Frauenstimmrecht in der Schweiz
Das Frauenstimmrecht wurde in der Schweiz auf eidgenössischer Ebene am 7. Februar 1971 eingeführt. Die Schweiz war somit eines der letzten europäischen Länder, welches seiner weiblichen Bevölkerung die vollen Rechte als Bürgerinnen zugestand, doch es war das erste Land, wo dies durch eine Volksabstimmung geschah. Das politisch eng mit der Schweiz verbundene Fürstentum Liechtenstein führte erst am 1. Juli 1984 im dritten Anlauf das Frauenstimm- und Wahlrecht ein.
Bis das Frauenstimmrecht auch in allen Kantonen durchgesetzt war, sollte es allerdings noch weitere 20 Jahre dauern: Am 25. März 1990 gab das Bundesgericht einer Klage von Frauen aus Appenzell Innerrhoden Recht und bestätigte damit die Verfassungswidrigkeit der Innerrhoder Kantonsverfassung in diesem Punkt.
Der Hauptgrund für die lange Verzögerung liegt ohne Zweifel im politischen System der Schweiz. Bei Vorlagen, welche die Verfassung betreffen, entscheidet allein das stimmberechtigte Volk zusammen mit den Kantonen.
Um das Stimmrecht auf den verschiedenen Ebenen einführen zu können, bedurfte es jeweils der Mehrheit der stimmberechtigten Männer. Auf nationaler Ebene war zudem die Ständemehrheit nötig. Ein weiteres Hindernis lag in der Tatsache, dass in der Bundesverfassung (BV) von 1848 (Art. 63. Stimmberechtigt ist jeder Schweizer, der das zwanzigste Altersjahr zurückgelegt hat und im Übrigen nach der Gesetzgebung des Kantons, in welchem er seinen Wohnsitz hat, nicht vom Aktivbürgerrecht ausgeschlossen ist) das Wahlrecht vielfach an den aktiven Wehrdienst gekoppelt war (in vielen Kantonen galt: wer Art. 18 BV Jeder Schweizer ist wehrpflichtig nicht erfüllte, war vom Aktivbürgerrecht ausgeschlossen).
Chronologie
18. und 19. Jahrhundert: Frauen organisieren sich
Die Französische Revolution von 1789 wird allgemein als Beginn der Frauenrechtsbewegung angesehen, so auch in der Schweiz.
In der ersten Bundesverfassung von 1848 (siehe auch Geschichte der Schweiz) wird die Rechtsgleichheit erklärt: «Alle Menschen sind vor dem Gesetze gleich. Es gibt in der Schweiz keine Untertanenverhältnisse, keine Vorrechte des Ortes, der Geburt, der Familie oder Personen.»
Frauen werden mit keinem Wort erwähnt, weder explizit in diesen Gleichheitsartikel ein- noch ausgeschlossen. In der aus der Verfassung resultierenden Gesetzgebung ergibt sich jedoch, dass Frauen zu den Männern in ein Untertanenverhältnis gestellt wurden.
In den Jahren von 1860 bis 1874 organisieren sich die Schweizer Frauen erstmals (siehe Schweizer Frauenbewegung). Sie fordern zivilrechtliche und politische Gleichstellung für die geplante erste Revision der Bundesverfassung.
Im Jahr 1874 wird die Erste Revision der Bundesverfassung vom Stimmvolk angenommen. Obwohl es im Vorfeld große Diskussionen für und wider die politischen Rechte der Frauen gab, kommen auch in der neuen Verfassung keine Frauen vor.
1886 reichen 139 Frauen unter Führung von Marie Goegg-Pouchoulin ihre erste Petition ans Parlament ein. Diese Aktion erregt so viel Aufmerksamkeit, dass Anfang des folgenden Jahres (1887) die Forderungen der Frauen erstmals den Weg in eine Tageszeitung finden. In ihrem Artikel Ketzerische Neujahrsgedanken einer Frau in der Zürcher Post macht Meta von Salis auf sich und auf die Ansprüche der Frauen aufmerksam. Neben den fehlenden politischen und zivilrechtlichen Rechten kritisiert sie die bestehende «Ungleichheit vor dem Richter». Im selben Jahr fordert Emilie Kempin-Spyri, die erste Schweizer Juristin, die Zulassung zum Anwaltsberuf und scheitert vor dem Bundesgericht.
Während des Jahres 1894 bereist Meta von Salis das Land und hält in allen größeren Städten Vorträge zum Thema «Frauenstimmrecht und die Wahl der Frau». Ihre Referate sind schlecht besucht und an einigen Orten wird sie ausgepfiffen, sie lässt sich aber nicht entmutigen. Im selben Jahr findet in Chicago die erste Internationale Frauenausstellung statt, die über die Stellung der Frau in den verschiedenen Ländern informieren soll.
Zwei Jahre später, 1896, wird in Genf der Erste Nationale Frauenkongress organisiert. Erstmals werden die Frauen als einflussreiche Gruppierung ernst genommen und mehrere (männliche) Redner rufen sie dazu auf «Verbündete der Männer zu sein und nicht deren Feindinnen» – und sich doch bitte etwas zurückzuhalten mit ihren Forderungen. Als Folge dieses Kongresses wird die erste parlamentarische Kommission mit dem Ziel, die «Frauenfrage» zu untersuchen, gegründet.
1897 schreibt Carl Hilty seinen Aufsatz zum Frauenstimmrecht:
- «Die Freiheit besteht wesentlich darin, dass man an der Gesetzgebung Teil nimmt; alles Andere ist eine Gewährung von Rechten, die auf dem guten Willen eines Dritten beruht und deshalb eine sehr zweifelhafte Errungenschaft. Wir betrachten also unsererseits das Frauenstimmrecht als den praktischen Kern der Frauenfrage.»
1900–1959: Vorstöße und Verschleppungstaktiken
Um die Jahrhundertwende organisieren sich die Frauen im ganzen Land und bilden verschiedene Frauenvereine für oder gegen das Frauenstimmrecht. Die beiden wichtigsten sind der Bund Schweizerischer Frauenvereine (BSF) (Dachverband, Gründung 1900) unter der Leitung von Helene von Mülinen und der Schweizerische Verband für Frauenstimmrecht (SVF) (1909).
Während des Ersten Weltkrieges kommt die Bewegung ins Stocken, weil wichtigere Probleme im Vordergrund stehen. Unter Anderem leisten die Frauenverbände die gesamte Sozialfürsorge während des Krieges, da die Schweiz zu diesem Zeitpunkt noch keine Sozialversicherungen kennt.
Beim Generalstreik von 1918 ist das Frauenstimmrecht die zweite von neun Forderungen. Im Dezember werden zwei erste Vorstöße für das Frauenstimmrecht auf eidgenössischer Ebene durch die Nationalräte Herman Greulich (SP) und Emil Göttisheim (FDP) gemacht. In zwei Motionen wird der Bundesrat aufgefordert, «Bericht und Antrag einzubringen über die verfassungsmäßige Verleihung des gleichen Stimmrechts und der gleichen Wählbarkeit an die Schweizerbürgerinnen wie an die Schweizerbürger.»
Ein halbes Jahr später, im Juni 1919, reichen 158 Frauenverbände eine Petition ein, um den beiden Motionen mehr Gewicht zu verleihen. In der Folge werden die Motionen Greulich und Göttisheim von Nationalrat angenommen und zur Ausführung an den Bundesrat überwiesen.
Dort verschwinden sie jedoch wegen «dringenderer Probleme» für die nächsten Jahre in die Schreibtischschublade von Bundesrat Heinrich Häberlin (FDP). 15 Jahre später, 1934, übergibt Häberlin das unerledigte und ungeliebte Geschäft seinem Nachfolger mit dem Hinweis: «Das Material für das Frauenstimmrecht liegt in der mittleren Schublade rechts Deines Schreibtisches».
Zwischen 1919 und 1921 finden in mehreren Kantonen Abstimmungen zur Einführung des Frauenstimmrechts auf kantonaler Ebene statt. Sie werden überall mit großen Mehrheiten abgelehnt.
Der Zweite Nationale Frauenkongress von 1921 in Bern verläuft ereignislos. Für einmal steht nicht das Frauenstimmrecht, sondern die Berufstätigkeit und Erwerbsarbeit im Vordergrund.
1923 reicht eine Gruppe von Bernerinnen eine staatsrechtliche Beschwerde ein. Sie wollen ihr «Stimmrecht in Gemeinde-, Kantons- und Bundesangelegenheiten ausüben», werden jedoch vom Bundesgericht unter Berufung auf das «Gewohnheitsrecht» abgelehnt.
Fünf Jahre später, 1928, wendet sich Nationalrat Léonard Jenni mit einer Petition an den Bundesrat und weist darauf hin, dass der Begriff «Stimmbürger» in der deutschen Sprache Menschen beiderlei Geschlechtes beinhaltet. Das Gesuch wird mit folgender Begründung abgelehnt:
- «Wenn man nun behauptet, dass der Begriff auch die Schweizer Frauen in sich schließen sollte, so überschreitet man die Grenzen der zulässigen Interpretation und begeht damit einen Akt, der dem Sinne der Verfassung widerspricht. [...] Die Beschränkung des Stimmrechts auf die männlichen Schweizer Bürger ist ein fundamentaler Grundsatz des eidgenössischen öffentlichen Rechts.»
Im Sommer desselben Jahres findet die Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit SAFFA statt. Im Umzug fährt ein denkwürdiger Wagen mit: eine Schnecke namens «Frauenstimmrecht». Die Organisatorinnen werden für die Schnecke stark kritisiert und einige Kritiker sehen diese gar als Zeichen für die politische Unreife der Frauen.
Der SVF lanciert 1929 eine neue Petition für das Frauenstimmrecht und erreicht diesmal eine Rekordzahl von Unterschriften, die sogar die geforderte Anzahl Unterschriften für eine Volksinitiative überschreitet: 170397 Unterschriften von Frauen und 78840 Unterschriften von Männern. Der Katholische Frauenbund distanziert sich explizit von den Forderungen der anderen Frauenverbände. Auch andere gegnerische Organisationen reagieren und 1931 nimmt die Schweizer Liga gegen das politische Frauenstimmrecht mit einer Eingabe an den Bundesrat «Stellung gegen die Verpolitisierung der Schweizerfrauen». Immer wieder schreiben die Frauen und Männer der Liga, allen voran Emma Rufer, an den Bundesrat und die Parlamentarier und bitten sie inständig, von dem Thema abzulassen:
- Die Theorie der politischen Gleichstellung der beiden Geschlechter ist eine vom Ausland importierte Idee. An der Spitze der Frauenstimmrechtsbewegung in der Schweiz steht denn heute auch eine ursprüngliche Ausländerin.
Wir halten dafür, dass in diesen wichtigen Sachen eigentlich nur gebürtige Schweizerinnen den richtigen Einblick haben können; Leute also, die mit dem Wesen unserer Demokratie und unseres Volkes ganz vertraut sind.
Während der Dreißiger- und frühen Vierzigerjahre werden die Bemühungen um das Frauenstimmrecht einmal mehr von den internationalen Ereignissen (Weltwirtschaftskrise, Zweiter Weltkrieg) überschattet. Mehrmals werden die Frauen während diesen Jahren aufgefordert, die «Demokratie zu schützen», worauf die das Stimmrecht befürwortenden Frauenverbände antworten, dazu müssten sie zuerst über demokratische Rechte verfügen. Gegen Ende des 2. Weltkrieges kommt die Frage wieder aufs Tablett, da insbesondere bürgerliche (genannt «freisinnige») Frauen im Gegenzug zu ihrem Einsatz im FHD (militärischen Frauenhilfsdienst) ihre demokratischen Rechte einfordern. Noch während des Krieges wird das Aktionskomitee gegen das Frauenstimmrecht gegründet:
- Wir erblicken in der Beteiligung der Frau in Partei und Politik eine Gefahr für unsere Familien und für die Einigkeit der Frauen unter sich, die sich besonders in der sehr kritischen Zeit des Überganges vom Krieg zum Frieden ungünstig auswirken könnte.
1944 verlangt Nationalrat Emil Oprecht in einem Postulat die Einführung des Frauenstimmrechts, weil wichtige Frauenpolitische Anliegen auf der politischen Tagesordnung stehen: AHV, Mutterschaftsversicherung und Familienschutz. Das Postulat wird vom BSF mit einer Eingabe vom 6. Februar 1945 im Namen von 38 Frauenverbänden unterstützt. Der SGF äußert sich nicht zu der Frage, der SKF jedoch schert erstmals aus der konservativen Linie der katholischen Kirche aus und erteilt seinen Mitgliedern Stimmfreigabe. 1945 wurde das Schweizerische Aktionskomitee für Frauenstimmrecht als Meinungsbildendes Instrument gegründet.
Der dritte Nationale Frauenkongress von 1946 bringt keine neuen Fortschritte in Sachen Frauenstimmrecht.
1948 werden im ganzen Land Feiern zum 100jährigen Bestehen der Bundesverfassung durchgeführt und die «Schweiz, ein Volk von Brüdern» gefeiert. Die Frauenverbände erklären es um zu einem «Volk von Brüdern ohne Schwestern» und überreichen dem Bundesrat symbolisch eine Europakarte mit einem schwarzen Fleck in der Mitte. Zu diesem Zeitpunkt hatten alle europäischen Länder außer der Schweiz das Frauenwahlrecht eingeführt. Wie zuvor die SAFFA-Schnecke wurde diese symbolische Karte von Kritikern als Zeichen der politischen Unreife der Frauen interpretiert.
Im Jahr 1950 legt der Bundesrat einen Bericht an die Bundesversammlung über das für die Einführung des Frauenstimmrechts einzuschlagende Verfahren vor. Von nun an ist unbestritten, dass es eingeführt werden muss, die Frage ist wann und wie.
1951 wendet sich der Schweizerische Frauenkreis gegen das Frauenstimmrecht unter der Leitung von Dora Wipf mit einem Schreiben an den Bundesrat:
- «wir glauben also, dass wir guten Gewissens behaupten dürfen, die Mehrheit der Schweizerinnen zu vertreten, wenn wir Sie bitten, die Frage wohl zu erwägen, ob in der heutigen Zeit, da die Frau mit Pflichten aller Art stark belastet ist, man ihr die Übernahme weiterer großer Pflichtenkreise noch zumuten darf. [...] Wir glauben nicht, dass unser Land politisierende Frauen braucht, sondern Mütter, leibliche und geistige Mütter, die mithelfen, dass Hass und Misstrauen überwunden werden. Wir vertreten grundsätzlich den Standpunkt, dass die Einführung überhaupt abzulehnen sei.»
Ein Jahr später, 1952 verlangen Antoinette Quinche, Präsidentin des «Schweizerischen Aktionskomitees für das Frauenstimmrecht», und 1414 Mitstreiterinnen von ihren Gemeinden die Eintragung ins Stimmregister. Mit dem Argument, die jeweiligen Kantonsverfassungen würden Frauen nicht explizit vom Stimmrecht ausschließen, gehen sie mit ihrer Forderung bis vor Bundesgericht. Wie bereits 1923 werden sie unter Berufung auf das «Gewohnheitsrecht» abgewiesen.
1957 findet eine Abstimmung statt, in der Zivilschutzdienst für alle Schweizer Frauen obligatorisch werden soll. Während der Volksabstimmung ereignet sich ein Skandal: Die Frauen der Walliser Gemeinde Unterbäch gehen alle – unterstützt vom Gemeinderat – abstimmen. Der Gemeinderat erklärt, dass laut Verfassung die Gemeinden gesetzlich zuständig seien, um die Stimmregister aufzustellen. Die Abstimmung wird vom Kanton Wallis und vom Bund für diese Gemeinde annulliert.
Im Jahr 1958 findet einerseits die Zweite Schweizerische Ausstellung zur Frauenarbeit SAFFA statt, andererseits erscheint das umstrittene Buch Frauen im Laufgitter von Iris von Roten (der deswegen von verschiedenen Seiten die Schuld am Scheitern der Abstimmung von 1959 gegeben wird). Nachdem sich die Westschweizer und Deutschschweizer Sektionen der Katholischen Frauenvereine für das Frauenstimmrecht ausgesprochen haben, gibt der SKF die Ja-Parole für die geplante Abstimmung heraus und propagiert das Frauenstimmrecht in den katholischen Organisationen.
Kurz vor der Abstimmung erscheint eine neue gegnerische Organisation auf dem politischen Parkett: Das Schweizerische Aktionskomitee gegen die Verfassungsvorlage über die Einführung des Frauenstimmrechts im Bund hat sich kein geringeres Ziel gesetzt, als die Schweiz vor dem Untergang zu retten:
- «Die Vorlage missachtet mit der bloßen Kopierung ausländischer Wahlrechtsverhältnisse die Besonderheiten unserer direkten Referendumsdemokratie, in welcher der Stimmbürger nicht nur wählt, sondern dauernd über oft recht schwierige Sachfragen entscheiden muss.»
Am 1. Februar 1959 scheitert die erste Volksabstimmung über das eidgenössische Frauenstimmrecht mit einer Stimmbeteiligung von 67% ganz klar am Volks- (33% : 66%) und Ständemehr (3 : 16 + 6/2 Kantone) [1]. Protestaktionen und Frauenstreiks in der ganzen Schweiz sind die Folge.
Im Herbst können die Frauen jedoch endlich erste Erfolge verzeichnen: Als erster Kanton nimmt Neuenburg das Frauenstimmrecht auf kantonaler Ebene an; die meisten anderen Kantone folgen in den anschließenden Jahren.
1959–1971: Endspurt
Nach der Ablehnung wird der Bund der Schweizerinnen gegen das Frauenstimmrecht gegründet. Der Verein argumentiert damit, dass die Frauen aufgrund ihrer biologischen Verschiedenheit durch ihre politische und rechtliche Gleichstellung benachteiligt würden.
Im Laufe des Jahres 1965 gibt es mehrere parlamentarische Motionen zur Einführung des Frauenstimmrechts auf eidgenössischer Ebene. Die rechtlichen Voraussetzungen für den Beitritt der Schweiz zur Europäischen Menschenrechtskonvention musste geschaffen werden. Trotzdem verhält sich der Bundesrat zögerlich.
In den Folgejahren werden immer wieder Motionen an den Bundesrat gestellt. Dann erreichen die Jugendunruhen von 1968 auch die Schweiz und die Schweizer Frauenbewegung. Junge Feministinnen gehen auf Konfrontationskurs und veranstalten Protestaktionen und Demonstrationen im ganzen Land.
Da ihnen der SVF zu wenig radikal ist (sie bezeichneten diesen als «gemütlich»), gründen sie die Frauenbefreiungsbewegung FBB, eine radikalfeministische Vereinigung junger Frauen.
Am 1. März 1969 findet der Marsch auf Bern statt: 5000 Frauen und Männer demonstrieren vor dem Bundeshaus in Bern. Der Resolution von Emilie Lieberherr wird von den Versammelten mit großem Applaus zugestimmt:
- «Die hier versammelten Schweizerinnen fordern das volle Stimm- und Wahlrecht auf eidgenössischer und kantonaler Ebene und in den Gemeinden. Die Konvention des Europarates zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten darf erst unterzeichnet werden, wenn bezüglich des Stimm- und Wahlrechts kein Vorbehalt mehr nötig ist.
Die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter ist eine wichtige Voraussetzung für die Verwirklichung der Menschenrechte. Sämtliche vorgeschlagenen Vorbehalte stellen die Glaubwürdigkeit unseres Landes als Rechtsstaat und Demokratie in Frage.
Wir fordern deshalb alle gutgesinnten Politiker und Stimmbürger auf, das Frauenstimm- und Wahlrecht im Bund, in den Kantonen und in allen Gemeinden so rasch als möglich zu verwirklichen.»
Die Zahl von 5000 Demonstrierenden klingt nicht so spektakulär, hat die Politiker der damaligen Zeit jedoch ziemlich erschreckt. Inzwischen opponierten nämlich nicht allein die radikalen Stimmrechtsvereine und der FBB, sondern auch konservative Frauenorganisationen (Gemeinnütziger Frauenverein, Landfrauenverband, Katholischer und der Evangelischer Frauenbund).
Durch Häuserbesetzungen und kämpferische Protestaktionen macht der FBB auf sich aufmerksam. Die Gruppierung wird vom Frauenstimmrechtsverein scharf kritisiert, da befürchtet wird, die Aktionen könnten «der Sache» schaden. Die Öffentlichkeit, insbesondere die jungen Menschen, begrüßen hingegen die schärfere Gangart des FBB.
Nun folgt ein langwieriges politisches Hin und Her zwischen Bundesrat, Nationalrat und Ständerat, bis endlich eine allgemein anerkannte Abstimmungsvorlage zur Einführung des Frauenstimmrechts erarbeitet ist. Derweil gehen die Protestaktionen der FBB weiter.
Der Abstimmungskampf selber verläuft relativ ruhig und optimistisch: Alle Regierungsparteien und die beiden einflussreichsten Berufsverbände (Gewerkschaftsbund, Bauernverband) haben die JA-Parole herausgegeben.
Die Schweiz ist sich für einmal einig. Nach 123 Jahren Kampf seit der Bundesverfassung von 1848 gewähren schließlich die Schweizer Männer den Frauen aktives und passives Wahlrecht und Stimmrecht bei politischen Entscheidungen. Am 7. Februar 1971 wird die Vorlage vom (männlichen) Stimmvolk mit 621109 gegen 323882 Stimmen (65,7% Ja) und von 14 3/2 Ständen gegen 5 3/2 Stände angenommen.
- «Endlich, endlich, endlich ... Von mir fallen Zentner. Die Aufgabe, die seit bald hundert Jahren ungelöst von einer Generation zur anderen tradiert wurde, hat in der letzten ‹Männerabstimmung› vom 7. Februar 1971 ihre glanzvolle Erfüllung gefunden.
Fortan wird es nur noch Volksabstimmungen geben im wahren Sinn des Wortes.» (Gertrud Heinzelmann).
Bei den Nationalratswahlen vom 31. Oktober 1971 sind somit erstmals Frauen wahlberechtigt und wählbar. Elf Frauen werden gewählt, was bei 200 Mandataren einen Frauenanteil von 5,5 % ausmacht.
Verfassungsartikel zum Stimm- und Wahlrecht
Bundesverfassung 1848
- Art. 63. BV:
- Stimmberechtigt ist jeder Schweizer, der das zwanzigste Altersjahr zurückgelegt hat und im Übrigen nach der Gesetzgebung des Kantons, in welchem er seinen Wohnsitz hat, nicht vom Aktivbürgerrecht ausgeschlossen ist. [2]
Bundesverfassung 1874
- Art. 74. BV:
- Stimmberechtigt ist jeder Schweizer, der das zwanzigste Altersjahr zurückgelegt hat und im Übrigen nach der Gesetzgebung des Kantons, in welchem er seinen Wohnsitz hat, nicht vom Aktivbürgerrecht ausgeschlossen ist.
Der Artikel wurde am 7. Februar 1971 in veränderter Form in der Verfassung verankert:
- Art. 74 BV:
- Bei eidgenössischen Abstimmungen und Wahlen haben Schweizer und Schweizerinnen die gleichen politischen Rechte und Pflichten.
- Stimm- und wahlberechtigt bei solchen Abstimmungen und Wahlen sind alle Schweizer und Schweizerinnen, die das 20. Altersjahr zurückgelegt haben und nicht nach dem Rechte des Bundes vom Aktivbürgerrecht ausgeschlossen sind.
Das Alter wurde 1991 auf 18 Jahre gesenkt. [3]
Bundesverfassung 2000
- Art. 136 Abs. 1 BV:
- «Die politischen Rechte in Bundessachen stehen allen Schweizerinnen und Schweizern zu, die das 18. Altersjahr zurückgelegt haben und die nicht wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt sind. Alle haben die gleichen politischen Rechte und Pflichten.» [4]
Schwerpunkte der Diskussion
Im Folgenden werden die Begründungen, die insbesondere während der Abstimmungskampagnen für oder gegen eine Einführung des Frauenstimmrechts angeführt wurden, noch einmal zusammengefasst:
Die befürwortenden Argumente zeichneten sich insgesamt durch ihre starke Bezugnahme auf grundlegende politische Prinzipien und rechtliche Normen aus. Eine der wichtigsten war Artikel 1 der Schweizer Bundesverfassung von 1848, der ohne Qualifikation besagte: «Alle Schweizer sind vor dem Gesetz gleich.» Ergänzend konnten die Befürworter auf die Menschenrechte verweisen, die allen Menschen und damit also auch Frauen ein Stimm- und Wahlrecht zusprechen. Mit dem Grundsatz, dass in einer Demokratie mit der Pflicht, die Gesetze eines Landes zu befolgen, auch das Recht einhergehen müsse, selbige Gesetze mitzubeschließen, konnten sie zudem auf eine wichtige rechtsphilosophische Position verweisen. Das von den Gegnern vorgebrachte Gegenargument, Frauen könnten dies ja bereits über die Einflussnahme auf ihre Männer tun, wurde in charakteristischer Weise wieder mit Rückgriff auf einen allgemeinen Grundsatz abgelehnt, wonach die Ausübung von Rechten nicht vom guten Willen Dritter abhängen darf.
Die Gegner des Frauenstimmrechts argumentierten dagegen mit einer Reihe eher disparater Argumente, die zum einen die Notwendigkeit einer Neuerung in Zweifel zogen, zum anderen aber vor den zu erwartenden negativen Folgen des Frauenwahlrechts warnten.
Im ersteren Sinne wurde etwa angeführt, die Idee eines Frauenwahlrechts sei eine aus dem Ausland importierte, unschweizerische Idee, die auch von der großen Mehrheit der Schweizerfrauen abgelehnt werde, welche an einem Stimmrecht gar nicht interessiert sei, zumal jede Frau ihre Meinung indirekt über ihren Mann zum Ausdruck bringen könne.
Ein eher fürsorglich verstandener Aspekt kam dagegen in der Vorstellung zum Ausdruck, Politik sei ein schmutziges Geschäft, in dem Frauen es zu schwer haben würden, die Achtung der Gesellschaft zu wahren. Ihre Einbeziehung in politische Entscheidungen werde so unweigerlich zum Verlust ihrer Weiblichkeit führen, während die Abhängigkeit von ihren Männern durch die Einführung des Stimmrechts nur gegen neue Abhängigkeiten eingetauscht werde.
Daneben wurde aber auch die negative Einwirkung auf Männer herausgestellt, die aufgrund der Bevölkerungsmehrheit der Frauen unweigerlich diskriminiert werden würden. Eine wichtige Rolle spielte dabei der nur für Männer verbindliche Militärdienst, der diese ohnehin benachteilige - ein Argument, das freilich von Befürworterseite meist mit dem Hinweis auf den Fraueneinsatz im militärischen Hilfsdienst gekontert wurde.
Schließlich wurde auch die kategorische Auffassung vertreten, der Staat selbst sei seinem Wesen nach eine männliche Institution, die von Frauen daher ihrer Natur gemäß nicht in der notwendigen Tiefe verstanden werden könne.
Auswahl beteiligter Personen
Befürworter(innen) | Gegner(innen) |
Parteien
Pro | Contra | |
1959 |
| |
(Die anderen Parteien erteilten ihren Mitgliedern Stimmfreigabe und gaben keine Abstimmungsparole heraus.) | ||
1971 |
Keine Parteien, aber ebenfalls einflussreich: |
|
Frauenstimmrecht auf kantonaler Ebene
Bei Einführung des eidgenössischen Frauenstimmrechts hatten einige Kantone bereits ein kantonales Frauenstimmrecht eingeführt, die meisten folgten jedoch in den Jahren 1971 und 1972 (Details siehe [5]).
- 1. Februar 1959 – Neuenburg und Waadt
- 6. März 1960 – Genf
- 26. Juni 1966 – Basel-Stadt
- 23. Juni 1968 – Basel-Landschaft
- 19. Oktober 1969 – Tessin
- 12. April 1970 – Wallis
- 15. November 1970 – Zürich
- 7. Februar 1971 – Aargau, Freiburg, Schaffhausen, Zug
- 2. Mai 1971 – Glarus
- 6. Juni 1971 – Solothurn
- 25. Oktober 1971 – Luzern
- 12. Dezember 1971 – Bern, Thurgau
- 23. Januar 1972 – St. Gallen
- 30. Januar 1972 – Uri
- 5. März 1972 – Schwyz, Graubünden
- 30. April 1972 – Nidwalden
- 24. September 1972 – Obwalden
- 20. März 1977 – Jura (direkt mit der Kantonsgründung, vorher seit 12. Dezember 1971 als Teil des Kantons Bern)
- 30. April 1989 – Appenzell AR (an der Landsgemeinde)
- 27. November 1990 – Appenzell IR (durch Bundesgerichtsurteil)
Literatur
- Sibylle Hardmeier: Frühe Frauenstimmrechtsbewegung in der Schweiz (1890–1930) – Argumente, Strategien, Netzwerk und Gegenbewegung. Chronos, Zürich 1997.
- Werner Kägi: Der Anspruch der Schweizerfrau auf politische Gleichberechtigung. Zürich 1957.
- Yvonne Vögeli: Zwischen Hausrat und Rathaus, Auseinandersetzungen um die politische Gleichberechtigung der Frauen in der Schweiz 1945–1971. Chronos, Zürich, 1997.
- Dokumentationsmappe Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen: Frauen Macht Geschichte, Frauen- und gleichstellungspolitische Ereignisse in der Schweiz 1848–1998, Bern 1999. Die Mappe steht auch als PDF-Datei zur Verfügung.
Weblinks
- Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung
- «Die Frau gehört ins Haus» – Frauenstimmrecht und seine Hindernisse in der Schweiz und im Kanton Bern
- Die Geschichte des politischen Stimmrechts der Frauen in der Schweiz seit der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg
- Artikel Frauenstimmrecht im Historischen Lexikon der Schweiz
Bemerkung zu den Quellen: Die meisten Zitate in diesem Artikel wurden aus den letzten beiden verlinkten Seiten der Universität Bern entnommen, stammen jedoch ursprünglich aus öffentlich zugänglichen Quellen wie Staatsarchiven und Pressearchiven.
Die Bilder stammen aus der Pressemappe des Zürcher Staatsarchivs zum 150jährigen Bestehen der Eidgenossenschaft und sind öffentlich.