Parallelgesellschaft
Das politische Schlagwort Parallelgesellschaft bezeichnet polemisch eine teilweise nicht akzeptierte gesellschaftliche Selbstorganisation einer bestimmten Minderheit, jenseits vom gesellschaftlichen Grundkonsens aus Demokratie und Menschenrechten.
Verwendungsgeschichte
Bereits 1996 wurde das Wort Parallelgesellschaft gelegentlich, aber noch zögerlich gebraucht (vergleiche Wilhelm Heitmeyer in einem Artikel in Die Zeit) Es betrifft aber z.B. auch die Russen bzw. knapp 5 Millionen Russischsprechenden in Deutschland.
Nach der Ermordung des islamkritischen Filmemachers Theo van Gogh am 2. November 2004 kam es zu einer islamophoben Mobilisierung in den Niederlanden. Im Lauf des Novembers gipfelte diese in einem Sprengstoff- sowie mehreren Brandanschlägen auf Moscheen und islamische Schulen und auf Kirchen. Auf Grund dessen setzte zunächst in den Niederlanden, dann im übrigen Europa eine öffentliche Kontroverse ein, in der das Schlagwort Parallelgesellschaft in den Massenmedien popularisiert wurde. Es markierte vorzugsweise die Position, dass die multikulturelle Gesellschaft gescheitert sei und die Herbeiführung von Integration neue Mittel erfordere.
Islam in Deutschland
Nach der Ausschöpfung deutscher Arbeitskraftreserven in Folge des Wirtschaftswunders warb die deutsche Regierung Gastarbeiter an, woran anknüpfend sich langsam islamisch geprägte Subkulturen etablierten (Türken, Kurden, Bosnier, Marokkaner u.a.m.). Verschärfend wirkte sich im Laufe der Zeit die entstehende Ghettoisierung dieser Bevölkerungsgrupen in bestimmten Stadtteilen deutscher Städte. Zu den Kulturaspekten der moslemischen Bevölkerung gehörte der Besuch der Moschee, zunehmend eigene Privatschulen mit türkischer oder arabischer Unterrichtssprache und islamischem Religionsunterricht, aber auch ein sich ab den 1980er Jahren entwickelndes Selbstbild, das partiell durchaus von der Islamauffassung ihrer Herkunftskulturen in Richtung auf Radikalität abzuweichen begann.
Hier setzten dann islamistische Propagatoren z.T. erfolgreich an, die die parallelgesellschaftliche Exklusion ihrer Klientel zu fördern bestrebt waren. Vor allem der aufgeschürte Wertekonflikt zwischen den mit ihrer "Islam"-Auffassung nur schwer zu verbindenden Menschenrechten (siehe "Kairoer Erklärung der Menschenrechte" und der westlichen Demokratie haben zu einer Kollision der sich abschottenden Minderheit (siehe al-wala' wa-l-bara') mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft geführt, was lange von dieser übersehen wurde. Erst spektakuläre Fälle, wie der von Hatun Sürücü, haben langsam die öffentliche Meinung der Mehrheit darauf aufmerksam gemacht, dass in der Abschirmung durch "Parallelgesellschaften" grundlegende westliche Normen des Zusammenlebens nicht anerkannt werden. (Siehe auch Zwangsheirat, Apostasie im Islam.)
Ein verschobener Konflikt
Es geht hier um die - auch im übrigen Europa häufige - Kollision zwischen einer volkswirtschaftlich in einer Depression befindlichen deutschen Mehrheitsgesellschaft mit wenig Erfahrungen hinsichtlich des sozialen Abstiegs mit - auf der anderen Seite - den schwachen Zukunftsperspektiven einer eingewanderten Unterschicht, die die Geduld verliert, weil sie Unterschicht zu bleiben droht, aber nicht recht weiß, woran ihre Feindseligkeit festzumachen wäre. Es ist im Kern ein sozialer Konflikt einer säkularisierten, vergleichsweise wohlhabenden, jedoch verunsicherten Mehrheit mit einer aufstiegsgehemmten Minderheit.
Einer spürbaren Assimilationsbehinderung und erzwungenen Abschottung der Minderheit folgt sodann eine die Selbstachtung rettende Erklärung gewisser Züge der anderen Seite zu deren zentralen Merkmalen. Dem kommt entgegen, dass im vergleichsweise wohlhabenden Deutschland ein liberales Weltbild vorherrscht, das sich - typisch neuzeitlich - vieler religiöser Züge entledigt hat.
Mit Lewis A. Coser nennt die Soziologie den Streit an einer derart aus der Ökonomie in die Moral verschobenen Konfliktfront einen unrealistic conflict.
Kritik am Begriff "Parallelgesellschaft"
Am Begriff "Parallelgesellschaft" wird kritisiert, dass Parallelgesellschaften nur gegenüber einer Mehrheitsgesellschaft zu denken sind. Die Rede von den Parallelgesellschaften diene dann zur Identitätsstiftung der Mehrheitsgesellschaft durch Abgrenzung von den Anderen. Gleichzeitig würden damit derzeit zunehmende polizeiliche, politische und (sozial)pädagogische Zwangsmaßnahmen und Interventionen gegen die als Parallelgesellschaften bezeichneten Gruppen gerechtfertigt.
Der Begriff ist eine Neuschöpfung und wurde erst nach dem Mord an Theo van Gogh als Schlagwort populär. Es gibt keine akzeptierte Definition des Begriffs, zur Anwendung auf historische Phänomene ist er deshalb nicht geeignet.
Laut Wilhelm Heitmeyer müssten sieben Bedingungen existieren, damit man von einer "Parallelgesellschaft" sprechen könne. Also werde der Begriff "Parallelgesellschaft", wie er heute verwendet werde, populistisch benutzt:
- Man muss sagen, Segregation lax gesagt: gleich zu gleich gesellt sich gern ist erst mal kein Problem. Menschen gleicher Herkunft hoffen auf Hilfe von Ihresgleichen. Ich möchte noch mal grundsätzlich sagen, was das Wort „Parallelgesellschaft“ eigentlich beinhaltet. Das ist von Politikern als Kampfbegriff eingeführt oder instrumentalisiert worden. Ich kann nur davor warnen, eine schlichte Beschreibung dergestalt zu wählen, dass immer dann wenn Menschen eine unterschiedlichen Lebensstil haben, dann schon eine Parallelgesellschaft sind. Wir verwenden sieben Indikatoren bevor wir von Parallelgesellschaften sprechen. Wenn vor allem kulturelle Differenz betont wird gegenüber der Mehrheitsgesellschaft: also wir sind anders und wir wollen auch anders bleiben. Und da gibt es in der türkischen Community auch eine hohe Anzahl, die das auch tun. Was dabei herumkommt, das zugleich die soziale Ungleichheit zementiert wird. Die Menschen forcieren über die kulturelle Differenz den eigenen Sprachgebrauch, die jungen Männer holen sich wieder vermehrt Frauen aus der Türkei, damit der Integrationsprozess immer wieder von neuem anfängt. [1]
Auch Klaus J. Bade kritisiert den populistischen Gebrauch des Wortes "Parallelgesellschaft". Er sagt in einem Spiegel-Online-Interview:
- Parallelgesellschaften im klassischen Sinne gibt es in Deutschland gar nicht. Dafür müssten mehrere Punkte zusammenkommen: eine monokulturelle Identität, ein freiwilliger und bewusster sozialer Rückzug auch in Siedlung und Lebensalltag, eine weitgehende wirtschaftliche Abgrenzung, eine Doppelung der Institutionen des Staates. Bei uns sind die Einwandererviertel meist ethnisch gemischt, der Rückzug ist sozial bedingt, eine Doppelung von Institutionen fehlt. Die Parallelgesellschaften gibt es in den Köpfen derer, die Angst davor haben: Ich habe Angst, und glaube, dass der andere daran Schuld ist. Wenn das ebenso simple wie gefährliche Gerede über Parallelgesellschaften so weitergeht, wird sich die Situation verschärfen. Dieses Gerede ist also nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. (aus Spiegel November 2004)
Parallelgesellschaft als "fiktiver Konflikt"
Nach diesen Definitionen existiert in Deutschland also keine "Parallelgesellschaft" ; insofern ist sie ein Scheinproblem . Doch gerade dann kann der Streit beliebig verlängert werden, weil er eben fiktiv und demgemäß gar nicht behebbar ist.
Die Lebensvorstellungen und Wertevorstellungen beider Kulturen - die des 'neuen Islams' einerseits und die des 'libertären Weltbildes' andererseits - stellen für beidseitige Kritikübung und Symbolkämpfe genügend Züge bereit.
Ein Beispiel für die Brisanz ist der Kopftuchstreit: Die extremen Positionen vertreten z.B. einerseits, das Kopftuch sei auch politischer Ausdruck islamistischer Weltanschauung und müsse daher verboten werden, andererseits behauptet die Gegenseite, die Bedeckung sei Grundlage für die religiös gebotene weibliche Keuschheit. Der Mehrheitsdiskurs vertritt Auffassungen, die differenzierter sind, z.B. Jede Frau müsse selbst über ihre Kleidung entscheiden, oder als Gegenposition: Lehrerinnen und Erzieherinnen sollen das Kopftuch im Dienst nicht tragen dürfen, weil sie Vorbilder für die Kinder seien.
Hauptsächlich geht es um eine als gerecht empfundene Einbürgerungspolitik und Aufstiegsermöglichung gegenüber eingewanderten Minderheiten.
Siehe auch
Etablierte und Außenseiter, Multikulturalismus, Leitkultur, Melting Pot, Ideologie, Diaspora, Ethnisierung
Literatur
- Bassam Tibi: Islamische Zuwanderung - Die gescheiterte Integration Deutsche Verlags-Anstalt, München 2002, 350 Seiten, ISBN 3421056331
Weblinks
- Parallelgesellschaften? in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 1-2/2006)
- Niederlande, Vor den Trümmern des großen Traums, Von Leon de Winter, Die Zeit, Nr. 48, 2004
- Niederlande, Schluss mit dem falschen Frieden! Von Werner A. Perger, Die Zeit, Nr. 48, 2004
- Die Aliens dichten wie wir selbst. Alle reden von der Parellelgesellschaft. Aber aus welchem Universum stammt sie? Über aktuelle Wahnheimsuchungen der politischen Sprache, von Manfred Schneidet, Frankfurter Rundschau, 6.12.2004
- Parallelgesellschaft. Ein Modewort? Verheerender Kampfbegriff, von Andreas Öhler in Rheinischer Merkur, Nr. 20, 19.05.2005
- Parallelgesellschaft.de Arbeitskreis Migragtion und Segregation, Universität Trier