Kuss (Liturgie)
Der Kuss als Gebärde der Ehrfurcht und Verbundenheit ist seit dem frühen Christentum ein Ritus in der christlichen Liturgie und Frömmigkeit. Am häufigsten ist er in der heiligen Messe als Altarkuss, als Kuss des Evangelienbuchs und als Friedensgestus.
Altarkuss
Zu Beginn der heiligen Messe verehren der Zelebrant, gegebenenfalls auch die Konzelebranten und der Diakon, den Altar, indem sie sich verneigen und die Altarplatte mit den Lippen berühren, ebenfalls als Abschiedsgeste am Ende des Gottesdienstes. Die Verehrung wurde früh auf Christus bezogen, der durch den Altar symbolisiert wird (1 Petr 2,4-8 EU). Seit dem Mittelalter galt die Verehrung auch den Reliquien, die in der Altarplatte eingemauert waren. Das im 12. Jahrhundert entstandene Begleitgebet zum Altarkuss Oramus te, Domine, das der Priester seit 1570 im Römischen Ritus beim Altarkuss sprach, brachte dies zum Ausdruck: „Herr, wir bitten Dich: Durch die Verdienste Deiner Heiligen, deren Reliquien hier ruhen, sowie aller Heiligen, verzeih mir gnädig alle Sünden. Amen.“[1]
Der Brauch des Altarkusses zu Beginn und zum Ende der heiligen Messe geht auf die Alte Kirche zurück. Bereits in der Antike küsste man die Schwelle des Tempels beim Betreten, ebenfalls Götterbilder und den Altar.[2] Ab dem 13. Jahrhundert nahm die Zahl der Altarküsse in der heiligen Messe zu. Der Priester küsste jedes Mal den Altar, bevor er sich mit einer Akklamation (Dominus vobiscum, Orate fratres) der Gemeinde zuwandte, ferner im eucharistischen Hochgebet bei den Gebeten Te igitur und Supplices.[3]
Seit der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils wird die Zahl der Altarküsse wieder auf den Kuss zu Beginn der heiligen Messe und fakultativ zu deren Ende beschränkt, das Begleitgebet ist weggefallen.[4] Wenn der Altarkuss nicht der „Tradition beziehungsweise dem Empfinden eines Landes“ entspricht, kann die zuständige Bischofskonferenz ein anderes Zeichen festlegen.[5]
Friedenskuss
Ein heiliger Kuss oder Friedenskuss als Zeichen der geschwisterlichen Verbundenheit aller am Gottesdienst Teilnehmenden war offenbar schon in apostolischer Zeit beim Herrenmahl üblich (vgl. Röm 16,16 EU, 1 Kor 16,20 EU, 2 Kor 13,12 EU); die christliche Gemeinde übernahm das Zeichen aus der jüdisch-hellenistischen Umwelt.

Die Position des Friedenskusses in der heiligen Messe war im Lauf der Entwicklung unterschiedlich: zu Beginn der heiligen Messe in Verbindung mit dem Altarkuss, nach dem Ende des Wortgottesdienstes oder vor der Kommunion. In der gallisch-fränkischen Liturgie des Rheinischen Messordos um das Jahr 1000 erfolgte er zu Beginn und vor der Kommunion.[6] Der Friedenskuss wurde bald auf die Kleriker untereinander beschränkt und zur Umarmung stilisiert: sinistris genis sibi invicem appropinquantibus ‚indem sie sich mit den linken Wangen einander annäherten‘.[7] Zum Erteilen des Friedensgrußes an die Gemeinde küsste der Priester zunächst den Altar und dann eine Paxtafel (instrumentum pacis, paxillum, von lat. pax ‚Frieden‘), die an die Gläubigen zum Kuss weitergereicht wurde. Paxtafeln oder „Oskulatorien“ (von lat. osculari ‚küssen‘), die auch eine Reliquie enthalten konnten, wurden seit dem 13. Jahrhundert in England üblich und sind ab dem 15. Jahrhundert auch in Rom und im deutschen Sprachgebiet nachweisbar. Sie blieben bis ins 18. Jahrhundert in Gebrauch, wenn auch zuletzt als Ehrenvorrecht für Personen höheren Standes oder bei besonderen festlichen Anlässen.[8][9] „Der Friedenskuss geht also vom Altar aus und wird wie eine Botschaft, ja wie eine Gabe, die aus dem Allerheiligsten kommt, [...] weitergegeben.“[10]
Die Form des Friedenszeichens wird nach der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils durch die regionalen Bischofskonferenzen „entsprechend der Eigenart und den Bräuchen der Völker “ bestimmt. In Mitteleuropa ist ein Händedruck üblich geworden, für Kleriker untereinander auch weiterhin eine rituelle Umarmung.[11]
Auch bei der Inthronisation eines Bischofs geben sich die anwesenden Bischöfe gegenseitig den Friedenskuss.
Der Kuss als Verehrung von Evangelienbuch, Kreuz und Ikonen
Der Kuss des Evangelistars oder Lektionars, des Buches, in dem das in der heiligen Messe verkündete Wort Gottes aufgezeichnet ist, kam durch fränkischen Einfluss im frühen Mittelalter in den Römischen Ritus. Der Zelebrant küsste es zu Beginn der heiligen Messe in Verbindung mit dem Altarkuss.[12] Der Kuss des Evangelienbuchs durch den verlesenden Priester oder Diakon nach dem Vortrag des Evangeliums ist bis heute Teil der römisch-katholischen Liturgie, kann aber gegebenenfalls auch durch ein anderes Zeichen ersetzt werden.[5]
Der Kuss des Kreuzes gehört zur liturgischen Feier vom Leiden und Sterben Christi am Karfreitag. Nach der Enthüllung des Kreuzes treten alle hinzu und können das Kreuz durch eine Kniebeuge und einen Kuss verehren. Seit dem Hochmittelalter küsste der Priester zu Beginn der heiligen Messe neben dem Altar und dem Evangelistar auch das Altarkreuz; am Ausgang des Mittelalters trat an die Stelle am Beginn des Canon Missae der Kuss des Kreuzigungsbildes, das im Missale in Ausschmückung des ersten Wortes des Canon, „Te igitur“, üblich geworden war.[13] Das regional bisweilen übliche Küssen des Kreuzes zu Beginn des Rosenkranzgebetes gehört in den Bereich der Volksfrömmigkeit.
In der orthodoxen Liturgie verehren die Gläubigen beim Betreten der Kirche die dort auf Ikonenpulten liegenden Ikonen durch einen Kuss. Am Ende der Liturgie, nach dem Schlusssegen, reicht ihnen der Priester das Altarkreuz zum Kuss, ebenfalls am Ende der Myronsalbung nachj der Taufe. Das Küssen von Kreuz und Evangelienbuch ist ferner Element in manchen orthodoxen Bußgottesdiensten. Bei der kirchlichen Trauung küssen Braut und Bräutigam vor ihrer Krönung eine kleine Ikone.
Ringkuss, Kuss von Reliquien und Gegenständen
Der Kuss des Bischofsrings beim Handkuss gehört zu den heute noch möglichen, aber nicht mehr gebotenen protokollarischen Höflichkeitsformen gegenüber einem Bischof oder dem Papst. Er bringt Verehrung und Gehorsam zum Ausdruck.
Im Mittelalter gab es den Brauch, dass Gläubige bei der Gabenbereitung der heiligen Messe Gaben zum Altar brachten und den Manipel oder die Stola des Priesters küssten, der dabei ein Segenswort sprach. Dies wurde im Missale Pius' 1570 fallen gelassen. Regional blieben vergleichbare Formen beim Opfergang der Gläubigen bestehen, wie etwa der Kuss der Hand des Priesters, des Korporales oder der Patene.[14] Das Küssen von Gegenständen und der Hand in der heiligen Messe wurde vom Zweiten Vatikanischen Konzil abgeschafft, das für die Riten „den Glanz edler Einfachheit“ forderte. (Konstitution Sacrosanctum Concilium Nr. 34)[15]
Der Kuss von Reliquien in einem Reliquiar als Zeichen der Heiligenverehrung ist eine verbreitete Form der außerliturgischen Volksfrömmigkeit, ebenfalls der Kuss von Devotionalien, Medaillen und Andachtsbildern.
Literatur
- Franz Joseph Dölger: Der Altarkuß. In: ders.: Antike und Christentum. Bd. 2, 1930, S. 190-221.
Einzelnachweise
- ↑ Andreas Heinz: Altarkuß. In: Walter Kasper (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Auflage. Band 1. Herder, Freiburg im Breisgau 1993, Sp. 440.
- ↑ Josef Andreas Jungmann SJ: Missarum Sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe. Band 1, Herder Verlag, Wien, Freiburg, Basel, 5. Auflage 1962, S. 406.
- ↑ Hans Bernhard Meyer: Eucharistie. Geschichte, Theologie, Pastoral. Regensburg 1989 (Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft, Teil 4), S. 217f.
- ↑ Allgemeine Einführung in das Römische Messbuch (AEM), Nr. 27, 85, 125.
- ↑ a b AEM Nr. 232.
- ↑ Hans Bernhard Meyer: Eucharistie. Geschichte, Theologie, Pastoral. Regensburg 1989 (Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft, Teil 4), S. 79.121.204ff.
- ↑ Missale Romanum, zitiert bei: Josef Andreas Jungmann SJ: Missarum Sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe. Band 2, Herder Verlag, Wien, Freiburg, Basel, 5. Auflage 1962, S. 408.
- ↑ Thomas Richter: Paxtafel. In: Walter Kasper (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Auflage. Band 7. Herder, Freiburg im Breisgau 1998, Sp. 1535 f.
- ↑ Hans Bernhard Meyer: Eucharistie. Geschichte, Theologie, Pastoral. Regensburg 1989 (Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft, Teil 4), S. 291 Anm. 51.
- ↑ Josef Andreas Jungmann SJ: Missarum Sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe. Band 2, Herder Verlag, Wien, Freiburg, Basel, 5. Auflage 1962, S. 405.
- ↑ Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz: Missale Romanum. Editio typica tertia 2002, Grundordnung des Römischen Messbuchs, Vorabpublikation zum Deutschen Messbuch (3. Auflage) (PDF; 545 kB) Arbeitshilfen Nr. 215, Bonn 2007, Nr. 82.
- ↑ Hans Bernhard Meyer: Eucharistie. Geschichte, Theologie, Pastoral. Regensburg 1989 (Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft, Teil 4), S. 203.205.
- ↑ Josef Andreas Jungmann SJ: Missarum Sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe. Band 1, Herder Verlag, Wien, Freiburg, Basel, 5. Auflage 1962, S. 404.
- ↑ Hans Bernhard Meyer: Eucharistie. Geschichte, Theologie, Pastoral. Regensburg 1989 (Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft, Teil 4), S. 218; Josef Andreas Jungmann SJ: Missarum Sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe. Band 2, Herder Verlag, Wien, Freiburg, Basel, 5. Auflage 1962, S. 23ff.
- ↑ Instruktion Inter oecumenici, 26. September 1964, Nr. 36 d: „Der Handkuss und der Kuss von Gegenständen, die dargereicht oder entgegengenommen werden, sollen unterbleiben.“