Jesiden
Der Begriff Jesidentum (Jesidismus) bezeichnet eine ausschließlich unter Kurden verbreitete Religion. Muttersprache der Jesiden (kurd. Êzidîtî) ist das nordkurdische Kurmanji. Den Begriff Jesid leiten einige Forscher von den persischen Vokabeln "yezdan" bzw. "ezdan" ab, die Schöpfer/Gott bedeuten. Andere verweisen auf Omajjadenkalif Yazid I. (Yazîd Ibn-Mu´âwiya 680-683), der für viele Muslime von negativer Bedeutung ist, da er mit dem Tod der Ali-Söhne Hussain und Hassan in Verbindung gebracht wurde. Sein Name wurde für Muslime zu einem Synonym für "Abtrünnige" der Lehre und für Minderheiten anderen Glaubens. Die Geschichte der Jesiden ist von daher erfüllt von Unterstellungen und Verfolgungen.
Lehre und Kosmologie
Die yezidische Religion ist eine monotheistische Religion, deren Wurzeln nach eigener Sicht weit vor dem Christentum liegen. In der Forschung werden verschiedene Elemente je nach Publikation erkannt - altbabylonischer Planetenkult, Sonnenverehrung eventuell aus der Mithras-Religion, Einflüsse des Zoroastrismus, jüdische (Jüdische Speisegesetze), orientchristliche, besonders nestorianische (Eucharistie), islamische (Beschneidung, Fasten, Opfer), schiitisch-sufische (Taqiya, Inanspruchnahme vieler sufischer Scheiche als ihrer Heiligen), mandäische, manichäische, gnostische sowie regionale Einflüsse (Ahl-i Haqq und Sabbak). Viele Yeziden favorisieren heute selbst eine mindestens vorchristliche Herkunft ihrer Religion, etwa als Entwicklung aus dem Mithraismus, den Medern oder dem Zoroastrismus.
Noch im Mittelalter bekannten sich nach yezidischer Auffassung die meisten Kurden zum Yezidentum.
Nach yezidischen Vorstellungen ist Gott allmächtig und erschuf die Welt. Er wäre schwach, wenn er noch eine zweite Kraft neben sich existieren lassen würde. Folglich fehlt in der yezidischen Theologie die Gestalt des Bösen. Die Yeziden sprechen den Namen des Bösen nicht aus, weil allein sein Aussprechen die Anzweiflung der Allmächtigkeit Gottes bedeuten würde. Damit einher geht auch die Vorstellung, dass der Mensch in erster Linie selbst verantwortlich für seine Taten ist. Aus yezidischer Sicht hat Gott dem Menschen die Möglichkeit gegeben, zu sehen, zu hören und zu denken. Er hat ihm den Verstand gegeben und damit die Möglichkeit, für sich den richtigen Weg zu finden.
Die Yeziden glauben, dass das Leben nicht mit dem Tod endet, sondern dass es nach einer Seelenwanderung einen neuen Zustand erreicht. Der neue Zustand ist abhängig von den Taten im vorherigen Leben. In diesem Zusammenhang spielen der „Jenseitsbruder“ (biraye achrete) für einen Mann bzw. die „Jenseitsschwester“ (chucha achrete) für eine Frau eine wichtige Rolle für einen Yeziden / eine Yezidin. Unter den Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft sucht man sich zu Lebzeiten einen Bruder bzw. eine Schwester für das Jenseits aus. Diese Wahlgeschwister übernehmen im Jenseits gegenseitig die moralische Mitverantwortung für ihre Taten, und in der Totenzeremonie „begleiten“ sie den Verstorbenen / die Verstorbene auf dem Weg zur neuen Bestimmung. Nach den yezidischen Vorstellungen bestand die Verbindung der Jenseitsgeschwister bereits im vorherigen Leben und wird im künftigen Leben weiterbestehen.
Der gefallene Engel
Eine zentrale Bedeutung in den yezidischen Glaubensvorstellungen hat Taus-i Melek, der „Engel Pfau“, dessen Symbol – wie es der Name sagt – ein Pfau ist. Nach der idischen Mythologie hat er in besonderer Weise der Allmächtigkeit Gottes gehuldigt und wurde deshalb von Gott zum Oberhaupt der sieben Engel erkoren. Er nimmt eine Art Stellvertreterfunktion Gottes ein, wurde allerdings vorübergehend in die Hölle verbannt und dann wieder in die Gnade Gottes aufgenommen. So symbolisiert Taus-i Melek in der yezidischen Theologie nicht das Böse und ist auch kein in Ungnade gefallener Engel.
Nach der Schöpfungsgeschichte der Yeziden ist Taus-i Melek, den Gott mit sechs weiteren Engeln aus seinem Licht schuf, an der gesamten Schöpfung, an dem göttlichen Plan, aktiv beteiligt. Folglich verkörpert Taus-i Melek nicht den Widerpart in einem dualen Weltbild, sondern ist der Beweis für die Einzigartigkeit Gottes.
Scheich Adi
Eine zweite wichtige Gestalt für die Yeziden ist der als Reformer geltende Scheich Adi aus dem 11./12. Jahrhundert. In der Religionswissenschaft wird die These vertreten, er sei identisch mit dem sufischen Mystiker Shaikh Adî Ibn-Musafîr (1075-1162), dessen Anhänger unter den Hakkari-Kurden den ’Adawîya-Orden ins Leben riefen, der sich schließlich inhaltlich so weit von der islamischen Orthodoxie entfernte, daß seine Verfolgung ausgerufen wurde.
Scheich Adi ist für die Yeziden eine Inkarnation des Taus-i Melek, der kam, um das Yezidentum in einer schwierigen Zeit neu zu beleben. An seinem Grab in Lalish findet jedes Jahr vom 6.-13. Oktober das „Fest der Versammlung“ (Jashne Jimaiye) statt. Yeziden aller Gemeinden aus den Siedlungs- und Lebensgebieten kommen zu diesem Fest zusammen, um ihre Gemeinschaft und ihre Verbundenheit zu bekräftigen. Leider erschweren oder verhindern pjesolitische Umstände häufig die Pilgerfahrt nach Lalish, die eine Pflicht für jeden Yeziden ist. Aus Lalish bringen die Yeziden geweihte Erde mit, die mit dem heiligen Wasser der Quelle Zemzem zu festen Kügelchen geformt wurde. Sie gelten als „heilige Steine“ (Sing. berat) und spielen bei vielen religiösen Zeremonien eine wichtige Rolle.
Nach yezidischer Auffassung kann ein Yezide ein guter Mensch sein, aber um ein guter Mensch zu sein, muss man nicht Yezide sein. Das heißt: das Yezidentum ist von vornherein tolerant gegenüber anderen Religionen. In einem Gebet der Yeziden heißt es: „Gott, schütze erst die 72 Völker und dann uns.“ Die Yeziden haben keine Berührungsängste mit anderen Religionsgemeinschaften. So ist z. B. das Verhältnis zwischen Yeziden und Christen sehr gut, eine Konsequenz aus der gemeinsamen Leidensgeschichte der Yeziden und Christen in den kurdischen Gebieten.
Gesellschaft
Als Jeside wird man geboren; es gibt keine Möglichkeit, zum Jesidentum zu konvertieren. Dies schließt aus, dass Jesiden missionarisch tätig werden und Angehörige anderer Religionen bekehren. Es gibt keinen religiösen Fanatismus, der von der Überlegenheit der Religion über andere Glaubensvorstellungen ausgeht. Der jesidischen Religion fehlt somit die aggressive Komponente des Bekehrens.
In der Abwehr gegen den Islam entstand das zwingende Gebot bei den Jesiden, keine Andersgläubigen zu heiraten. Bei dieser endogamen Heiratsregel handelt es sich um einen historisch entstandenen Schutzmechanismus, der in der Verfolgungssituation den Zusammenhalt und die Solidarität der Jesiden stärkte und seither fest in der jesidischen Gemeinschaft verankert ist.
Spätestens seit dem 12. Jahrhundert gibt es innerhalb der jesidischen Gemeinschaft mehrere Kasten, die auf den Reformer des Jesidentums, Scheich Adi, zurückgehen. Die jesidische Gesellschaft gliedert sich in die Kaste der Laien, der Muriden und in zwei Kasten von Geistlichen, in die der Scheichs und die der Pirs. Die Zugehörigkeit zu einer Kaste ist erblich; Heiraten außerhalb der eigenen Kaste sind tabu. Die Geistlichen haben die Aufgabe, die Laien religiös zu unterweisen und zu betreuen. Darüber hinaus nehmen sie wichtige soziale Funktionen wahr. Im Gegensatz zum Kastenwesen im Hinduismus trennt das Kastensystem bei den Jesiden nicht die Gesellschaft, sondern es schuf ein komplexes System, das durch die Abhängigkeit der einzelnen Glieder voneinander einen engen Zusammenhalt aller Schichten garantierte. Nur durch die Kontakte zwischen den einzelnen Kasten ist es den Jesiden möglich, ihre Religion zu bewahren.
In ihren Heimatgebieten im Vorderen Orient waren und sind die Jesiden einer doppelten Verfolgung ausgesetzt: Einmal ethnisch als Kurden und zum anderen religiös, weil sie in den Augen fundamentalistischer Muslime als „Ungläubige“, „vom wahren Glauben Abgefallene“ gelten, die es entweder zu bekehren oder umzubringen gilt. Es wird von muslimischen Übergriffen auf die jesidische Bevölkerung berichtet . In ihren Heimatgebieten können Jesiden nur öffentlich in Erscheinung treten, wenn sie ihre religiöse Identität verleugnen.
Überlieferungen
Das Yezidentum kennt keine verbindliche religiöse Schrift, wie es vergleichbar die Bibel für die Christen ist. Die Vermittlung religiöser Traditionen und Glaubensvorstellungen beruhte – bisher – ausschließlich auf mündlicher Überlieferung. In der Literatur über die Yeziden werden zwei Bücher erwähnt, das „Buch der Offenbarung“ (Kiteb-i Jilwe) und die „Schwarze Schrift“ (Meshef Resch). Von beiden Büchern sind lediglich Auszüge 1921 bekannt geworden, wobei man davon ausgehen kann, dass diese nicht in allen Teilen authentisch die Glaubensvorstellungen aller Yeziden wiedergeben. Sie gelten in der Religionswissenschaft als nachträgliche Aufzeichnungen - relativ zu der Gegenauffassung, etwa das Buch der Offenbarung sei von Scheich Adi selbst verfasst -, haben aber doch den Status heiliger Schriften. Schließlich stellen sie eine wichtige "Neuerung" für die yezidische Religion dar, war doch das Fehlen solcher Schriften einer der Gründe für die Verfolgungen im Islam. In der yezidischen Diaspora in Armenien, Georgien, Aserbaidschan, Syrien, USA und Deutschland hingegen ermöglicht die Verschriftlichung und Kodifizierung der ehemals mündlichen Traditionen den Erhalt der religiösen Identität.
Der Glauben wird überwiegend durch Lieder (so genannte Qewls) und Bräuche weitergegeben.
== Verbreitung == der Jesiden innerhalb der kurdischen Verbreitungsgebiete sind - analog Kurdistans - in keinem eigenen Staat zusammengeschlossen, sondern verteilen sich auf den Irak, Syrien, die Türkei und den Iran – hier leben nur wenige Jesiden. Weiterhin siedeln Jesiden in den ehemaligen Sowjetstaaten Armenien und Georgien. Es gibt keine offizielle Zählung der Jesiden, ihre Gesamtzahl wird jedoch auf zwischen 300.000 und 800.000 Personen geschätzt. Die Jesiden stellen heute also eine religiöse Minderheit unter den mehrheitlich muslimischen Kurden dar.
Das Hauptverbreitungsgebiet der Jesiden ist der Nordirak. Hier leben ca. 550.000 jesidische Gläubige, und hier befindet sich nicht allzuweit von Mosul entfernt Lalish, das religiöse Zentrum der Jesiden. Nahe bei Lalish residiert in Baadhra das weltliche und geistige Oberhaupt der Jesiden, der Mir, auch nach dem Distrikt Shaikhan Mire Shaikhan genannt.
Jesiden in Deutschland
Mittlerweile leben Jesiden in nennenswerter Zahl auch in Deutschland. Die Repressionen trieben sie besonders in den 1980ern insbesondere aus der Türkei zur Flucht nach Deutschland.
Der mit den Gegebenheiten vor Ort vertraute Orientalist Wießner der Universität Göttingen erwirkte mit einem Gutachten beim Verwaltungsgericht Stade 1982 die Anerkennung von Jesiden als Flüchtlinge, die sich 1993 bis zum Oberverwaltungsgericht Lüneburg allgemein durchgesetzt hat. Auf politischer Ebene bereitete 1989 Herbert Schnoor in seiner Amtszeit als Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen den Weg für ein Bleiberecht der Jesiden vor. Auch die Gesellschaft für bedrohte Völker, dessen Beiratsmitglied Prof. Wießner war, hat sich als Menschenrechtsorganisation für die Jesiden eingesetzt.
In Deutschland leben etwa 35.000 - 40.000 Jesiden, vorwiegend in den Bundesländern Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, wo sie häufig größere Gemeinden bilden, insbesondere in Hannover, Oldenburg, Celle, Halle (Westf.) und Kalkar.
Literatur
- Düchting, Johannes/Ates, Nuh - Stirbt der Engel Pfau? Geschichte, Religion und Zukunft der Yezidi-Kurden. Köln 1992 (medico international/Edition KOMKAR). ISBN 3927213063
- Franz, Erhard (Hrsg.): Yeziden – Eine alte Religionsgemeinschaft zwischen Tradition und Moderne. Beiträge der Tagung vom 10.-11. Oktober 2003 in Celle. Deutsches Orient-Institut, Hamburg 2003; (als PDF online unter [1])
- Kizilhan, Ilhan - Die Yeziden. medico Verlag, Frankfurt
- Spuler-Stegemann, Ursula: Der Engel Pfau – Zum Selbstverständnis der Yezidi; (als PDF online unter [2])
- Ackermann, Andreas: Yeziden in Deutschland – Von der Minderheit zur Diaspora, in: Paideuma – Mitteilungen zur Kulturkunde 49 (2003), S. 157 – 177; als PDF online unter [3])
Erwähnungen in der Populärliteratur
- Karl May - Durchs wilde Kurdistan
- James Krüss - Timm Thaler
- Barbara Nadel - Arabeske
- John F. Case - Der achte Tag