Wing Chun
Wing Chun (chin. 詠春/咏春; pinyin Yóng Chūn; "immerwährender Frühling") ist eine chinesische Kampfkunst (im Westen häufig mit Kung Fu bezeichnet). Entwickelt wurde es über Hunderte von Jahren und hat seine Wurzeln im berühmten Shaolin-Kloster.
Die Entstehungsgeschichte
Zur Entstehungsgeschichte des Wing Chun, existieren zwei verschiedene Überlieferungen. Inwieweit diese den Tatsachen entsprechen, kann aufgrund fehlender wissenschaftlicher Belege nicht mehr überprüft werden.
In der am weitesten verbreiteten Version der Entstehungsgeschichte wird beschrieben, dass die Nonne Ng Mui versuchte, ein Kampfsystem für körperlich Unterlegene zu entwickeln, das mit dem kraftvollen Shaolin-Kampfkunst der Mönche konkurrieren konnte. Ihr Wissen gab sie an ein Mädchen weiter, das sich gegen einen lokal ansässigen Kämpfer zur Wehr setzen musste, der sie immer wieder bedrängte. Dieses Mädchen hieß Yim Wing Chun (Yim = Geheimnis; Wing = ewig; Chun = Frühling).
Die andere Version der Entstehungsgeschichte besagt, dass sich einige sehr gute Kämpfer im alten China in einem Kloster in der Halle des "ewigen Frühlings" trafen und dort zusammen diesen hoch effektiven Stil entwickelten.
Beide Versionen berichten von einem südlichen Shaolin-Kloster, das zu der damaligen Zeit bestanden habe. Die Existenz dieses Klosters ist heute weder bewiesen noch widerlegt (im Gegensatz zum nördlichen Shaolin-Kloster, das bis heute besteht).
Eine weitere Version ist, daß Wing Chun der Stil der "alten Meister" war. Im fortgeschrittenen Alter konnten sich so die Mönche immer noch gegen die jungen, kräftigen und biegsamen Meister behaupten und sich somit den Respekt verschaffen, den manche Mönche vermissen liessen.
Wurzeln in Mittelchina
Während der Qing-Dynastie (1662-1722) waren die Anhänger des Shaolin-Quan Stiles wegen ihrer Kampfkunst so berühmt, dass sich die damalige Kanghsi-Regierung Sorgen machte und beschloss, die Mönche zu töten und das Kloster am Song-Berg der Henan-Provinz in Zentral-China zu vernichten. So wurden Soldaten mit dem Befehl ausgesandt, das Kloster zu zerstören und die Religionsgemeinschaft auszulöschen. Die Mönche des Shaolin-Klosters leisteten jedoch derart starken Widerstand, dass selbst nach langem und hartem Kampf das Kloster noch immer stand. Chan Man Wai, der bei der Beamtenprüfung als Bester des Jahres abgeschnitten hatte, wollte sich bei der Regierung einen Namen verschaffen und trug ihr seinen Plan vor. Um den Plan durchzuführen, verschwor er sich mit einigen Mönchen des Shaolin-Klosters. So ließ sich Ma Ning Yee überreden, seine Kameraden zu verraten, indem er hinter ihrem Rücken das Kloster in Brand steckte. Die meisten Klosterbewohner kamen dabei ums Leben. Allerdings konnten die buddhistische Meisterin Ng Mui, der Abt des Klosters Meister Chi Sim mit den meisten Schülern, Meister Pak Mei, Meister Fung To Tak und Meister Miu Hin entkommen. Sie waren die Führer der fünf Shaolin-Stile und wurden die "Fünf Älteren" genannt. Außerdem gelang Miu Hins Schüler Fong Sai Yuk und Chi Sims Schüler Hung Xi Guan und Luk Ah Choy die Flucht. Nach der Zerstörung des Shaolin-Klosters trennten sich die Überlebenden, um den Nachstellungen der Manchu-Regierung leichter zu entkommen. Meister Chi Sim nahm zum Beispiel eine Tarnidentität als Koch auf einer "Roten Dschunke" an. Als Rote Dschunke wurden Transportschiffe einer Operntruppe bezeichnet, die üblicherweise mit roter Farbe gestrichen und bunten Fahnen geschmückt waren. Die Nonne Ng Mui dagegen ließ sich im Weißer-Kranich-Tempel am Tai-Leung-Berg nieder, wo sie sich ungestört der Kampfkunst und dem Zen widmen konnte.(Legende)
Die Legende von der Shaolin-Nonne und ihrer Schülerin Yim Wing Chun
Die folgende Erzählung beruht auf mündlicher Überlieferung: Am Tai-Leung-Berg machte Ng Mui die Bekanntschaft mit einem gewissen Yim Lee und dessen Tochter Wing Chun, was so viel bedeutet wie "ewiger Frühling". Diesem jungen Mädchen hat das System der Nonne Ng Mui angeblich auch seinen wohlklingenden Namen zu verdanken. Zu jener Zeit lebte Ng Mui im Weißen Kranich-Tempel am Tai Leung-Berg. Dort pflegte sie mehrere Male im Monat den Marktplatz des nahen Dorfes zu besuchen, um einzukaufen. An einem Stand verkaufte das junge Mädchen Yim Wing Chun mit ihrem Vater Tofu. Die beiden waren aus ihrer Heimat in der Kwantung-Provinz geflüchtet, da ihr Vater unglücklicherweise in eine Gerichtssache verwickelt war (man sagt unschuldig), die ihn das Leben hätte kosten können. Als Schüler des Shaolin-Klosters hatte er, Yim Lee, einige Kampftechniken erlernt und sorgte in seiner Gegend für Gerechtigkeit, wenn es sich als nötig erwies. Dadurch geriet er in Schwierigkeiten, die ihn zwangen seine Heimat zu verlassen und an die Grenze der Provinzen Szechwan und Yunnan zu fliehen und sich am besagten Tai Leung-Berg niederzulassen. Yim Wing Chun entwickelte sich zu einem aufgeweckten und hübschen Mädchen. Ihre Schönheit und ihr freundliches Wesen sollten aber auch die Ursache für ein schlimmes Problem werden. Im Ort gab es einen notorischen Schläger namens Wong, der ständig Streit suchte. Aber die Dorfbewohner konnten ihm nichts anhaben, da er ein Kung Fu-Experte war und einer Geheimgesellschaft angehörte. Angezogen von der Schönheit Yim Wing Chun hielt er um ihre Hand an. Doch Wing Chun war schon als kleines Kind dem Jüngling Leung Bok Chau, einem Salzkaufmann aus Fukien versprochen. Wong schickte ihr daraufhin einen Boten, setzte ihr eine Frist und drohte Gewalt anzuwenden, falls sie sich ihm verweigerte. Vater und Tochter lebten also in großer Sorge um ihre Zukunft. Ng Mui war im Laufe der Zeit zur regelmäßigen Kundin von Yim Lee und seiner Tochter geworden und unterhielt sich oft mit den beiden. Eines Tages erkannte sie, dass die beiden von großen Sorgen gequält wurden. Auf ihre Fragen erzählte ihr Yim Lee von Wong. Da Ng Mui einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn hatte, beschloss sie Wing Chun zu helfen. Aber sie wollte den Bösewicht nicht selbst bestrafen, da sie einerseits nicht ihre Tarnidentität aufgeben wollte, andererseits wäre ein Kampf zwischen ihr, der berühmten Meisterin aus dem Shaolin-Kloster und einem unbekannten Dorfschläger unfair und ruhmlos gewesen. Deshalb wollte sie Yim Wing Chun helfen, indem sie ihr die Kunst des Kämpfens mit ihrem neuen Kampfsystem beibrachte. Nach nur drei Jahren Privatunterricht hatte sie die ihr gezeigte Methode gemeistert. Ng Mui schickte sie nach der Ausbildung im Weißen Kranich-Tempel wieder zurück zu ihrem Vater. Kaum kehrte Wing Chun ins Dorf zurück, wurde sie wieder von dem Schläger Wong bedrängt. Doch dieses Mal lief sie nicht vor ihm davon, sondern forderte ihn zum Kampf auf. Der Rowdy war sich seines Sieges sicher und freute sich darauf, das schöne Mädchen endlich zu erringen. Aber er sollte sich getäuscht haben, denn Wing Chun schlug ihn zu Boden, wo er hilflos liegen blieb. Nachdem Wing Chun den Schläger ohne Probleme besiegt hatte, setzte sie ihre Kampfübungen fort. Als Ng Mui beschloss, wieder weiterzureisen, ermahnte sie Wing Chun, einen würdigen Nachfolger zu finden und nur die richtigen Schüler zu unterweisen. Diese Mahnung wurde auch von den folgenden Generationen befolgt.
Der Konflikt um die Schreibweise
Da Wing Chun in chinesischen Schriftzeichen nicht direkt in die lateinische Schrift übertragbar ist, gibt es verschiedene Transkriptionen, die sich aber phonetisch sehr ähnlich sind.
Die Schreibweise Ving Tsun wird international häufig als übergreifende Bezeichnung aller auf Großmeister Yip Man zurückgehenden Stile benutzt. In Europa hat sich allerdings Wing Chun als übergreifende Bezeichnung weitgehend durchgesetzt. Als 1972 Yip Man im Alter von 77 Jahren starb, ohne einen Nachfolger zu definieren, begann der Streit um seine Nachfolge. Im Laufe der Zeit wurden von den verschiedenen Schülergenerationen zahlreiche verschiedene lateinische Schreibweisen für den Stil Yip Mans eingeführt. Einige Schreibweisen sind in manchen Ländern als Warenzeichen angemeldet.
Yip Man selbst hat Ving Tsun nicht von einem einzigen Meister, sondern von zweien erlernt. Der eine Lehrer war ein Geldwechsler (Chan Wah Shun), der andere war Leung Bik, Sohn des legendären Leung Jan, eines bekannten Kräuterarztes und Apothekers aus Foshan in der Provinz Guangdong.
Schreibweisen:
- Ving Tsun (VT) - diese Schreibweise wurde von Yip Man selbst verwendet. Hintergrund für diese Namenswahl war vermutlich das "V" von Victory (engl. 'Sieg'). Auch Wong Shun Leung übernahm diese Schreibweise von Yip Man.
- Wing Chun - diese Bezeichnung wird von den beiden Söhnen Yip Mans, Yip Ching & Yip Chun, von Lo Man Kam, dem Neffen und langjährigen Schüler Yip Mans, von Lok Yiu und anderen direkten Schüler Yip Mans verwendet. In Europa wird dies meist als übergreifende Bezeichnung verwendet, so auch in diesem Wikipedia-Artikel.
- Wing Tsun (WT) - steht für den Stil von Leung Ting.
Weitere Beispiele für Namensvarianten mit gewisser Marktbedeutung sind Wing Tsung, Wing Chung, Wing Tzun, Wing Tjun, Wing Dschun, Weng Chun, Yong Tjun, Dynamic Ving Tshun,Yong Chun u.a.
Stilart, Formen und Waffen
Zur Charakteristik des Stils kann allgemein gesagt werden, dass alle Techniken auf ihre Wirkung hin maximiert worden sind. Die Bewegungen sind meist kurz und gerade (i.S. entlang einer Geraden) oder angedeutet spiralförmig. Der Einsatz von Kraft ist differenziert zu anderen Kung Fu-Stilen zu sehen: Es wird in der Regel keine starre Muskelkraft sondern durch eine Mischung aus Gewichtsverlagerung (Schritttechniken) und spontaner schneller Streckbewegung (so genannter Peitschenkraft) mit einem relativ kleinen Anteil eigener Muskelkraft die Elastizität des eigenen Bewegungsapparates ausgenützt.
Ein typisches Element einiger Wing Chun-Stile ist der Kettenfauststoß, von denen ein geübter Wing-Chun-Kämpfer ca. 9-13 Schläge pro Sekunde ausführt.
Die Kraft des Gegners wird durch die Anwendung von Winkel- und Drehprinzipien neutralisiert und gegen ihn verwendet (Gleichzeitigkeit von Angriff und Abwehr), d.h. während ein Schlag abgewehrt wird, erfolgt ein Angriff zur selben Zeit. Es gilt: Der Angriff ist die Verteidigung. Ein Schlag des Gegners wird so z.B. durch einen konternden Gegenschlag abgewehrt.
Der Stil ist auch durch seine Trittarbeit charakterisiert, die nur sehr wenige Grundtritte umfasst und mit der im Allgemeinen nur niedrige Ziele (bis Hüfthöhe) angegriffen werden. Ein Ziel dieser Tritte ist insbesondere das Kniegelenk und der Oberschenkelansatz des Gegners.
Prinzipien
Die Hier aufgeführten Prinzipien stellen eine kleine, beispielhafte Auswahl an Orientierungen da, wie sie in unterschiedlichen Wing Chun Stilen vorkommen können. Die Prinzipien variieren von Stil zu Stil mitunter sehr stark.
Im WT und dessen Derivaten lehrt man folgende Prinzipien:
Die Kraftprinzipien:
- Befreie dich von deiner eigenen Kraft.
- Befreie dich von der Kraft deines Gegners.
- Nütze die Kraft des Gegners.
- Füge deine eigene Kraft hinzu.
Die Kampfprinzipien:
- Ist der Weg frei, stoß vor!
- Ist der Weg nicht frei, bleib kleben!
- Ist die Kraft des Angreifers zu groß, gib nach!
- Zieht der Gegner zurück, folge.
Diese Prinzipien sind in der reflexiven Befehlsform formuliert, sodass klar definiert ist, was zu tun ist.
Weitere Prinzipien können u.A. sein:
- Greife auf dem direkten Weg an.
- kombinierte Kraft aus zwei Techniken,
- Gleichzeitigkeit mehrerer Techniken,
- Gegensätzlichkeit der Bewegung
Dies sind nur einige Beispiele von sogenannten Kuen Kuits.
Formen
Die erste grundlegende Methode, das Wing Chun zu erlernen, sind die Formen. Formen sind festgelegte Abfolgen von Techniken, die in einem bestimmten Ablauf ausgeführt werden. Dabei werden die Formen als Einzelübung "in die Luft" ausgeführt. Die Formen in den chinesischen Kampfkünsten entsprechen ungefähr dem, was in den japanischen Kampfkünsten als Kata bekannt ist. Die Formen von Wing Chun bauen alle aufeinander auf. Während man auf der ersten Stufe noch nicht genau weiß, wie und in welchen Situationen/Positionen eine Technik verwendet wird, sieht man mit jeder weiteren Stufe mehr und mehr vom Sinn und Zweck der einzelnen Übungen.
Die Formen sind:
- Siu Nim Tao / Siu Lim Tao ("Kleine Idee") - Hier werden die grundlegensten Armtechniken isoliert für sich oder in einfachen Kombinationen geübt. Beintechniken kommen hier nicht vor. Ein wichtiger Aspekt dieser Form ist auch das Verhältnis von Spannung und Entspannung.
- Chum Kiu / Cham Kiu (Fälschlich genannt "Suchende Arme" / "eine Brücke bauen") - Basistechniken mit ersten Fußtechniken. Hier werden verschiedene Techniken in Kombinationen geübt, insbesondere das Zusammenspiel von beiden Armen, Beintechniken, sowie Schritttechniken.
- Bju Tse / Biu Tze ("Stoßende Finger") Ist die 3. Form., auch Notsituationsform genannt.
- Mok Jan Chong / Mok Jan Jong ("Holzpuppe") Dient in erster Linie als Ersatz für einen Trainingspartner. Bewegungen werden hier einstudiert und Fehler beseitigt.
- Luk Dim Bun Guan / Luk Dim Ban Kwun ("Langstock") Wurde erst später in das Wing Chun eingebracht. Sinn ist hier unter anderem, die Hüfte zu stabilisieren und Fauststöße hart zu machen.
- Pa Cham Dao / Bart Cham Dao ("Doppelkurzschwerter" oder "Doppelmesser" oder "Schmetterlingsmesser")
Der Ablauf der Formen ist seit Jahrhunderten überliefert. Yip Man und Wong Shun Leung erarbeiteten ein systematische Lehrmethode der Formen. In der Entwicklungsgeschichte des Wing Chun haben viele Lehrer immer wieder Weiterentwicklungen und Änderungen eingeführt, sowohl was die Ausführung im Detail betrifft, als auch in Bezug auf den ganzen Ablauf. In den verschiedenen Stilvarianten des Wing Chun finden wir heute deshalb recht unterschiedliche Varianten der Formen - vor allem außerhalb der Yip Man und Wong Shun Leung Linie. Diese Unterschiede spiegeln natürlich auch das unterschiedliche Verständnis der Techniken und Prinzipien in den verschiedenen Stilvarianten bzw. die unterschiedlichen Wissensstände der Lehrer wider.
Auch heute noch werden von verschiedenen Lehrern zuweilen Änderungen in der Ausführung eingeführt, was mit der Lebendigkeit der Kampfkunst erklärbar ist. Hierzu gibt es Meinungsverschiedenheiten bei den Anhängern verschiedener Stilrichtungen.
Fast jede Schule variiert zumindest die Siu Nim Tao minimal - etwa indem vier anstelle von drei Schlägen einer festen Abfolge ausgeführt werden - oder andere belanglose Kleinigkeiten werden verändert. Insider können an winzigen Details der Ausführung, die wie ein "Markenzeichen" wirken, erkennen, bei wem der Schüler gelernt hat.
Chi Sao
Ein essentieller Bestandteil des Wing Chun ist das Chi Sao. Chi Sao trainiert in erster Linie die taktilen Reflexe und damit auch die Standfestigkeit und Balance, den richtigen Abstand zum Gegner in der Nahdistanz, die Sensibilität für Lücken in der gegnerischen Abwehr sowie deren Schaffung und den Eigenschutz.
Das Chi Sao gehört zu den wichtigsten Partnerübungen im Wing Chun. Dabei stehen sich zwei Trainingspartner in einer festgelegten Ausgangsstellung gegenüber und nehmen mit den Armen Kontakt zueinander auf ("klebende Hand"). In der Regel wird dann mit festgelegten Anfangsbewegungen (z.B. "rollende Arme") begonnen, worauf dann zu freier Anwendung verschiedener Techniken übergegangen wird.
Chi Sao kann entweder als feste Folge von Techniken mit verschiedenen Übergängen trainiert werden, die dann frei variiert werden können, oder es wird das sogenannte Go Sao trainiert, welches eine Art Sparring auf Chi Sao Distanz darstellt. Hierbei gibt es keinerlei Regeln zu Abläufen, es ist ein Freier Kampf in der Nahdistanz.
Die Besonderheit am Chi Sao ist, dass der Schüler von den langsameren visuellen Reflexen weg zur taktilen Wahrnehmung hin erzogen wird. Es wird hier davon ausgegangen, dass es in der Nahdistanz, die oft auch als Trapping distanz bezeichnet wird, nicht mehr rechtzeitig möglich ist, gegnerische Aktionen visuell zu erkennen und abzuwehren. Daher wird mit dieser Trainingsmethodik der Kontakt zum Gegner ausgenutzt, um dessen Aktionen über den schnelleren Sinn der Taktilität erkennen zu können.
Da Chi Sao auf unterschiedliche Weise trainiert und interpretiert werden kann, differiert es innerhalb der einzelnen Wing Chun Stile. So legt "Wing Tsun" viel Wert auf das "Kleben der Arme", um den Gegner zu fesseln, während "Ving Tsun" den Kontakt leichter löst, um direkte Schläge anzubringen. Chi Sao ist keine eigenständige Technik für den freien Kampf sondern ein Trainingshilfsmittel. Es bildet durch fortgesetzte Übung eine hervorragende Grundlage für schnelle, instinktive Abwehr samt daraus resultierendem Gegenangriff.
Im Wing Chun verstehen sich Chi Sao und andere Formen auch nicht als "Technik", vielmehr als Prinzip, welches je nach Anforderung angewendet wird. Dabei spielt die Physionomie des Gegners nur noch eine untergeordnete Rolle.
BlitzDefence
BlitzDefence ist eine Art der Selbstverteidigung, die vom Großmeister Keith R. Kernspecht entwickelt wurde, um Wing Chun für Europäer interessanter zu gestalten. Während ein typischer Schüler mindestens 3 Jahren relativ intensiven Trainings benötigt, um Chi Sao zu erlernen, kann man mit BlitzDefence bereits nach 6 Monaten schnelle Erfolge erzielen. BlitzDefence ist dabei eine Anwendung von verschiedenen Techniken, um sich möglichst effizient gegen einen Gegner zur Wehr setzen zu können. Blitzdefence ist ein System parallel zu Wing Chun, basiert aber auf dessen Techniken.
Waffen
Wing Chun war ursprünglich eine Kampfkunst ohne Waffen. Doch schon im späten 17. Jahrhundert erweiterten Wong Wah Bo (Schüler des Shoalin Mönch Ji Sin) und Leung Yee Tai (Schüler des Ehemannes der Stilgründerin Yim Wing Chun) den Kung-Fu Stil um 2 Waffenformen:
- Langstock (Luk Dim Boon Kwun)
- Kurzschwerter (Baat Jam Do / Dao)
Beide konnten gut mit diesen Waffen umgehen und passten die Übungen und Formen den Idealen von Wing Chun an. So wurde zum Beispiel in die Langstock-Form der Aspekt der Zentrallinie eingebracht.
Dies ist allerdings historisch nicht belegbar.
Besonderheiten
Training
Da es sich bei Wing Chun um eine Kampfkunst mit schnellen, direkten Techniken handelt, werden in einer bestimmten Zeiteinheit mehr Angriffe und Abwehrübungen durchgeführt als in anderen Stilen. Diese hohe Quantität an Übungseinheiten erzielt einen schnellen Lerneffekt beim Schüler. Da zudem Chi Sao und seine Variationen (Poon Sao, Dan Chi) mit intensivem Körperkontakt samt Druck und Gegendruck geübt werden, berichten viele Wing Chun Schüler, dass sie innerhalb weniger Monate einen erheblichen Kraftzuwachs der Arm-, Bein- und Rückenmuskulatur verspüren und auch Verspannungen des Muskelapparats gelindert werden. Das Training ist so ausgelegt, dass es körperliche Einseitigkeiten verringert. Ziel ist es, eine Balance zu finden mit der nach allen Seiten gleichermaßen verteidigt und angegriffen werden kann.
Besondere Berücksichtigung anderer Kampfsysteme
Eine weitere Besonderheit von Wing Chun ist, dass sich die Techniken des Systems nicht nur auf sich selbst beziehen. Im Karate beispielsweise werden praktisch nur Abwehrtechniken gegen Karatetechniken erlernt. Wing Chun dagegen enthält Abwehrtechniken gegen Wing Chun, aber auch gegen Techniken wie Baguazhang und den Kung Fu Stil Choy Lee Fut. Ein gut trainierter Wing Chun Schüler ist daher auf eine recht breite Palette möglicher Ernstfälle vorbereitet.
Familiensystem, Graduierung, Kommerzialisierung
Im alten China wurde das Wing Chun in einem "familiären" Charakter jeweils von Lehrer zu Schüler weitergegeben. Der Lehrer, der die persönliche Verantwortung für die gesamte Ausbildung der Schüler hatte, wurde als "Vater-Lehrer" (Sifu) angesehen. Der Unterricht fand gegen Bezahlung oft im Wohnhaus des Lehrers statt, eine persönliche Bindung zwischen Lehrer und Schüler, mit bestimmten gegenseitigen Verpflichtungen, war die Regel. In Hongkong wurden die ersten öffentlichen Schulen gegründet. Seitdem nahm der Unterricht im Wing Chun stärker einen kommerziellen und "modernen" Charakter an. In Europa und insbesondere in Deutschland hat sich eine starke Kommerzialisierung durchgesetzt, die sich teilweise an der Rechtsform der Verbände und ihrer öffentlichen Selbstdarstellung erkennen läßt.Speziell im Bereich der Kampfkunst stehen viele kommerziell orientierte Wing Chun Verbände den zahlreichen Sportvereinen mit ihrer gemeinnützigen Struktur und ihrer breitensportlichen Ausrichtung gegenüber. Trotzdem wird bis heute in vielen kommerziellen Verbänden an der Idee des "Familiensystems" festgehalten. Es ist fragwürdig, inwieweit diese Idee wirklich noch der Realität der heutigen Ausbildung entspricht. So ergibt sich in heutigen Verbänden sehr häufig die Situation, dass der "Vater-Lehrer" (Sifu) an der Ausbildung seiner Schüler kaum noch beteiligt ist, und diese ihn so kaum kennen. Vielmehr ist ihr tatsächlicher Lehrer oft an der Stelle des "älteren Bruders" (Sihing) bzw. der "älteren Schwester" (Sije). Auch werden heute immer noch traditionelle Verpflichtungen des Schülers gegen den Sifu betont, die der Situation in einer kommerziellen Schule in keiner Weise entsprechen.
In Südchina wie auch in der ehemaligen Kronkolonie Hongkong wurde Wing Chun traditionell ohne Schülergradsysteme gelehrt. Der Unterricht erfolgte traditionell ohne feste Lehrpläne. Die Lehrergrade wurden teilweise erst in Honkong eingeführt, die Schülergrade in Europa. In dieser Zeit wurden auch feste Lehrpläne eingeführt. Über Sinn und Zweck der Graduierungen bestehen unterschiedliche Ansichten, sie existieren nicht in allen Verbänden.