Regentschaft über das Herzogtum Braunschweig
Der Regentschaftsrat (Braunschweig) war ein Staatsorgan des Herzogtums Braunschweig, das von 1884 bis 1885 und von 1806 bis 1807 provisorisch die Regierung führte.
Die braunschweigische Erbfolgefrage
Vorgeschichte
Der Braunschweiger Herzog Karl II. floh nach 1830 nach einer Revolte ins Ausland. Auf dringenden Rat des preußischen Königs Friedrich Wilhelms III. begab sich Karls jüngerer Bruder Wilhelm nach Braunschweig. „Nur mit größtem Widerstreben fand sich Wilhelm bereit, die Regierung zu übernehmen, da ihm der offenkundige Bruch des legitimen Fürstenrechts als eine schwere Hypothek allzu riskant erschien.“[1] Gestützt auf eine widerrufliche Vollmacht seines Bruders übernahm er zunächst die provisorische Regierungsführung. Aufgrund eines Bundestagsdekrets wurde Wilhelm vorläufig mit der Regierung des Landes beauftragt. 1832 wurde Karl durch Familienbeschluss als der Regierung unfähig erklärt und Herzog Wilhelm als einzig legitimer Regent anerkannt.[2] Der Bundestag, das oberste Organ des Deutschen Bundes, erklärte jedoch den Vorbehalt, dass hierdurch insbesondere die Rechte einer etwaigen Deszendenz Herzog Karls II. von Braunschweig unberührt blieben. Daher bestand für Karl somit die Möglichkeit, Vater eines ebenbürtigen Sohnes und Thronanwärters zu werden. Dies war weder im Interesse Wilhelms und der Braunschweiger Politik noch im Interesse der hannoverschen Welfenlinie. Da jedoch weder Karl (gestorben 1873) noch Wilhelm heirateten, vergrößerte sich im Lauf der Jahrzehnte die Wahrscheinlichkeit, dass es keinen Thronfolger geben und die Linie im Mannesstamme aussterben werde.
§ 14 der Neuen Landschaftordnung für das Herzogtum Braunschweig vom 12. Oktober 1832,[3] der Landesverfassung,[4] bestimmte für die Erbfolge des Herrschers:
„Die Regierung wird vererbt in dem fürstlichen Gesammthause Braunschweig-Lüneburg nach der Linealerbfolge und dem Rechte der Erstgeburt, und zwar zunächst in dem Mannsstamme aus rechtmäßiger, ebenbürtiger und hausgesetzlicher Ehe. Erlischt der Mannsstamm des fürstlichen Gesammthauses, so geht die Regierung auf die weibliche Linie nach gleichen Grundsätzen über.“
Danach wäre beim Ableben Herzog Wilhelms die Thronfolge an den König von Hannover gefallen (sofern Karl nicht noch Vater eines ebenbürtigen Sohnes geworden wäre). Bereits Anfang der 1860er Jahre erschienen Publikationen, teils anonym, die sich mit der Frage einer Nachfolge Herzog Wilhelms befassten. Der Göttinger Rechtsgelehrte Heinrich Zachariä kritisierte 1862, es würden Fragen aufgeworfen, die sich nicht stellten. Bis in die jüngste Zeit, so Zachariä, wäre niemandem im Traume eingefallen, das „Successionsrecht der Krone Hannover“ in Frage zu stellen.[5] In den erwähnten Schriften wurde dagegen das Thronfolgerecht des Hauses Hannover bestritten. In diesem Fall wäre stattdessen die Thronfolge auf einen von Braunschweig zu berufenden Monarchen übergegangen oder ein Anschluss an Preußen wäre möglich gewesen.[6]
Die Höfe in Hannover und Braunschweig waren durch die zahlreichen Veröffentlichungen beunruhigt. Sie verabredeten 1862, in Verhandlungen über einen Erbfolgevertrag einzutreten. Im November dieses Jahres einigten sich König Georg V. und Herzog Wilhelm auf eine Personalunion, d. h. auf einen Fortbestand des Landes Braunschweig. Georgs Sohn Kronprinz Ernst August sollte die Würde eines Landesverwesers erhalten. Sie beschlossen einvernehmlich, „dass kein drittes Fürstenhaus mit irgendeiner Berechtigung sich in die Nachfolge Hannovers in Braunschweig einzumischen habe.“[7]
Im Deutschen Krieg hatte sich das Königreich Hannover auf die Seite Österreichs gestellt. Militärisch geschlagen, wurde Hannover 1866 von Preußen annektiert. Damit hatten sich die Chancen der hannoverschen Welfen auf die Übernahme des Braunschweiger Throns entscheidend verschlechtert. Preußen stand einer Übernahme des Braunschweiger Throns durch einen Angehörigen des Hauses Hannover ablehnend gegenüber. Da diese die Annexion durch Preußen nicht nur nicht anerkannten, sondern mit der Welfenlegion sogar eine militärische Rückeroberung ihres früheren Staatsgebietes planten, galten sie dem preußischen Ministerpräsidenten und Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes Otto von Bismarck als Reichsfeinde.[8] Zur Beruhigung der Braunschweiger Öffentlichkeit gab Preußen 1867 eine Bestandsgarantie für das Herzogtum Braunschweig ab und verwies darauf, dass sich alle Staaten des Norddeutschen Bundes gegenseitig die Souveränität garantiert hätten.[9]
Nach der Gründung des Deutschen Reiches war die Stellung Preußens unter den deutschen Staaten und speziell die Bismarcks weiter gestärkt. Georg V. von Hannover hielt jedoch an seinem Anspruch auf Hannover fest; das Gleiche tat nach seinem Tod 1878 sein Sohn Ernst August, Herzog von Cumberland, der zugleich den Titel Herzog zu Braunschweig annahm.
Direkt oder indirekt an der Nachfolgefrage beteiligte Personen:
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Herzog Karl II. von Braunschweig
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Herzog Wilhelm von Braunschweig
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Georg V. von Hannover
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Ernst August, Kronprinz von Hannover, Herzog von Cumberland
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Kaiser Wilhelm I. (1884)
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Otto von Bismarck, 1886
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Hermann v. Görtz-Wrisberg als Göttinger Student um 1840
Das Gesetzgebungsverfahren
Um die Unsicherheit über die Rechtslage zu beenden, verhandelten die Mitglieder der Braunschweigischen Landschaft 1873 über den Entwurf eines Regentschaftsgesetzes, der – bei Zustimmung und Garantie des deutschen Kaisers – die Regentschaft des Großherzogs Peter von Oldenburg vorsah. Voraussetzung war die absehbare weitere Verhinderung des rechtmäßigen Thronerben. Der Großherzog machte eine Übernahme des Amtes von folgenden drei Voraussetzungen abhängig:
- Der Zustimmung des Kaisers
- Der Zustimmung Georgs V.
- Der Zustimmung des Oldenburgischer Landtags
Bismarck hatte kein Interesse daran, die indirekte Anerkennung der Ansprüche der hannoverschen Welfen zu akzeptieren. U. a. daher kam die im Gesetzentwurf enthaltene Voraussetzung der Zustimmung des Kaisers nicht zustande. Der braunschweigische Landtag beschloss daraufhin 1874, „die Voranordnung einer Regentschaft einstweilen ruhen zu lassen“. In der folgenden Zeit wurde die Angelegenheit nicht weiterverfolgt, weil andere Aufgaben mit Vorrang behandelt werden mussten. Nach dem Tode Georgs V. im Jahre 1878 und dem Festhalten seines Sohnes an dem Anspruch des Hauses Hannover verstärkte sich bei den Repräsentanten des Landes Braunschweig der Wunsch nach klaren Verhältnissen. Aber erst als die braunschweigische Regierung Preußen davon überzeugt hatte, dass sie nicht beabsichtige, die Ansprüche der hannoverschen Welfen zu sichern, ließen sich der Kaiser und der Reichskanzler für ein Regentschaftsgesetz gewinnen.[10] Auf Wunsch Herzog Wilhelms wurde schließlich 1879 ein neuer Entwurf eines Regentschaftsgesetzes in den Landtag eingebracht. Am 16. Februar 1879 erließ der Herzog mit Zustimmung der Landesversammlung das Gesetz, die provisorische Ordnung der Regierungsverhältnisse bei einer Thronerledigung betreffend, als Ergänzung der Landesverfassung.[11]
Das Regentschaftsgesetz
Verfasst wurde das Gesetz von Staatsminister Eduard Trieps.[12] Das Gesetz galt gem. § 1 bei künftig eintretenden Thronerledigungen, falls „der erbberechtigte Thronfolger zum sofortigen Regierungsantritte irgendwie behindert[13] sein sollte“. In diesem Fall sollte „eine provisorische Regierung des Landes durch einen Regentschaftsrath eintreten“. Dieser sollte aus den stimmführenden Mitgliedern des Herzoglichen Staats-Ministeriums,[14] dem Präsidenten der Landesversammlung und dem Präsidenten des Obergerichts (künftig des Oberlandesgerichts)[15] bestehen (§ 2). Der Regentschaftsrat führt die Regierung grundsätzlich mit allen Rechten und Pflichten einer Regierungsverwesung (§ 4). Die provisorische Regierung endet, wenn der nicht mehr an der Ausübung der Regierung verhinderte Thronfolger die Regierung übernommen hat oder bei andauernder Verhinderung ein zur Regenschaft Berechtigter die Regentschaft übernommen hat (§ 5). § 6 Satz 1 lautet:
„Sollte der Regierungsantritt des Thronfolgers oder die Übernahme der Regierungsgeschäfte durch einen berechtigten Regenten nicht innerhalb eines Jahres seit der Thronerledigung Statt gefunden haben, so wählt die Landesversammlung den Regenten auf Vorschlag des Regentschaftsraths aus den volljährigen, nicht regierenden Prinzen der zum Deutschen Reiche gehörenden souverainen Fürstenhäuser, welche sodann die Regierungsverwesung bis zum Regierungsantritt des Thronfolgers fortführt.“
Mitglieder des Regentschaftsrates
- Erster Regentschaftsrat (1884–1885)
- Hermann von Görtz-Wrisberg
- Albert von Otto
- Adolf Wirk (1814–1891)
- Karl Friedrich (gen. Fritz) von Veltheim (1824–1896)
- Albert Schmid
- Zweiter Regentschaftsrat (1906–1907)
- Albert von Otto
- August Trieps
- Adolf Hartwieg
- Wilhelm Semler (1844–1929)
- Hans Wolf
Die Zeit der Regentschaft
Bereits am Todestage Herzog Wilhelms am 18. Oktober 1884 gab der preußische Generalmajor Franz Freiherr von Hilgers, Chef des Braunschweiger Garnisonkommandos und Kommandeur der 40. Infanteriebrigade folgende Erklärung bekannt:[16]
„An die Bewohner des Herzogthums Braunschweig!
Nach den unbeerbten Hinscheiden Seiner Hoheit des Herzogs Wilhelm hat das Deutsche Reich vermöge des Bundesvertrages von 1867 und der Reichsverfassung die Frage zu prüfen, wer dem verstorbenen Herzoge als Reichsgenosse und Landesherr in Braunschweig folgen wird. Die verbündeten Regierungen werden zunächst im Bundesrathe über die Legitimation der Vertretung Braunschweigs in demselben zu entscheiden haben. Bis zur erfolgten Entscheidung wird Seine Majestät der Kaiser auf Grund des Bundesvertrages und der Art. 11 und 17 der Reichsverfassung darüber wachen, dass der rechtmäßigen Erledigung der Thronfolge nicht vorgegriffen, und dass die an der Person des Herzogs haftenden Reservatrechte sichergestellt werden. Zu diesem Zweck und im Hinblick auf Art. 4, Nr. 3 und 4 des Braunschweigischen Gesetzes vom 16. Februar 1879 hat Seine Majestät der Kaiser mir den Oberbefehl über die in dem Herzogthume stehenden Truppen übertragen. Ich habe denselben übernommen und fordere die Bewohner des Herzogthums im Namen Seiner Majestät des Kaisers auf, der Entscheidung des Reichs in dem Vertrauen entgegen zu sehen, dass die Rechte und die Zukunft ihres Landes unter dem Schutz des Reiches und seiner Verfassung stehen. [...]“
Pollmann zufolge wurde das Land Braunschweig durch „verfassungswidrige Geheimbefehle“ unter Kriegsrecht gestellt. Insbesondere sollte der Herzog von Cumberland verhaftet und in Magdeburg interniert werden, falls er seine Ansprüche persönlich im Lande geltend machen sollte.[17]
Am selben Tage gab der Regentschaftsrat seine Konstituierung bekannt; er werde die provisorische Regierung nach Maßgabe des Gesetzes führen und die Landesversammlung unverzüglich einberufen. Auch der hannoversche Prätendent, Ernst August, Herzog von Cumberland, wurde aktiv. Er teilte ebenfalls am 18. Oktober dem Braunschweigischen Staatsministerium mit, die Nachfolge sei auf ihn übergegangen. Das beigefügte Patent möge das Staatsministerium mit dem Staatssiegel versehen, contrasignieren und in landesüblicher Weise veröffentlichen. Das Ministerium wies diese Forderung sowie das Ansinnen, dass Minister von Görtz-Wrisberg Ernst August in seinem Exil in Gmunden aufsuchen möge, mit Schreiben vom 22. Oktober zurück:
„Hierdurch will und kann selbstverständlich aber den eventuellen Ansprüchen Ew. Königlichen Hoheit auf die Thronfolge im Herzogthum in keiner Weise vorgegriffen werden, der Regentschaftsrath glaubt aber deren Geltendmachung bei Kaiser und Reich Eurer Königlichen Hoheit überlassen zu müssen.“
Literatur
- Wilhelm Bringmann: Die braunschweigische Thronfolgefrage. Eine verfassungsgeschichtliche Untersuchung der Rechtmässigkeit des Ausschlusses der jüngeren Linie des Welfenhauses von der Thronfolge in Braunschweig 1884–1913. (= Europäische Hochschulschriften: Reihe 3, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, Band 377.) Zugleich Diss. Universität Hamburg, Verlag Peter Lang, Frankfurt a. M. 1988, ISBN 3-631-40713-0.
- H. von Frankenberg: Das Staats- und Verwaltungsrecht des Herzogtums Braunschweig. (= Bibliothek des Öffentlichen Rechts. Band 4). Max Jänicke, Hannover 1909.
- Wilhelm Hartwieg: Um Braunschweigs Thron. Ein Beitrag zur Geschichte der Thronbesteigung des Herzogs Ernst August im Jahre 1913. ACO Druck- und Verlagsansalt Braunschweig, 1964.
- Bernhard Kiekenap: Karl und Wilhelm. Die Söhne des Schwarzen Herzogs. 3 Bände. Appelhans Verlag, Braunschweig 2000/2004, DNB 959798633.
- Band I. Appelhans Verlag, Braunschweig 2000, ISBN 3-930292-39-4.
- Band II: Literaturübersicht, Quellen und Anmerkungen. Appelhans Verlag, Braunschweig 2000, ISBN 3-930292-40-8.
- Band III: Braunschweig nach 1848, Herzog Wilhelm und die Regenten. Appelhans Verlag, Braunschweig 2004, ISBN 3-937664-07-6.
- Richard Moderhack (Hrsg.): Braunschweigische Landesgeschichte im Überblick. (= Braunschweigischer Geschichtsverein (Hrsg.): Quellen und Forschungen zur braunschweigischen Geschichte. Band 23). 3. Auflage. Waisenhaus-Verlag, Braunschweig, 1979.
- Hans Philippi: Preußen und die braunschweigische Thronfolgefrage 1866–1913. (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen (Bremen und die ehemaligen Länder Hannover, Oldenburg, Braunschweig und Schaumburg-Lippe). Band XXV Niedersachsen und Preußen, Heft 6), August Lax Verlagsbuchhandlung, Hildesheim 1966.
- Klaus Erich Pollmann: Die Braunschweigische Verfassung von 1832. Hrsg. von der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Hannover 1982.
- Klaus Erich Pollmann: Das Herzogtum im Kaiserreich (1871–1914). In: Horst-Rüdiger Jarck, Gerhard Schildt (Hrsg.): Die Braunschweigische Landesgeschichte. Jahrtausendrückblick einer Region. Appelhans VerlagDNB 959798633DNB 959798633DNB 959798633., Braunschweig 2000, ISBN 3-930292-28-9, S. 821–855.
- Heinrich von Treitschke: Die letzte Scholle welfischer Erde. 1873, ISBN 978-3-11-191579-1.
- August Trieps: Das Braunschweigische Regentschaftsgesetz vom 16. Februar 1879 in seiner staatsrechtlichen Bedeutung. Vieweg, Braunschweig 1910.