Freudomarxismus
Der Freudomarxismus ist eine aus der Synthese von Psychoanalyse und Marxismus hervorgegangene Gesellschaftstheorie. Der Freudomarxismus, der nie breite Anerkennung erreichen konnte, wurde von Teilen der deutschen und französischen 68er-Bewegung wieder aufgenommen.
Grundlegung des Freudomarxismus durch Wilhelm Reich
Die Grundlage des Freudomarxismus legte der Psychoanalytiker Wilhelm Reich. Er versuchte eine Synthese der marxistischen Methode des dialetkischen Materialismus mit der Psychoanalyse. Reich wollte zeigen, dass die Psychoanalyse nichts enthielte, was per se unmarxistisch sei. Es bestand ein scheinbarer Widerspruch zwischen dem zum Ökonomismus (Vulgärmarxismus) vergröberten Marxismus, der sämtliche gesellschaftlichen und geschichtlichen Vorgänge durch die Reduktion auf ökonomische Faktoren erklären wollte und der Psychoanalyse Freud'scher Prägung, die Freud zu einem umfassenden System mit z.T. nicht beweisbaren Voraussetzungen wie der Existenz eines Todestriebs ausbaute. Reich versuchte hingegen nachzuweisen, dass die Grundbegriffe der Psychoanalyse eine materielle Basis hätten. Auch wohne der Psychoanalyse eine Gesellschaftskritik inne. Die Psychoanalyse sei aber insbesondere durch konservative Kreise verfremdet worden, um den status quo zu wahren. Diese Haltung Reichs war ein Grund für sein gespanntes Verhältnis zu dem in Bezug auf gesellschaftliche Verhältnisse wesentlich konservativeren Freud.
Reich hoffte vergeblich, die Psychoanalyse könne im Sozialismus und in Sowjetrussland breite Anerkennung finden, um ihr volles Potential zu entfalten.
Grundannahmen des Reich'schen Freudomarxismus sind:
- Die Gesellschaft leidet unter einer Massen-Neurose. Dieser Gedanke wurde schon in Freuds Das Unbehagen in der Kultur angesprochen, ohne dort jedoch weiter spezifiziert zu werden.
- Die Ursache für die Neurosen des Einzelnen ist die gesellschaftliche Unterdrückung, insbesondere im sexuellen Bereich.
- Die sexuelle Befreiung des Einzelnen ist Voraussetzung für die gesellschaftliche Befreiung in der Rvolution. Sexuelle Befreiung ist also ein Teil einer gesamtgesellschaftlichen revolutionären Bewegung.
Weiterentwicklungen
Mit Reichs Ansatz, Psychoanalyse mit dem Marxismus zu verbinden, sympathisierten vor allem viele junge Berliner Psychoanalytiker. Reichs Ideen wurden insbesondere durch Erich Fromm und Karen Horney aufgenommen, verändert und weiterentwickelt. Beide betonten aber stärker die gesellschaftlichen Faktoren bei der Entstehung von Neurosen, Libidinöse Faktoren traten hingegen zunehmend in den Hintergrund. Weiterhin interessierten sich Otto Fenichel und Edith Jacobson stark für Reichs freudomarxistische Ideen.
Auch Herbert Marcuse kann dem Freudomarxismus zugerechnet werden. Er entwirft seine Theorie allerdings, im Gegensatz zu Reich, auf Basis der Todestriebtheorie des späten Freud. Entsprechend kritisiert er in seinem Buch "Eros and Civilization" (1955, dt. 1957) Reich als undifferenziert und "primitiv".
Ob die Theorien von Fromm, Horney, Marcuse und anderen als Weiterentwicklungen oder Verwässerungen der ursprünglichen Ansätze zu sehen sind, blieb umstritten und letztlich ungeklärt. Reich selbst revidierte seine einschlägigen Schriften in den 1940er Jahren, so dass sein Freudomarxismus zwar durch (illegale) Nachdrucke in den Jahren um "1968" bekannt wurde, in den regulären Ausgaben seiner Schriften (ab 1969) aber kaum noch kenntlich ist.
Auswirkungen auf die 68er
Insbesondere durch Marcuses Arbeiten erlebte der Freudomarxismus in der deutschen und französischen 68er-Bewegung eine Renaissance. Im Vorfeld der Pariser 68er-Revolution bezogen sich insbesondere die revoltierenden Studenten der Universität Nanterre um Daniel Cohn-Bendit) auf Wilhelm Reich. In ihrer "Schlafzimmerrevolte" (Boadella), erzwangen sie unter anderem die Aufhebung der Geschlechtertrennung in den Studentenwohnhäusern der Universität Nanterre.
Literatur
- Boadella, David: Wilhelm Reich. Leben und Werk des Mannes, der in der Sexualität das Problem der modernen Gesellschaft erkannte und der Psychologie neue Wege wies. Bern/München, Scherz, 1981.
- Schneider, Michael: Neurose und Klassenkampf. Materialistische Kritik und Versuch einer emanzipativen Neubegründung der Psychoanalyse. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 1973. ISBN 3-499-25026-8
Externe Links
siehe auch: Sexualökonomie, Sexpol-Bewegung