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Kumarikkandam

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Kumārikkanṭam, 'Kontinent [angrenzend an das indische Südkap,] (Kanya-)Kumāri', ist ein sagenhafter, versunkener Inselkontinent (bzw. ein Land, Kumāri Naṭu), der (das) südlich von Kanyakumāri gelegen haben soll.

Nach einer modernen, vermutlich nationalistisch-nativistisch motivierten Neuinterpretation der alten tamilischen Überlieferung stammen die Draviden ursprünglich von Kumārikkanṭam, einer kontinentalen Landmasse südlich von Indien im indischen Ozean, die auf vielen Darstellungen von der Südspitze Indiens (unter Einschluss Sri Lankas) bis Madagaskar im Westen und Australien im Osten reicht. In Epen wie dem Cilappatikāram oder dem Manimêkalai wird eine versunkene Stadt namens Pukār erwähnt, während die Cankams, Dichterkollegien, von denen erstmals in der frühmittelalterlichen Kommentarliteratur (Irayanār Akapporul, nach K. Zvelebil ca. 650-750 n. Chr.) berichtet wird, nach diesem neuzeitlichen Mythologem ihren Sitz auf Kumārikkanṭam gehabt haben sollen. Möglicherweise stellen diese wenigen und eher interpretationsoffenen Stellen der antiken und frühmittelalterlichen tamilischen Literatur literarische Reflexe volkstümlicher Fluterzählungen dar, wie sie sich auch bei anderen Völkern finden. Anlass zu solchen Erzählungen gibt es in der südindischen Geschichte sicher genug: während die Küste Südwestindiens (z. B. Kerala) über die Jahrzehntausende langsam aus dem Meer emporsteigt, sinkt die gegenüberliegende Ostküste (z. B. Tamil Nadu) in gleichem Maße ab, was offenbar auch in historischer Zeit dazu geführt hat, dass Siedlungen an der Küste aufgegeben werden mussten: so wurden etwa in Mahabalipuram (bei Chennai) im Jahr 2004 die Ruinen einer versunkenen Hafenstadt im Meer gefunden.

Nach dieser modernen Lemuria-Kumārikkanṭam-Legende, die schon im frühen 20. Jh. eine phantastische geographische-geschichtliche Ausschmückung erfahren hat, soll es auf dem Kumāri-Kontinent Berge, Wälder, sogar ganze Königreiche gegeben haben, sowie zwei große Flüsse: den Paḫruliyāru und den Kumāriyāru. Die Annahme, dass nicht (wie heute angenommen) Afrika, sondern dieser Kumāri-Kontinent die Wiege der Menschheit und deren Ursprache folglich das Tamilische sein müsse, scheint bei einer Vielzahl tamilischer Akademiker bzw. Intellektueller auch heute noch sehr verbreitet zu sein. Diese Vorstellungen gewinnen in der tamilischen wissenschaftlichen Literatur in etwa in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. an Gewicht, lassen sich in Ansätzen aber auch schon in den Jahren davor nachweisen. Ein zentraler Multiplikator solcher Theorien war der mit der v. a. ab 1916 aktiven "Nur-Tamil-Bewegung" (tanittamil-iyakkam; auch "pure-Tamil-movement") assoziierte autodidaktische Sprachforscher Ñā. Têvanêyan (auch "Têvanêya Pāvanār"/"Devaneya Pavanar", 1902-1981): z. B. Entstehung der Menschheit aus einem homo dravida; alle Sprachen der Erde "nur korrumpierte Dialekte des Tamilischen". Anhänger dieses Geschichtsbildes, das eine späte ideologische Reaktion auf die Verletzung tamilisch-nationaler Befindlichkeiten während eines innerindischen "arisch-dravidischen" Gelehrtenstreits im 19. und frühen 20. Jh. darstellen dürfte, erklären das Verschwinden Kumārikkanṭams mit der Möglichkeit, dass es über einen längeren Zeitraum hinweg immer wieder von Tsunamis heimgesucht worden und so letztendlich im Meer "verschwunden" sei. Naturwissenschaftliche Beweise für die Existenz einer solchen geologischen Formation sowie für die Möglichkeit derartiger kataklystischer Mechanismen gibt es jedoch nicht - ganz im Gegenteil:

Vorstellungen versinkender und wiederauftauchender Kontinente würden, geologisch gesehen, eine vertikale Bewegungstheorie der Kontinentalentstehung voraussetzen. Der heutige wissenschaftliche Konsens geht aber von einer horizontalen Bewegungstheorie der Kontinentalentstehung aus (Alfred Wegeners Theorie der Kontinentaldrift). Überdies bestehen Kontinentalmassen aus leichterem SiAl-(Silizium/Aluminium-)Gestein, das auf dem schwereren SiMg-(Silizium/Magnesium-)Gestein der ozeanischen Böden buchstäblich schwimmt. Nach dem Wissensstand der modernen Geologie ist das Versinken ganzer Kontinente angesichts des isostatischen Gleichgewichts der auf dem thermoplastischen Erdmantel treibenden Kontinentalplatten also eine physikalische Unmöglichkeit.

In modernen tamilischen Werken (überwiegend aus dem Genre der Sachbuchliteratur) wird das Lemuria Philip Sclaters (tamilisiert: "Ilemūriyā") gerne mit Kumārikkanṭam identifiziert. Sehr wahrscheinlich war es sogar Sclaters Theorie (vermittelt durch theosophisches oder Theosophie-nahes Schriftgut, bes. W. Scott-Elliot: The Lost Lemuria, London 1904), die tamilische Autoren dazu inspirierte, die mittelalterliche Cankamlegende zu einer modernen Mythe um einen versunkenen Kontinent auszuschmücken und weiterzubilden. Zu vermuten ist, dass diese Entwicklung bald nach 1883, also nach der Wiederentdeckung der ältesten tamilischen Literatur ("Cankam"-Korpus) in diesem Jahr durch den Gelehrten U. Vê. Cāminataiyar, begann.


Siehe auch: Liste mythologischer Orte


Einer von vielen kartographischen Entwürfen; Madagaskar liegt hier zu weit östlich.
Einer von vielen kartographischen Entwürfen; Madagaskar liegt hier zu weit östlich.