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Soziologie im Nationalsozialismus

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Die Soziologie im Nationalsozialismus wird laut Otthein Rammstedt in zwei Phasen eingeteilt, die der "praktischen Wissenschaft" (1933–1936) und die der "angewandten Wissenschaft" (1936–1945). In der Phase der "praktischen Wissenschaft" bemühten sich Soziologen darum, einen eigenständigen Beitrag zur deutschen Volkswerdung zu leisten. Es sollte eine "völkische Reichssoziologie" entstehen, die als Deutsche Soziologie bezeichnet wurde. Dies wurde von den Machthabern weder nachgefragt noch gefördert. In der Phase der "angewandten Wissenschaft" agierten Soziologen als Sozialtechnologen zur Unterstützung administrativer Entscheidungen, insbesondere auch im Feld der Bevölkerungswissenschaft. Nach den Zweiten Weltkrieg konnten sich fast alle Vertreter der nationalsozialistischen Soziologie wieder im Hochschulbetrieb etablieren.

Emigration und Anpassung

Die Soziologie wurde 1933 bis 1945 keineswegs aus den Hochschulen vollständig verdrängt, wie von der Fachgeschichtsschreibung in der Bundesrepublik Deutschland in den ersten Nachkriegsjahrzehnten unter starkem Einfluss von Leopold von Wiese behauptet wurde. Zwar mussten in den 1930er Jahren zwei Drittel der deutschen Soziologen emigrieren. Doch rückten angepasste Akademiker nach, es wurden in den späten Dreißiger Jahren sogar neue Professuren eingerichtet.

Typisch für die Zeit des Nationalsozialismus war, dass Soziologische Seminare in solche der Politischen Wissenschaft bzw. Politischen Theorie umgewidmet wurden, denn bereits der Begriff Soziologie war vielen nationalsozialistischen Akademikern suspekt.

Nationalsozialistische Soziologen

habilitierte sich 1936, war von 1940 bis 1945 Professor der Universität Königsberg, in der Bundesrepublik Professor für Soziologie an der Wirtschaftshochschule Mannheim.
war von 1933 bis 1945 Professur für Volkstheorie und Volkstumssoziologie an der Universität Jena, gründete in der Bundesrepublik die staatlich geförderte Nordostdeutsche Akademie.
Mitbegründer einer „industriellen Volkskunde“, die sich in den Dienst der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik stellte, in der Bundesrepublik Abteilungsleiter der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster in Dortmund und Honorarprofessor der Universität Münster.
während des Zweiten Weltkrieges Direktor der Frankreichabteilung des Deutschen Auslandswissenschaftlichen Instituts, in der Bundesrepublik Professor an der Universität Münster.
seit 1934 „Führer“ der gleichgeschalteten Deutschen Gesellschaft für Soziologie, in der Bundesrepublik Lehrtätigkeit als Emeritus an der Universität Münster.
1934 Professor an der Universität Leipzig ab 1938 an der Universität Köningsberg, 1942 Kriegsverwaltungsrat in der Personalprüfstelle des heerespsychologischen Amtes im besetzten Prag, in der Bundesrepublik Professor erst an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer und dann an der RWTH in Aachen.
lehrte nach 1933 Wehrwirtschaft und -politik an der Universität Köln, starb 1945.
seit 1937 Professor für Volksforschung und Soziologie an der Universität Königsberg, dann an der Universität Frankfurt, zugleich führender Mitarbeiter im Amt Wissenschaft des Reichswissenschaftsministeriums. Musste 1944 auf Betreiben des Amtes Rosenberg seine wissenschaftspolitischen Ämter aufgeben, weil seine Habilitationsschrift angeblich die Arbeit eines jüdischen Wissenschaftlers plagiierte. In der Bundesrepublik Professor zur Wiederverwendung.
als Assistent von Franz Wilhelm Jerusalem maßgeblich an der Gleichschaltung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie beteiligt, von 1933 bis 1935 Hauptabteilungsleiter im SD-Hauptamt, von 1939 bis 1945 Direktor des Instituts für Staatsforschung an der Universität Berlin, 1944 zum SS-Oberführer befördert, in der Bundesrepublik Öeiter der Akademie für Führungskräfte der Wirtschaft in Bad Harzburg.
führender Vertreter nationalsozialistischer Bevölkerungswissenschaft, in der Bundesrepublik Abteilungsleiter der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster in Dortmund und von der Universität Münster als emeritierter Professor zur Wiederverwendung übernommen.
seit 1934 Professor an der Universität Kiel, von 1941 bis 1943 an der Reichsuniversität Straßburg, in der Bundesrepublik Professor für Soziologie an der Universität Kiel und Berater des Bundesministerium für Arbeit und Soziales.
von 1934 bis 1939 Professor für Volkskunde und Familienforschung an der Hochschule für Lehrerbildung zu Cottbus, ab 1939 am Aufbau des geplanten Reichsinstituts für Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik in München beteiligt, in der Bundesrepublik Professor für Geschichtsdidaktik an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen.
von 1937 bis 1938 Leiter der ethnographischen Sammlung am Institut des Rassenanthropologen Egon von Eickstedt in Breslau, seit 1939 Privatdozent für Völkerkunde und Völkerpsychologie, zudem von 1937 bis 1943 Schriftleiter des Archivs für Anthropologie und Völkerforschung, in der Bundesrepublik erst Professor für Soziologie und Ethnologie an der Universität Mainz, dann der Universität Heidelberg.
ab 1939 Professor für Soziologie an der Technischen Hochschule in Dresden, von 1941 bis 1945 an der Universität in Prag Spezialist für Rassenlehre des Nationalsozialismus und Historiografie der böhmischen Länder, in der Bundesrepublik Aufbau des „Instituts für Begabtenforschung“ (seit 1949 „Institut für empirische Soziologie“) in Hannover, ab 1955 Professor für Soziologie und Sozialanthropologie an der Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Nürnberg.
war seit 1940 für die Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung tätig, dem dann das Soziographische Institut („Institut zur Erforschung des deutschen Volksaufbaus“) hervorging, dessen Direktor er wurde, in der Bundesrepublik übernahm das weiterhin von ihm geleitete Institut Aufgaben im Bereich der Sozialfürsorge und der Sozialpolitik. Professor für Soziologie am Pädagogischen Institut Jugenheim, ab 1961 für Soziologie der Erziehung an der Hochschule für Erziehung der Universität Frankfurt.
seit 1940 Professor für Volks- und Landeskunde Großbritanniens an der Auslandwissenschaftlichen Fakultät der Universität Berlin, in der Bundesrepublik Abteilungsleiter der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster in Dortmund und Professor der Universität Münster.
war von 1938 bis 1940 war er Assistent Arnold Gehlens in Königsberg, wo er sich habilitierte, 1941 Assistent von Hans Freyer in Budapest, wurde 1943 als außerordentlicher Professor der Soziologie und Staatsphilosophie an die Reichsuniversität Straßburg berufen, konnte das Amt jedoch nicht mehr antreten, in den ersten zwei Nachkriegsjahrzenhnten neben René König und Theodor W. Adorno einflussreichster Soziologe der Bundesrepublik, Professor in Hamburg, Bielefeld und Münster, Leiter der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster in Dortmund.
leitete ab 1943 die sprachsoziologische Abteilung der Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe, starb 1945.
gehörte 1934 als (noch lehrender) Emeritus der Universität Berlin zu den Unterzeichnern des Aufrufs Deutsche Wissenschaftler hinter Adolf Hitler, starb 1941.
gilt mit seiner Theorie des Ständestaates als einer der geistigen Wegbereiter des „Austrofaschismus“, diente seine Theorie den Nationalsozialisten an, wurde aber zurückgewiesen, seine Anhänger (Institut für Ständewesen) wurden seit 1936 verfolgt, Spann selbst wurde 1938 für vier Monate im KZ Dachau interniert und zog sich danach aus der Öffentlichkeit zurück. In Österreich konnte er nach 1945 nicht in den Hochschulbetrieb zurückkehren, wurde aber 1949 mit vollen Bezügen pensioniert, ohne wieder gelehrt zu haben.
lehrte ab 1939 als ausserplanmässiger Professor für Soziologie an der Universität Gießen, in der Bundesrepublik erst Professor am Pädagogischen Institut in Weilburg, ab 1956 wieder an der Universität Gießen.

Siehe auch

Literatur

  • Michaela Christ, Maja Suderland (Herausgeberinnen): Soziologie und Nationalsozialismus: Positionen, Debatten, Perspektiven. Suhrkamp, Berlin 2014, ISBN 978-3-518-29729-2.
  • Silke van Dyk, Alexandra Schauer: "... daß die offizielle Soziologie versagt hat". Zur Soziologie im Nationalsozialismus, der Geschichte ihrer Aufarbeitung und der Rolle der DGS (Jahrbuch für Soziologiegeschichte), 2., überarbeitete und ergänzte Auflage, Springer, Wiesbaden 2014, ISBN 978-3-658-06636-9
  • Urs Jaeggi (und andere): Geist und Katastrophe. Studien zur Soziologie im Nationalsozialismus, Berlin: Wissenschaftlicher Autoren-Verlag, WAV, 1983
  • Carsten Klingemann: Soziologie im Dritten Reich, Baden-Baden: Nomos-Verlags-Gesellschaft 1996
  • Carsten Klingemann: Heimatsoziologie oder Ordnungsinstrument. Fachgeschichtliche Aspekte der Soziologie in Deutschland zwischen 1933 und 1945, in: M. Rainer Lepsius (Hg.): Soziologie in Deutschland und Österreich 1918-1945. Sonderheft 23 der "Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie", Opladen: Westdeutscher Verlag 1981, ISBN 3-531-11575-8, S. 273-307.
  • Karsten Linne: Das Ruhrgebiet als Testfall: NS-Soziologie zwischen Rassismus und Sozialtechnologie, in: Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1993, Opladen 1995, S. 181–209.
  • Heinz Maus: Bericht über die Soziologie in Deutschland 1933-1945, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 11/1 (1959), 72-99
  • Otthein Rammstedt: Deutsche Soziologie 1933 - 1945. Die Normalität einer Anpassung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986
  • Maja Stefic: Die Soziologie im Nationalsozialismus. Darstellung einer Wechselbeziehung, Saarbrücken: VDM, Müller, 2007, ISBN 978-3-8364-1612-2.