Nagelbombenanschlag in Köln


Bei dem Nagelbomben-Attentat in Köln detonierte am 9. Juni 2004 in der Köln-Mülheimer Keupstraße, die als Zentrum des türkischen Geschäftslebens bekannt ist, eine ferngezündete Nagelbombe. Dabei wurden 22 Menschen verletzt, vier davon schwer. Ein Friseursalon wurde vollständig verwüstet, mehrere weitere Ladenlokale und zahlreiche parkende Autos durch die Explosion und herumfliegenden Nägel erheblich beschädigt. Im November 2011 konnte der Anschlag der rechtsterroristischen Gruppe Nationalsozialistischer Untergrund zugeordnet werden.
Tathergang
Die Bombe war auf dem Gepäckträger eines Fahrrads montiert und dieses vor dem Friseurladen abgestellt worden. Es handelte sich dabei um eine mit Schwarzpulver und etwa 10 Zentimeter langen Tischlernägeln gefüllte Drei-Kilo-Gasflasche, die durch eine Glühlampe ohne Glashülle gezündet und durch eine handelsübliche Funkfernsteuerung ausgelöst wurde. Die Täter müssen sich entsprechend während der Zündung im Umfeld des Tatorts aufgehalten haben. Durch die Wucht der Explosion wirkten die Nägel wie Projektile, in dem unmittelbar betroffenen Friseurladen brach ein Feuer aus.[1]
Ermittlungen und unabhängige Beobachtungen
Erste Erfolge in der Ermittlung erbrachten die Aufzeichnungen einer Überwachungskamera. Diese war am Gelände des ums Eck liegenden Fernsehsenders Viva angebracht und hatte einen Mann gefilmt, der kurz vor dem Anschlag mit einem Fahrrad an der Zentrale vorbeilief. Zeugenaussagen konnten bestätigen, dass es sich um den Mann handelte, der das Fahrrad in der Keupstraße abgestellt hatte. Das Bild zeigte einen etwa 30-jährigen Mann, vermutlich mitteleuropäischer Herkunft, mit einer tief ins Gesicht gezogenen Baseballkappe. Er konnte nicht identifiziert werden. Allerdings wurden im Juni 2005, nach dem Mord an İsmail Yaşar, dem fünften Opfer der NSU-Mordserie, in Nürnberg Phantombilder von Verdächtigen angefertigt und die Ähnlichkeit eines Mannes mit dem hiesigen Bild festgestellt. Als weitere Gemeinsamkeit wurde die Benutzung von Fahrrädern gewertet.[2]
Clemens Binninger, CDU-Obmann im NSU-Untersuchungsausschuss, bezeichnete es als „fast schon skandalös“, dass zwei Polizisten, die in unmittelbarer Nähe des Anschlags auf Streife waren, erst neun Jahre später, im Jahr 2013, vernommen wurden.[3]
Im Juli 2013 teilte ein Prozessbeteiligter, nicht die Polizei, folgendes mit: Mehrere Videoaufnahmen zeigen Mundlos und Böhnhardt beim Platzieren der Nagelbombe in der Kölner Keupstraße 2004. Aber das Videomaterial wurde nur lückenhaft beachtet, es muss in Gänze betrachtet werden, so Rechtsanwalt Yavuz Selim Narin, der die Familie des getöteten Theodoros Boulgarides im Prozess gegen Zschäpe u.a. vertritt. Beim stundenlangen Sichten hat Narin beim Bundeskriminalamt die vollständigen Videoaufzeichnungen entdeckt. Dort in den Akten liegt deutlich mehr Bildmaterial von Überwachungskameras des Musiksenders, als die eine bisher mitgeteilte Sequenz eines radschiebenden einzelnen Mannes. Auf 6 Videokassetten sollen nach Narin Täter-Aktivitäten am 9. Juni zu sehen sein, zusätzlich auf 7 Festplatten. Narin kritisiert, dass das Bildmaterial bis 2013 nicht vollständig ausgewertet worden sei. Insgesamt wurden Mundlos-Böhnhardt an diesem Tag fünfmal von zwei verschiedenen Kameras des Senders aufgenommen. Ein Video zeigt das Vorgehen der Täter sogar im Detail: Ab 14.18 Uhr sind die beiden in den Aufnahmen zu sehen. Um 15.10 Uhr passiert Mundlos, ein Damenrad schiebend, den Eingang von Viva Richtung Keupstraße. Auf dem Gepäckträger befindet sich ein Hartschalenkoffer, in dem sich die Nagelbombe befindet. Das ist das bisher bekannte Bild. Vor dem Friseursalon Özcan stellte Mundlos dieses Fahrrad ab. Zuvor ist Böhnhardt zu sehen, wie er 2 Mountainbikes durch die Straße schiebt; es sind die Fahrräder, mit denen beide Männer sich nach der Bombenzündung entfernen. Gegen 15.50 Uhr sind beide Täter samt Rädern wieder auf der Straße zu sehen. 6 Minuten später zünden sie die mit mindestens 5,5 Kilogramm Schwarzpulver und über 700 Zimmermannsnägeln bestückte Bombe per Fernsteuerung. Um 15.57 Uhr ist einer der beiden erneut zu sehen. Er passiert den Eingang des Musiksenders Viva und fährt dann schnell weg.[4]
Hintergründe
Über das Motiv gab es zahlreiche Vermutungen – so wurde über einen Racheakt, ein Streit im Drogen- oder Rotlichtmilieu, Schutzgelderpressung oder ein Anschlag der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) spekuliert – die jedoch bald wieder verworfen wurden.[5] Schon am nächsten Tag traten Bundes-Innenminister Otto Schily und NRW-Innenminister Fritz Behrens vor die Presse und bestritten, dass es einen terroristischen Hintergrund gebe.[6] Wenige Tage nach dem Anschlag gab es jedoch eine Expertise der Abteilung Rechtsterrorismus im Bundesamt für Verfassungsschutz, welches Parallelen zwischen den Combat 18 zugerechneten Bombenanschlägen in London 1999 und dem Anschlag in der Keupstraße gezogen hat. Dieser Ermittlungspfad wurde aber nicht weiter verfolgt.[7] Im Weiteren versuchten die Ermittlungsbehörden in ihrer Öffentlichkeitsarbeit glaubhaft zu machen, dass keine fremdenfeindliche Motivation bestand und dass es sich nicht um einen terroristischen Akt aus dem Umfeld des islamistischen Terrorismus gehandelt habe.[8] Anwohner und Betroffene vermuteten hinter der Tat rechtsextremistische Motive, was jedoch als Mutmaßung und Spekulation abgetan wurde.[9]
Im November 2011 konnte der Anschlag der rechtsterroristischen Vereinigung „Nationalsozialistischer Untergrund“ zugeordnet werden. Eine DVD, in der sich die Gruppe entsprechend bekannte, wurde nach einem Brand in den Trümmern eines Wohnhauses in Zwickau sichergestellt. Die Datenträger waren zum Versand an Medien bestimmt.[10]
Gedenkfestival Birlikte – Zusammenstehen 2014
Vom 7. bis 9. Juni 2014 fand in Köln das Gedenkfestival Birlikte – Zusammenstehen statt. Auf dem Festival traten, unter anderem, Wilma Elles, Hardy Krüger, Udo Lindenberg, die Fantastischen Vier, BAP, Aynur, Bläck Fööss, Brings, Carolin Kebekus, Eko Fresh, Peter Maffay, Sertab Erener & Demir Demirkan. Sandra Maischberger übernahm die Moderation.[11]
Bundespräsident Joachim Gauck und Bundesjustizminister Heiko Maas besuchten am 9. Juni das Festival. Gauck besuchte auch den Attentatsort den Frisörsalon Kuaför Özcan und sprach später mit zwölf Attentatsopfern. Auf der Abschlusskundgebung sprach Gauck vor 70.000 Besuchern. Er schilderte dabei auch seine Begegnungen mit NSU-Opfern und ihren Angehörigen. Bei einer Podiumsdiskussion auf dem Festival sagte Maas: „Ich schäme mich dafür, dass der deutsche Staat es nicht geschafft hat über so viele Jahre, dafür zu sorgen, dass unbescholtene Bürgerinnen und Bürger besser geschützt wurden.“[12]
Sonstiges
Im November 2013 fand in Berlin eine Kundgebung unter dem Motto "NSU-Terror: Staat und Nazis Hand in Hand" statt bei der die Polizei die Lautsprecheranlage beschlagnahmte und Verfahren wegen "Verunglimpfung des Staates" einleiteten. Die Verfahren wurden jedoch von der Staatsanwaltschaft eingestellt und ein Gericht stellte die Rechtswidrigkeit der Beschlagnahmung fest. [13]
Am 3. Juni 2014 ließ dieselbe Abteilung durch dieselbe Polizeieinheit den Satz "NSU: Staat & Nazis Hand in Hand" aus einem mehreren Meter hohen Wandbild zum NSU-Bombenanschlag an einem Haus in der Manteuffelstraße entfernen. Polizeibeamte stellten Anzeigen wegen "Verunglimpfung des Staates".[14] Bereits eine Woche später bewertet die Staatsanwaltschaft die strittige Aussage als eine im Kontext der Erkenntnisse zum NSU-Komplex zulässige Meinungskundgabe, die vom Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt sei. [15]
Weblinks
- Die Nagelbombe und der fatale Irrtum der Ermittler Westdeutscher Rundfunk, November 2012
- Hintergründe zum Anschlag, Website des Aktionsbündnisses IG Keupstraße BIRLIKTE, 2014
Einzelnachweise
- ↑ Kölner Stadt-Anzeiger Zünder aus dem Modellbaukasten, Artikel vom 15. Juni 2006
- ↑ Hamburger Abendblatt: Sieben Tote, eine Waffe – die Spur des Mörders, vom 23. Juni 2005
- ↑ Hamburger Abendblatt: Weitere Pannen nach NSU-Anschlag , Artikel vom 25. April 2013, abgerufen am 26. April 2013.
- ↑ Bilder, die keiner sehen wollte nach Die Tageszeitung, 24. Juli 2013
- ↑ Kölner Stadt-Anzeiger: War es ein Racheakt, ein Streit im Drogenmilieu oder die Tat eines wirren Einzeltäters?, Artikel vom 12. Juni 2004
- ↑ Tagesspiegel vom 19. April 2012 Schily gibt schweren Irrtum zu
- ↑ Heike Kleffner, "Generation Terror" - Der NSU und die rassistische Gewalt der 1990er Jahre in NRW In: Dostluk Sinemasi, Von Mauerfall bis Nagelbombe, Der NSU- Anschlag auf die Kölner Keupstraße im Kontext der Pogrome und Anschläge der neunziger Jahre, Amadeu Antonio Stiftung, Berlin 2014, S. 33.
- ↑ Kölner Stadt-Anzeiger: Stochern im Nebel, Artikel vom 30. Juli 2004
- ↑ FAZ: Keine Anzeichen für einen terroristischen Hintergrund, Artikel vom 10. Juni 2004
- ↑ Der Spiegel, Artikel vom 12. November 2011
- ↑ Birlikte! Köln steht zusammen, Bild, Artikel vom 11. Juni 2014
- ↑ Gauck trifft Opfer des NSU-Anschlags - Miteinander der Verschiedenen, FAZ, Artikel vom 10. Juni 2014
- ↑ Polizei zensiert NSU Plakat wegen Verunglimpfung des Staates
- ↑ Ärger um Wandbild zum NSU-Bombenanschlag
- ↑ NSU-Schlappe für Polizei: Staat & Nazis Hand in Hand verunglimpft Staat nicht
Koordinaten: 50° 57′ 57″ N, 7° 0′ 30,9″ O