Idioma de Signos Nicaragüense
Idioma de Signos Nicaragüense | ||
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Gesprochen in |
Nicaragua | |
Sprecher | ca. 3 000 | |
Linguistische Klassifikation |
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Offizieller Status | ||
Amtssprache in | - | |
Sprachcodes | ||
ISO 639-1 |
– | |
ISO 639-2 | (B) sgn | (T) sgn |
Die Nicaraguanische Gebärdensprache, Idioma de Signos Nicaragüense (ISN) ist eine Gebärdensprache, welche in Nicaragua verwendet wird. Dort wird sie Idioma de Señas de Nicaragua genannt. Sie wurde dort Ende der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre spontan in einigen Schulen durch gehörlose Schüler entwickelt.
Diese Sprache ist für Linguisten von besonderem Interesse, da sie die einzigartige Möglichkeit bietet, die Entstehung einer neuen Sprache zu untersuchen.
Geschichte
Vor den 1970er Jahren gab es keine Gemeinschaft Gehörloser in Nicaragua. Sie lebten größtenteils voneinander isoliert und nutzten einfache Gesten und Gebärden, um sich mit ihren Familien und Freunden zu verständigen.
Die Bedingungen die für die Herausbildung einer Sprache notwendig sind, entstanden 1977, als ein Sonderschulzentrum in San Judas, einem Stadtteil von Managua, ein Ausbildungsprogramm initiierte, an dem zunächst 50 junge Gehörlose teilnahmen. Bis 1979, als die Sandinistas die Macht in Nicaragua übernahmen, wuchs die Anzahl der Schüler auf 100 an. Im Jahr 1980 wurde eine weitere Gehörlosenschule, die Villa Libertad, in Managua eröffnet. Es handelte sich dabei um eine Berufsschule. Bis 1983 wuchs die Schülerzahl der beiden Schulen auf insgesamt 400 an.
Ursprünglich war die Verständigung auf gesprochenes Spanisch und Lippenlesen sowie die Verwendung eines Fingeralphabets ausgerichtet. Diese Methode hatte allerdings wenig Erfolg, da die meisten Schüler es nicht begriffen, Wörter zu bilden. Ungeachtet dessen, daß die Schüler mit ihren Lehrern nur schlecht kommunizieren konnten, waren die Pausenhöfe, die Gänge in den Schulen und der Bustransport zur sowie von der Schule, ein guter Nährboden für die Entwicklung einer eigenständigen Verständigung untereinander. Zunächst bildete sich durch Kombination von Gesten und Gebärden eine Pidgin-Sprache heraus, welche sich schnell zu einer Kreolsprache weiterentwickelte. Die erste Entwicklungsstufe in Form der Pidgin-Sprache wurde Lenguaje de Signos Nicaragüense (LSN) und wird gegenwärtig immer noch von denjenigen verwandt, welche seinerzeit bereits Teenager waren, als sie eine der Schulen besuchten.
Das Personal der Schulen, denen die Herausbildung dieser neuen Gebärdensprache nicht bewusst war, sahen in dem Mienenspiel der Schüler das Versagen Spanisch zu lernen. Da sie nicht zu verstehen in der Lage waren, was sich die Schüler untereinander sagten, baten sie um Hilfe von Außen. Im Juni 1986 kontaktierte daher das Bildungsministerium Nicaraguas die US-Amerikanerin Judy Kegl, die eine Linguistik - Spezialistin für die American Sign Language (ASL) ist. Als sie und andere Forscher die Sprache zu analysieren begannen, fanden sie heraus, daß die jüngeren Schüler die pidginartige Sprache der älteren Schüler auf ein komplexeres Niveau gebracht hatten, auf dem es definierte Verben und eine feste grammatische Struktur gab. Diese komplexe Form der Gebärdensprache wird heute Idioma de Signos Nicaragüense (ISN) genannt.
In jüngster Vergangenheit wurde Artikel über diese Sprache in Science und anderen Publikationen veröffentlicht, welche entsprechendes Interesse für sie weckten.
Linguistik
Die ISN steht für die Herausbildung einer Sprache ohne das vorherige Vorhandensein einer Gemeinschaft erwachsener Muttersprachlern. Dies wird als ungewöhnlicher Vorgang angesehen, da sich Kreolsprachen normalerweise aus einer Pidgin-Sprache entwickeln, die sich aus der Kombination zweier Sprachen ergeben hat, welche wiederum von einer Vielzahl von Muttersprachlern gesprochen werden. Die ISN wurde hingegen von einer Gruppe junger Menschen entwickelt, die vorher lediglich nicht fest definierte Gesten und Gebärden verwandten.
Einige Linguisten betrachten die Herausbildung der ISN als Beweis für ein spezielles Sprachentwicklungszentrum im menschlichen Gehirn. "Der nicaraguanische Fall ist absolut einzigartig in der Geschichte", behauptet Steven Pinker, Autor des Buches The Language Instinct. "Wir konnten beobachten wie Kinder – nicht Erwachsene – eine Sprache generieren, und wir waren in der Lage dies mit großer wissenschaftlichen Detailgenauigkeit aufzuzeichnen. Es ist zudem das erste und einzige Mal, daß wir beobachten konnten, wie eine Sprache aus dem Nichts heraus entwickelt wurde."
Seit 1990 haben viele weitere Forscher damit begonnen die Entwicklung dieser einzigartigen Sprache mitsamt seiner Sprachgemeinschaft zu untersuchen und darüber zu berichten. Unter ihnen befinden sich Ann und Richard Senghas, Marie Coppola, Laura Polich sowie andere. Während jeder von ihnen eine eigene Interpretation der Begebenheiten bei der Entwicklung der ISN haben, so stimmen sie darüber ein, daß dieses Phänomen bislang eine der reichhaltigsten Quellen von Daten über die Herausbildung einer Sprache ist.
Kontroversen
Wann wurde sie zur Sprache?
Die Wissenschaft ist sich uneins in der Einschätzung des Zeitpunktes ab dem die ISN als vollständig herausgebildete Sprache zu bezeichnen war. Marie Coppola argumentiert hierbei, daß die vormals voneinander isolierten Systeme der Gebärdenkommunikation bereits Bestandteile enthielten, die man als Sprache bezeichnen kann.
Judy Kegl meint hingegen, daß das Zwischenstadium in dem die Gehörlosen zunächst zusammenkamen und sich mit Gesten verständigten wäre ausreichend gewesen, sie davon zu überzeugen, dies und ihre Beiträge hierzu seien eine zu erlernende Sprache. Die erste Sprechergeneration habe somit eine Sprache erlernt, die so reichhaltig wie jede andere Sprache war und daß die folgenden Veränderungen den Prozess zu erwartender historischer Veränderungen darstellen.
Ann Senghas denkt, daß die weitere Komplexität der ISN nach deren Entstehung durch die Beiträge junger Sprachlernender entstand.
Sprachimperialismus
Von Anfang ihrer Untersuchungen in Nicaragua im Jahre 1986 an, bis zu dem Zeitpunkt an dem die ISN gut etabliert war, vermied es Judy Kegl Elemente aus anderen Gebärdensprachen, insbesondere der American Sign Language (ASL), einzuführen, die sie von vorher schon kannte.
Über Jahrzehnte hinweg trat international ein Sprachimperialismus auf, bei dem Einzelne die ASL in Gemeinschaften Gehörloser andere Länder einführten, was oftmals zur Verdrängung der vorher existierenden Gehörlosensprache führte.
Judy Kegls Vorhaben war es die ISN zu untersuchen und zu dokumentieren, denn dieser etwas Fremdes aufzudrängen oder sie zu verändern. Sie mischte sich zwar nicht ein, sofern gehörlose Nicaraguaner mit fremden Gehörlosensprachen in Kontakt kamen, doch eröffnete sie selbst ihnen derartige Möglichkeiten nicht. Sie konnte dennoch Kontakte zu anderen Gehörlosensprachen sowie deren Beeinflussungen der ISN registrieren, die bereits ab den 1990er Jahren stattfanden, so wie es auch bei anderen Sprachen der Fall ist.
Einige Experten stören sich an der, wie sie es ausdrücken, "Ethik der Isolierung nicaraguanischer Kinder". Felicia Ackerman, eine Professorin für Philosophie schrieb hierzu einen Brief an The Times, um ihre Einwände zu äußern. Bezüglich Kegls Angst "eine einheimische Sprache zu vernichten", schreibt sie: "Offensichtlich würde sie eher die Lebenschancen dieser Kinder zunichte machen, indem sie verhindert, daß sie mit der Außenwelt kommunizieren."
Auf der anderen Seite haben Judy Kegl und ihr Mann, die auch für die Nicaraguan Sign Language Projects, Inc. tätig sind, nicht nur mit gehörlosen Nicaraguanern gearbeitet, um deren eigene Sprache zu dokumentieren sowie diese zu pflegen. Diese Gesellschaft hat auch Gelder ausgegeben, um an der Atlantikküste Nicaraguas eine Gehörlosenschule einzurichten, die ausschließlich gehörlose Lehrer beschäftigt. Zudem wurden diese Lehrer dabei unterstützt weitere Lehrer an anderen Gehörlosenschulen in Nicaragua auszubilden. Auch hatten etliche gehörlose Studenten und Lehrer so die Chance in die USA zu gehen, um dort eine noch weitergehendere Ausbildung zu absolvieren. Diese Gesellschaft ermöglichte es außerdem, daß gehörlose Nicaraguaner Konferenzen, wie beispielsweise die The Theoretical Issues in Linguistic Research Conference in Amsterdam und die Deaf Way IV in Washington (D.C.) besuchen konnten.
Beweis für angeborene Sprachkompetenz
William Stokoe, vielen bekannt als der Vater der die ASL betreffenden Linguistik, stimmt nicht damit überein, das Auftreten der ISN stelle einen Beweis für ein spezielles Sprachentwicklungszentrum im menschlichen Gehirn dar. Er hält ferner Behauptungen für fraglich, die ISN sei gänzlich ohne äußeren Einfluss durch das Spanische, bzw. die ASL entstanden. Derartige Behauptungen gründeten eher in Spekulationen, denn auf Beweisen. Die bislang gesammelten Beweise deuten vielmehr auf das Fehlen von Zugangsmöglichkeiten zum Spanischen und der ASL im frühen Stadium der Sprachentwicklung hin. Er meinte auch, daß die ISN nach deren vollständigen Herausbildung wie es auch bei allen Sprachen der Fall ist, auf die anderen Sprachen ihres Umfeldes traf und mit ihnen interagierte.
Schriftlichkeit
Richard Senghas nutzte 1997 die Beschreibungen "nicht sprechbar und nicht schreibbar" im Titel seiner Dissertation, um die allgemein übliche irrtümliche Annahme aufzuzeigen, Sprachen ohne Schriftlichkeit seien keine vollwertigen Sprachen. Aus diesem Grund wird den Gebärdensprachen oftmals die Anerkennung versagt, da sie weder gesprochen noch geschrieben werden. Senghas hat dennoch nie behauptet die ISN seien nicht schreibbar, wie dies oft von Menschen vermutet wird, die sich vorher nicht mit Gebärdensprachen auseinandergesetzt haben. Seit 1996 wird die ISN von Nicaraguanern sowohl handschriftlich, wie auch auf Computern, mit Hilfe von SignWriting geschrieben. Aktuell ist die ISN die Gebärdensprache mit dem größten Umfang an schriftlich verfügbaren Texten.