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Nuklearkatastrophe von Tschernobyl

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Tschornobyl 1997

Am 26. April 1986 ereignete sich in der Stadt Prypjat, Ukraine (damals: Sowjetunion) eine katastrophale Kernschmelze und Explosion im Kernreaktor Tschornobyl Block 4. Der Hergang des Unfalls ist bis heute nicht zweifelsfrei geklärt. Er gilt als die zweitschwerste nukleare Havarie nach der von Majak und war eine der größten Umweltkatastrophen überhaupt.

Bekannt ist diese Katastrophe unter dem russischen Namen der Nachbarstadt Tschernobyl, da Russisch zum Zeitpunkt der Katastrophe Hauptamtssprache war. Der korrekte ukrainische Name der Stadt lautet Tschornobyl. Vereinzelt werden auch die englischen Schreibweisen Chernobyl bzw. Chornobyl verwendet.

Die Katastrophe

Als Ursache allgemein anerkannt ist eine bauartbedingte Eigenheit des Reaktors (ein so genannter RBMK-Reaktor). Ausgelöst wurde die Katastrophe durch schwere Betriebsfehler der Betreiber der Anlage, welche genau die Prozeduren missachteten und die Sicherheitssysteme abschalteten, die den sicheren Betrieb gewährleisten sollten.

Tschornobyl in der Oblast Kiew

Tatsache ist, dass am Reaktor ein Experiment durchgeführt wurde, dessen fehlerhafte Ausführung die Katastrophe einleitete.

Da Kernkraftwerke Strom nicht nur erzeugen, sondern auch verbrauchen (beispielsweise für den Betrieb der Kühlpumpen, Mess- und Anzeigetechnik usw.) und diesen aus dem Netz entnehmen, muss sichergestellt sein, dass bei einem totalen Stromausfall genügend elektrische Leistung zur Verfügung steht, um den Reaktor sicher abzuschalten.

In dem anstehenden Test sollte geprüft werden, ob die Leistung der bei der Abschaltung langsam auslaufenden Turbine die Zeit bis zum Anlaufen von Dieselgeneratoren (etwa 40-60 Sekunden) überbrücken kann. Ein früherer Versuch im Block 3 des Kraftwerks war zuvor gescheitert, weil die Spannung zu schnell absank. Nun sollte der Versuch mit einem verbesserten Spannungsregler wiederholt werden. Diesen erneuten Versuch führte man bei einer Routineabschaltung des Reaktors durch.

25.4.1986, 1:00: mehlih sahin is ne drecksratte und schwuchtel aaiiiiiiiiiiiiiiiii Als erster Schritt sollte die Leistung des Reaktors von ihrem Nennwert bei 3.200 Megawatt (thermisch) auf 1.000 MW reduziert werden, wie bei einer Regelabschaltung üblich. Um 13:05 wurde auf Anweisung des Lastverteilers in Kiew die Leistung bei 1600 MWth stabilisiert.

23:10: Die Leistung wurde weiter abgesenkt. Nach dem Schichtwechsel um 24:00 stellte die neue Mannschaft um 00:28 bei 500 MWth auf automatische Leistungsregelung um. Durch einen Bedienfehler, durch den der Sollwert für die Gesamtleistungsregelung anscheinend nicht richtig eingestellt wurde, oder auf Grund eines technischen Defekts sank die Leistung weiter bis auf nur etwa 30 MW.

Wie nach jeder Leistungsabsenkung erhöhte sich vorübergehend die Konzentration des Isotops Xenon-135 im Reaktorkern („Xe-Vergiftung“). Da Xenon-135 ein sehr guter Neutronenabsorber ist, nahm aufgrund der Konzentrationszunahme die Leistung des Reaktors immer weiter ab. Als die Betriebsmannschaft am 26.4.1986 um 00:32 Uhr die Leistung des Reaktors durch weiteres Ausfahren von Regelstäben wieder anheben wollte, gelang ihr das infolge der mittlerweile aufgebauten Xe-Vergiftung nur bis zu etwa 200 MW oder 7 % der Nennleistung.

Obwohl der Betrieb auf diesem Leistungsniveau unzulässig war (laut Vorschrift durfte der Reaktor nicht unterhalb von 20 % der Nennleistung betrieben werden) und sich zu diesem Zeitpunkt außerdem viel weniger Regelstäbe im Kern befanden, als für einen sicheren Betrieb notwendig waren, wurde der Reaktor nicht abgeschaltet, sondern das Signal zum Beginn des Testlaufs gegeben.

26.04.1986, 01:03: Da für den Test die vier Hauptkühlmittelpumpen die Verbraucher darstellten, wurden diese nun auf volle Leistung geschaltet. Trotz der resultierenden Unterkühlung sank die Reaktivität langsam weiter, da durch die geringe Leistung und den damit einhergehenden zu geringen Neutronenfluss die Vergiftung des Reaktors, vor allem mit Xenon-135, weiter anstieg. Weitere Regelstäbe mussten entfernt werden, um die Leistung zu stabilisieren. Dies wäre der letzte Zeitpunkt gewesen, an dem man den Reaktor noch durch eine Notabschaltung hätte retten können.

01:15 Der Reaktor befand sich zu diesem Zeitpunkt in einem äußerst instabilen Zustand, in dem jede kleinste Veränderung eines Parameters schwerwiegende Folgen haben konnte. Um ihn in diesem Zustand zu betreiben, mussten automatische Sicherheitssysteme überbrückt werden und der Operator mehrere Warnanzeigen ignorieren.

01:23 Der eigentliche Test beginnt. Das Haupteinlassventil der Turbine wurde geschlossen und somit dem Generator, dessen Auslaufenergie man messen wollte, die Kraftzufuhr genommen. Dadurch wurde die Wärmeabfuhr aus dem Reaktor unterbrochen, die Temperatur stieg an und Kühlmittel verdampfte.

Im Gegensatz zu westlichen Leichtwasserreaktoren, in denen das Kühlmittel gleichzeitig Moderator ist, haben Reaktoren des RBMK-Typs im unteren Leistungsbereich einen positiven so genannten Dampfblasen- oder Voidkoeffizienten. Das bedeutet, dass mit zunehmendem Verdampfen des Kühlmittels die Reaktivität des Reaktors steigt.

Genau das geschah auch hier. Der dadurch wachsende Neutronenfluss bewirkte einen verstärkten Abbau der im Kern angesammelten Neutronengifte (insbesondere Xe-135). Dadurch stiegen Reaktivität und Reaktorleistung immer schneller an, wodurch wieder größere Mengen Kühlmittel verdampften. Die Situation geriet langsam außer Kontrolle. Um 01:23:35 befahl der Schichtleiter die Notabschaltung des Reaktors.

Dazu wurden alle zuvor aus dem Kern entfernten Steuerstäbe wieder in den Reaktor eingefahren, doch hier zeigte sich ein weiterer Konzeptionsfehler des Reaktortyps: Durch die an den Spitzen der Stäbe angebrachten Graphitblöcke (Graphit war der Hauptmoderator des Reaktors) wurde beim Einfahren eines vollständig herausgezogenen Stabs die Reaktivität kurzzeitig erhöht, bis der Stab tiefer in den Kern eingedrungen war.

Die durch das gleichzeitige Einführen aller Stäbe (über 250) massiv gesteigerte Neutronenausbeute ließ die Reaktivität so weit ansteigen, bis schließlich (um 01:23:44) die prompten Neutronen alleine (also ohne die verzögerten Neutronen) für die Kettenreaktion ausreichten („prompte Kritikalität“) und die Leistung innerhalb von Millisekunden das Hundertfache des Nennwertes überschritt („nukleare Leistungsexkursion“).

Die Hitze verformte die Kanäle der Regelstäbe, sodass diese nie weit genug in den Reaktorkern eindringen konnten, um ihre volle Wirkung zu erzielen, und sie ließ die Brennelemente reißen und mit dem umgebenden Wasser reagieren. Wasserstoff entstand in größeren Mengen und bildete mit dem Sauerstoff der Luft Knallgas, das sich vermutlich entzündete und zu einer zweiten Explosion (nur Sekunden nach der „nuklearen Exkursion“) führte.

Welche Explosion zum Abheben des über 1.000 Tonnen schweren Deckels des Reaktorkerns führte, ist nicht ganz klar. Außerdem zerstörten die Explosionen das (nur als Wetterschutz ausgebildete) Dach des Reaktorgebäudes, sodass der Reaktorkern nun nicht mehr eingeschlossen war und direkte Verbindung zur Atmosphäre hatte. Der glühende Graphit im Reaktorkern fing sofort Feuer. Insgesamt verbrannten während der folgenden 10 Tage 250 Tonnen Graphit, das sind etwa 15 % des Gesamtinventars.

Große Mengen an Radioaktivität wurden durch die Explosionen und den anschließenden Brand des Graphit-Moderators in die Umwelt freigesetzt, wobei die hohen Temperaturen des Graphitbrandes für eine Freisetzung in große Höhen sorgten. Insbesondere die leicht flüchtigen Isotope Iod-131 und Cäsium-137 bildeten gefährliche Aerosole, die in einer radioaktiven Wolke teilweise hunderte oder gar tausende Kilometer weit getragen wurden, bevor sie der Regen aus der Atmosphäre auswusch. Radioaktive Metalle mit höherem Siedepunkt wurden hingegen vor allem in Form von Staubpartikeln freigesetzt, die sich in der Nähe des Reaktors niederschlugen.

05:00 Die Feuerwehr hat die Brände gelöscht. Block 3 wird abgeschaltet.

27.04.1986: Die Blöcke 1 und 2 werden um 01:13 bzw. 02:13 abgeschaltet. Man beginnt den Reaktor mit Blei, Bor, Dolomit, Sand und Lehm zuzuschütten. Dies verringert die Spaltproduktfreisetzung und deckt den brennenden Graphit im Kern ab.

Am 6. Mai 1986 ist die Spaltproduktfreisetzung weitgehend beendet.

Vergleich zu Reaktoren westlicher Bauart

Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen dem in Tschornobyl eingesetzten Reaktortyp RBMK und den meisten Reaktoren westlicher Bauart ist, dass in letzteren das Kühlwasser gleichzeitig als Moderator fungiert. Kommt es bei einem der typischen westlichen Reaktoren zum Verdampfen des Kühlmittels, verringert sich gleichzeitig die Moderatorleistung und damit die Neutronenausbeute, sodass die Reaktivität entsprechend verringert wird. Beim Tschornobyl-Typ hingegen ist die Moderationsleistung des Graphits konstant und ein Verdampfen des Kühlwassers steigert die Reaktivität weiter.

Aus diesem Grund muss vor einer Genehmigung moderner Reaktoren bewiesen sein, dass ihr Dampfblasenkoeffizient immer negativ bleibt.

Inzwischen wurden an den Reaktoren des RBMK-Typs weitere Verbesserungen vorgenommen (höhere Uran-Anreicherung, mehr Kontrollstäbe), die den Dampfblasenkoeffizienten in Bereiche bringen, in denen er auch bei niedrigen Leistungen beherrschbar bleibt. Dadurch wurden jedoch einige der ursprünglichen Designziele des Typs ausgehebelt.

Eine letzte Schwäche in der Konstruktion des Kernkraftwerks in Tschornobyl war, dass es nicht wie die meisten modernen Reaktoren in einen massiven Sicherheitsbehälter (Containment) eingebettet war, auch wenn unklar ist, ob ein solches Containment der Wucht der Explosionen bei diesem Unglück standgehalten hätte. So konnten große Mengen an radioaktiven Stoffen in die Atmosphäre entweichen. Das Graphitfeuer, das sich nach dem Absprengen des Daches entzündete und fast 14 Tage brannte, beförderte weitere Mengen strahlenden Materials in die Luft.

Folgen

Vorbemerkung

Die Folgen des Unglücks werden nach wie vor sehr kontrovers diskutiert. Durch eine umfassende Studie des Tschernobyl-Forums (8 Unterorganisationen der UN und die Regierungen von Russland, der Ukraine und von Weißrussland) aus dem Jahre 2005 (siehe Weblinks), an der mehrere 100 Wissenschaftler, Wirtschaftsfachleute und Gesundheitsexperten beteiligt waren, scheint sich jedoch eine gewisse Konsolidierung der Bewertung anzubahnen. Die nachfolgenden Angaben stammen im Wesentlichen aus dieser Studie. Immer wieder berichtete wesentlich höhere Zahlen von Todesopfern werden in der Studie damit erklärt, dass diese Zahlen alle Todesfälle aus allen Ursachen beinhalten, nicht nur die strahlenbedingten.

Von Umweltschutzorganisationen, wie Greenpeace wird die Studie allerdings kritisiert, da die IAEO nicht unabhängig sei.

Überblick

Von den in den ersten Tagen zur Unfallbekämpfung eingesetzten Personen sind 28 noch 1986 und bis einschließlich 2004 weitere 19 verstorben. Bei ca. 4 000 Kindern ist – vermutlich strahlenbedingt – Schilddrüsenkrebs aufgetreten. Trotz einer Heilungsquote von ca. 99 % sind bis heute 9 Kinder daran gestorben. Die Gesamtzahl der Toten beträgt somit bisher 56. Weitere Schilddrüsenkrebserkrankungen werden erwartet. Andere Krebsarten einschließlich Leukämie sind bisher nicht vermehrt beobachtet worden. Insgesamt könnten in den nächsten Jahrzehnten aber noch bis zu 3940 Krebstodesfälle als Spätfolgen der Strahlenexposition auftreten (in allen bestrahlten Bevölkerungsgruppen zusammen). Erbschäden wurden bisher nicht gehäuft beobachtet und sind auch zukünftig nicht zu erwarten. Die durch Stress, Unsicherheit und Angst verursachten Gesundheitsschäden sind um ein Vielfaches höher als die strahlenbedingten Gesundheitsschäden.

Kontaminierte Gebiete

Über 200 000 Quadratkilometer sind durch den Unfall kontaminiert worden (wobei die Sowjetbehörden hierfür einen Grenzwert von 37 kBq Cs-137 pro km² zugrunde gelegt haben). Mehr als 70 % davon liegen in Russland, der Ukraine und Weißrussland. In diesen Gebieten lebten im Unfallszeitpunkt etwa 5 Millionen Menschen, davon ca. 400 000 in Gebieten mit einer Kontamination von mehr als 555 kBq Cs-137 pro km2 (was von den Sowjetbehörden als Grenzwert für „strikte Kontrollen“ angenommen wurde). Solche Gebiete gab es nur in den 3 genannten Ländern. Dieser Grenzwert wird heute fast nur noch im Bereich 30 km um den Standort erreicht.

Strahlenexponierte Personengruppen

Unmittelbar nach dem Unglück und bis Ende 1987 wurden etwa 200 000 Aufräumarbeiter („Liquidatoren“) eingesetzt. Davon erhielten ca. 1 000 innerhalb des ersten Tages nach dem Unglück sehr hohe Strahlendosen im Bereich von 2 bis 20 Gy (externe Gamma-Bestrahlung). Die restlichen Liquidatoren erhielten demgegenüber wesentlich geringere Strahlendosen bis zu maximal etwa 500 mSv bei einem Mittelwert von ca. 100 mSv. Die Zahl der Liquidatoren erhöhte sich in den nächsten Jahren auf insgesamt etwa 600 000, doch erhielten die später eingesetzten Liquidatoren deutlich geringere Dosen.

Im Frühjahr und Sommer 1986 wurden etwa 116 000 Personen aus der 30-km-Zone rund um den Reaktor evakuiert. Später wurden weitere ca. 240 000 Personen umgesiedelt. Für die ukrainischen Evakuierten wurde mittlerweile in mühevoller Kleinarbeit ein mittlerer Dosiswert von 17 mSv (Schwankungsbereich 0,1 bis 380 mSv) errechnet, für die weißrussischen Evakuierten ein Mittelwert von 31 mSv (mit einem maximalen Durchschnittswert in 2 Ortschaften von 300 mSv).

In den ersten Tagen nach dem Unfall führte die Aufnahme von radioaktivem Jod mit der Nahrung zu stark schwankenden Schilddrüsendosen in der allgemeinen Bevölkerung von im Mittel etwa 0,03 bis 0,3 Gy mit Spitzenwerten bis zu etwa 50 Gy. Eine Ausnahme davon bildeten die Einwohner von Pripyat, die durch die rechtzeitige Ausgabe von Tabletten mit stabilem Jod wesentlich geringere Schilddrüsendosen erhielten.

Die nicht evakuierte Bevölkerung erhielt während der fast 20 Jahre seit dem Unfall sowohl durch externe Bestrahlung als auch durch Aufnahme mit der Nahrung als interne Strahlenexposition effektive Gesamtdosen von im Mittel etwa 10 bis 20 mSv bei Spitzenwerten von einigen 100 mSv. Das ist weniger, als andere Bevölkerungsgruppen in Gegenden mit erhöhter natürlicher Strahlenexposition erhalten (bis zu über 25 mSv pro Jahr!).

Heute erhalten die 5 Millionen Betroffenen in kontaminierten Gebieten generell Tschernobyl-bedingte Dosen von unter 1 mSv/Jahr, doch rund 100 000 erhalten immer noch mehr als 1 mSv/Jahr (zum Vergleich: Der Durchschnittswert der natürlichen Strahlenexposition in Deutschland beträgt ca. 2,4 mSv/Jahr).

Akute Strahlenkrankheit

Akute Strahlenkrankheit wurde zunächst bei 237 Personen vermutet und bei 134 Personen bestätigt. Von diesen sind bis heute 47 verstorben, einige möglicherweise auch aus anderer Ursache.

Krebs

Bisher ist bei etwa 4000 Personen, die beim Unglück als Kinder oder Jugendliche bestrahlt wurden, Schilddrüsenkrebs beobachtet worden. Es wird vermutet, dass diese Häufung auf die Strahlung zurückzuführen ist. Schilddrüsenkrebs ist zu etwa 99 % heilbar. Neun der Erkrankten sind bisher am Krebs gestorben. Die Schilddrüsenkrebserkrankungen halten weiter an, auch wenn der Höhepunkt überschritten zu sein scheint. Es wird noch mit einer Verdoppelung der Erkrankungsfälle gerechnet.

Andere Krebsarten einschließlich Leukämie wurden bisher nicht mit erhöhter Häufigkeit beobachtet. Allerdings könnte sich bei stark belasteten Liquidatoren eine kleine Erhöhung andeuten, hier sind weitere Beobachtungen notwendig. Auf Grundlage der linearen Dosis/Wirkungs-Beziehung errechnet man, dass insgesamt etwa 4000 strahlenbedingte Krebstodesfälle als Spätfolgen auftreten könnten. Es wird sehr schwer sein, diese in der Schwankungsbreite der anderweitig verursachten Krebserkrankungen zu identifizieren.

Erbschäden

Bisher wurde weder eine reduzierte Fruchtbarkeit bei Männern oder Frauen, noch eine erhöhte Anzahl von Fehlgeburten, Missgeburten oder anderen genetischen Defekten in der Nachkommenschaft beobachtet. Aufgrund der generell niedrigen Dosen und aller anderen Erfahrungen auf diesem Gebiet sind solche Befunde auch zukünftig nicht zu erwarten.

Andere Gesundheitsfolgen

Bei Dosen oberhalb etwa 250 mGy scheint eine leichte Zunahme der Bildung von grauem Star aufzutreten. Auch bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen scheint sich eine leichte Zunahme anzudeuten, doch könnte diese auch auf andere Einflussfaktoren wie Stress, verstärktes Rauchen und andere ungesunde Lebensweisen zurückzuführen sein.

In Russland, der Ukraine und Weißrussland hat sich die Gesundheitslage für breite Bevölkerungskreise deutlich verschlechtert und die allgemeine Lebenserwartung ist massiv gesunken. Als Ursache hierfür wird allgemein die wirtschaftliche Verschlechterung nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion angesehen. Ein Zusammenhang mit der Strahlenexposition ist nicht zu erkennen.

Allerdings sind manche gesundheitlich negativen Folgen indirekt auch dem Unfall zuzuordnen, wenn auch nicht der Strahlenbelastung, sondern dem Stress und der Angst. Angst kann in einigen Fällen zu Krankheitserscheinungen führen. Ursache der weit verbreiteten Angst war und ist vielfach fehlende oder falsche Information, sei es anfänglich, um den Unfall zu vertuschen oder später, um ihn möglichst drastisch darzustellen. Letzteres teilweise, um möglichst viel finanzielle Unterstützung (auch aus westlichen Ländern) zu erhalten, teilweise aber auch, um die Kernenergie als möglichst gefährlich und unakzeptabel darzustellen. Die verängstigten Betroffenen wissen nicht mehr, was und wem sie glauben sollen. Die Folge davon ist eine deutliche Zunahme von Alkoholismus und von Suiziden und viele flüchten sich auch in einen Fatalismus und ein Sich-Gehen-Lassen in Gesundheitsfragen. Diese indirekten Gesundheitsfolgen überwiegen die Strahlenfolgen um ein Vielfaches.

Folgen außerhalb der ehemaligen Sowjetunion

In den Ländern außerhalb der damaligen Sowjetunion waren die Reaktionen auf das Reaktorunglück sehr unterschiedlich. Während z. B. Frankreich weitgehend gelassen reagierte, beherrschten in Süddeutschland und Österreich monatelang hitzige Diskussionen über „verstrahlte Lebensmittel“ und andere mögliche Verstrahlungen die Öffentlichkeit. Dabei war die grundsätzliche Einstellung zur Kernenergie vielfach wichtiger als Sachargumente. Auch heute noch kann kaum nüchtern darüber diskutiert werden, was damals objektive Sachinformation, gezielte Verharmlosung oder absichtlich geschürte Verängstigung war. Wieweit z. B. die damaligen Empfehlungen zum Unterpflügen von Feldfrüchten oder Sperren von Kinderspielplätzen angemessen und notwendig waren, wird wohl noch eine Zeit lang umstritten bleiben. Weitgehend anerkannt ist heute allerdings, dass die damaligen Strahlenbelastungen in Deutschland und Österreich meist niedriger und nur in Ausnahmefällen etwa vergleichbar waren mit den seinerzeitigen Strahlenbelastungen durch die Atombombentests vor dem Teststopabkommen. Heute ist die Strahlenexposition fast überall auf etwa die Werte vor Tschernobyl zurückgegangen. Und auf Tschernobyl zurückzuführende Einschränkungen im Verzehr von lokal produzierten Lebensmitteln gibt es heute außerhalb der ehemaligen Sowjetunion nur noch in besonderen Einzelfällen (und auch dort nur noch in besonders stark belasteten Gebieten).

Ein besonders krasses Beispiel der überhitzten Diskussion in Deutschland war die so genannte „Strahlenmolke“. Einige Molkereien in besonders belasteten Gebieten waren angewiesen worden, die Molke von der Milch abzutrennen und nicht zu verkaufen, sondern einzulagern, da sich in ihr das radioaktive Cäsium besonders angereichert hatte. Der Vorschlag, diese Molke als Dünger auf Felder aufzubringen (Molke ist ein gutes Düngemittel), hatte keinerlei Chancen auf Umsetzung, obwohl die Radioaktivität der Molke kleiner war als die von manchem marktgängigem Düngemittel, diese Verwendung der Molke also sogar zu einer Verringerung der Radioaktivität auf Feldern geführt hätte. Stattdessen wurde die Molke jahrelang in Zügen kreuz und quer durch Deutschland gefahren und dann schließlich um zweistellige Millionenbeträge in extra errichteten Spezialanlagen über Ionenaustauscher „entsorgt“.

Negative gesundheitliche Folgen außerhalb der ehemaligen Sowjetunion wurden bisher nicht beobachtet und aufgrund der generell niedrigen Dosen sind solche Beobachtungen auch zukünftig nicht zu erwarten.

Tschernobyl nach dem Unfall

Am 2. und 3. Mai 1986 wurden etwa 45.000 Einwohner aus den Gebieten in einem Umkreis von 10 km um den Reaktor evakuiert. Weitere 116.000 Einwohner wurden am 4. Mai 1986 aus dem Gebiet 30 km um den Reaktor evakuiert. In den folgenden Jahren wurden weitere 210.000 Einwohner umgesiedelt, so dass die Sperrzone mittlerweile 4.300 km² groß ist. Etwa 1.000 Bewohner sind angesichts der wirtschaftlichen Lage trotz der stark erhöhten Strahlungswerte in die gesperrte Zone zurückgekehrt.

Alle drei noch funktionsfähigen Blöcke wurden nach dem Ende der Aufräumarbeiten wieder hochgefahren. Der zweite Reaktorblock wurde 1991 nach einem Feuer in der Turbinenhalle abgeschaltet. Block 1 folgte am Ende des Jahres 1997, Block 3 im Dezember 2000.

Der havarierte Reaktorblock ist heute durch einen provisorischen, durchlässigen "Sarkophag" gedeckelt. Im Inneren ist weitgehend die Situation vom Zeitpunkt der Katastrophe in heißer Form konserviert. Von rund 190 Tonnen Reaktorkernmasse befinden sich Schätzungen zufolge noch rund 150-180 Tonnen im Gebäude, teils in Form geschmolzener und erstarrter Brennelemente, teils in Form von Staub und Asche, in Form ausgewaschener Flüssigkeiten im Reaktorsumpf und Fundament oder in anderer Form.

Der internationale "Shelter Implementation Plan" hat als Ziel, einen neuen haltbaren Sarkophag zu errichten. Als erste Maßnahme wurden das Dach des ursprünglichen Sarkophags verstärkt und die Belüftungsanlage verbessert. Der neue Sarkophag soll über dem alten errichtet werden. Dadurch soll es möglich sein, den alten Sarkophag zu entfernen, ohne dass weitere Radioaktivität freigesetzt wird.

Siehe auch

Literatur

  • Grigori Medwedew: Verbrannte Seelen - Die Katastrophe von Tschernobyl, Carl Hanser Verlag München Wien, 1991, ISBN 3-446-16116-3
  • A. Bayer, A. Kaul, C. Reiners: Zehn Jahre nach Tschernobyl, eine Bilanz, Gustav Fischer Verlag, München, 1996, ISBN 343725198-8
  • Karl-Heinz Karisch / Joachim Wille (Hg): Der Tschernobyl-Schock. Zehn Jahre nach dem Super-GAU. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1996, ISBN 3-596-13301-7
  • V. M. Chernousenko: Chernobyl, Insight from the Inside. Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York, 1991, ISBN 354053698-1
  • H. Dederichs, E. Konoplya, P. Hill, R. Hille: Systemtische Differenzierung kontaminierter und nicht kontaminierter Nutzflächen in der Region Korma., Schriftenreihe Reaktorsicherheit und Strahlenschutz; BMU-2002-613, 2002. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
  • Oda Becker, Helmut Hirsch: Tschernobyl: Sanierung des Sarkophags - Wettlauf mit der Zeit, Greenpeace, Hamburg / Hannover, 2004. PDF-Dokument.

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