Weisheit, Laotse, Tao-Te-King. Berlin/Leipzig 1908.
  • Julius Grill: Lao-Tsezes Buch vom höchsten Wesen und vom höchsten Gut. Tübingen 1910.
  • Otto Franke: Über die chinesische Lehre von den Bezeichnung. Leiden 1906.

Bei seiner Übersetzung des I Ging verwendete er u. a. die Zehn Flügel, die älteste Kommentarliteratur über das Buch der Wandlungen.

Nicht zuletzt kommt auch seinem „verehrten Lehrer Lau Nai Süan", einem „der bedeutendsten chinesischen Gelehrten der alten Schule“ (vgl. R. Wilhelm, I Ging, Vorrede zur Erstausgabe, Peking 1923), großes Verdienst zu, seine Übersetzungen der daoistischen Klassiker – und im Besonderen des I Ging – weltweit erfolgreich werden zu lassen. Die hohe Wertschätzung, welche die chinesische Kultur in der westlichen Welt erfahren hat und immer noch erfährt, ist in nicht geringem Maße eine Auswirkung des Werkes von Richard Wilhelm.

Werke

Für die Umschreibung chinesischer Zeichen verwendete er – wie viele deutsche Sinologen seiner Zeit – das heute kaum noch bekannte Wilhelm-Lessing'sche System, das 1911 eine Versammlung deutscher Lehrer in China zum Standard erhoben hatte.

Übersetzungen

Literatur

Commons: Richard Wilhelm – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wikisource: Richard Wilhelm – Quellen und Volltexte