Sozialisation
Die Sozialisation (aus dem Lateinischen) ist ein sozialwissenschaftlicher Begriff und bezeichnet die Entwicklung der Persönlichkeit aufgrund ihrer Interaktion mit einer spezifischen, materiellen und sozialen Umwelt. Durch sie wird ein Individuum zu einem vollwertigen Teil der Gesellschaft.
Wenn die Sozialisation erfolgreich verläuft, verinnerlicht das Individuum die sozialen Normen, Werte, Repräsentationen, aber auch z.B. die sozialen Rollen seiner gesellschaftlichen und kulturellen Umgebung. Der umgedrehte Prozess, in dem ein sich entfremdeter Mensch zu sich findet, heißt Individuation.
Als "erfolgreiche Sozialisation" sehen wir ein hohes Maß an Symmetrie von objektiver und subjektiver Wirklichkeit (und natürlich Identität) an. Umgekehrt muß demnach "erfolglose Sozialisation" als Asymmetrie zwischen objektiver und subjektiver Wirklichkeit verstanden werden. (Berger / Luckmann 1980, S. 175)
Sozialisationsprozess
Es wird vor allem die primäre und die sekundäre Sozialisation unterschieden. (Vgl. Berger und Luckmann 1980 S. 139-204)
Sozialisation ist ein Prozess, der nie abgeschlossen ist. Im Zentrum steht die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit. Zur Persönlichkeit gehört einerseits die Individualität, die den Einzelnen von allen Anderen unterscheidet, andererseits der Subjektivität, die die Mitglieder einer Gesellschaft oder Gemeinschaft miteinander teilen (Werte, Normen, soziale Rollen, usw., siehe auch: Enkulturation)
Primäre Sozialisation
Die primäre Sozialisation findet in der Familie statt und wird mit der Herausbildung einer individuellen Identität des Individuums abgeschlossen. Die in dieser Phase verinnerlichten Normen, Werte und Verhaltensweisen gelten als stabil, können sich aber in einer sekundären Sozialisation noch ändern (z.B. bei Kontakt mit anderen Wertegemeinschaften).
Sekundäre Sozialisation
Die sekundäre Sozialisation bereitet das Individuum auf seine Rolle in der Gesellschaft vor und findet hauptsächlich in der Familie, Schule oder Altersgruppe statt. Diese gilt ab dem dritten Lebensjahr.
Tertiäre Sozialisation
Die tertiäre Sozialisation findet im Erwachsenenalter statt und bezeichnet die Anpassungen, die das Individuum in Interaktion mit seiner sozialen Umwelt ständig vornimmt. Da Sozialisation als ein lebenslanger Prozess des Lernens und der Anpassung verstanden werden muss, kann schließlich auch im beruflichen Bereich (berufliche Sozialisation) und darüber hinaus von einer tertiären Sozialisation gesprochen werden.
Störungen der Sozialisation
Manche Bedingungen können die harmonische Entwicklung eines Kindes bzw. die Entwicklung der Persönlichkeit stören. In großen Teilen der Welt leiden Kinder unter Hunger und Armut, so dass ein geregelter Sozialisationsprozess nicht möglich ist. Weiterhin wird die Sozialisation stark beeinflusst von der Stellung innerhalb der Sozialstruktur, in der die Eltern leben. Weitere Beeinträchtigungsfaktoren für die Sozialisation sind häufig Geschlecht und Behinderung, wie zum Beispiel Autismus oder cerebrale Bewegungsstörungen. Hier kommt es ebenfalls zur Beeinflussung bzw. Verhinderung von Sozialisation, da es für diese Menschengruppe schwer ist Kontakt zu außenstehenden Personen aufzubauen und so soziale Verbindungen herzustellen. Aber auch Verwöhnung stört und hemmt die Entwicklung eines Kindes.
Weiterhin können Entwicklungsbeeinträchtigungen auftreten, wenn ein Kind in ein Heim eingewiesen wird, wenn die Eltern das Kind ungenügend betreuen oder wenn es misshandelt oder in der Schule gehänselt wird. Ebenfalls können ansteckende Krankheiten und der damit verbundene manchmal langfristig fehlende Kontakt zu engen Bezugspersonen durch Isolation im Krankenhaus oder zu Hause Gründe für Störungen sein.
Auch der Versuch des Aufprägens widersprüchlicher Normen stört die Sozialisation (z. B. einerseits Angehalten-werden zur Gewaltfreiheit und Anpassung; andererseits im Rahmen der Anpassung Beobachtung sadistischer Vorführung von Gewaltfilmen; vgl. Anomie).
Humanisation
Der Sozialanthropologe Dieter Claessens stellt in "Familie und Wertsystem" heraus, dass eine 'gelingende' "Sozialisation" einer voraus gehenden gelungenen Humanisation bedürfe, in der das Neugeborene im ersten Lebensjahr ("post-uterinen Frühjahr") überhaupt ein Urvertrauen gewönne (oder eben nicht gewönne), soziale Lehren für sich zu akzeptieren (siehe auch: Geburt).
Sozialisation und Erziehung
Sozialisation geschieht überwiegend ungeplant und unbeabsichtigt. Es handelt sich in erster Linie um die unbewusste Inkorporation der hegemonialen Werte und Normen einer Gesellschaft. Hinzu kommt Erziehung, die nach Siegfried Bernfeld als bewusste „gesellschaftliche Reaktion auf die Entwicklungstatsache“ verstanden werden kann, als Reaktion darauf also, dass Kinder die Fähigkeiten zu einem Teil erst erwerben müssen, durch die sie zu kompetenten Gesellschaftsmitgliedern werden. Erziehung lässt sich vor diesem Hintergrund in Anschluss an Émile Durkheim (einer der ersten, der den Begriff Sozialisation als Wissenschaftsbegriff eingeführt hat) soziologisch als „socialisation méthodique“, d.h. als geplante und absichtsvolle Sozialisation, bestimmen. Das heißt: Erziehung ist diejenige Teilmenge der Sozialisationsvorgänge, für die das Ziel grundlegend ist, Veränderungen von Personen, insbesondere von Kindern und Jugendlichen, zu bewirken.
Im Zuge der 68er-Bewegung entbrannte eine heftige Debatte darüber, wie groß der Anteil der Sozialisation an der Entwicklung des Menschen ist. Zur Zeit (2005) besteht die Kontroverse vor allem darin, zu bestimmen, welchen quantitativen und qualitativen Anteil die Sozialisation auf dem Hintergrund der jeweiligen genetischen Anlagen hat.
Sozialisation beim Hund
Auch bei Hunden wird der Begriff Sozialisation verwendet, um die Prägung auf Umweltreize während der ersten Lebensmonate zu beschreiben. Nur gut sozialisierte Hunde können später gut sozialverträgliche Hunde werden. Die folgenden Punkte sollte jeder Hundehalter mit seinem Welpen beachten:
- Sozialisation mit Artgenossen (Erlernen zwischenhundlicher Kommunikation)
- Sozialisation mit andersartigen Tieren (Katzen, Meerschweinchen, Vögel, Pferde, usw.)
- Sozialisation mit fremden und für den Hund merkwürdige Menschen wie Behinderte, Dunkelhäutige, Bärtige, usw.
- Gewöhnung an Umweltreize wie Martinshorn, Fahrradklingeln, Flugzeuge, Knallgeräusche (Silvesterknaller).
Die Entwicklung jedes Hundes wird überwiegend von seiner Sozialisation und Erziehung bestimmt. Unzureichend sozialisierte Hunde haben Schwierigkeiten, sich in ihrer Umwelt zurechtzufinden. Sie neigen zu ängstlichem oder aggressivem Verhalten und anderen Verhaltensstörungen. Ein sorgfältig sozialisierter Hund hingegen hat gelernt, friedfertig und aufgeschlossen mit fremden Personen, Kindern und anderen Haustieren umzugehen. Die wichtigste Sozialisierungsphase des Hundes erstreckt sich in etwa von der zweiten bis zur 15. Lebenswoche. Viele Hundevereine bieten entsprechende Kurse an, die "Welpenspielstunden" oder "Prägungsspieltage" genannt werden.
Siehe auch
Literatur
- Peter L. Berger, Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, 1980
- Dieter Claessens: Familie und Wertsystem. Eine Studie zur zweiten sozio-kulturellen Geburt des Menschen, 4. Aufl. 1978
- Klaus Hurrelmann: Einführung in die Sozialisationstheorie. Beltz Verlag, Weinheim und Basel; 8. Aufl., 2002
- Klaus-Jürgen Tillmann: Sozialisationstheorien. Eine Einführung in den Zusammenhang von Gesellschaft, Institution und Subjektwerdung. Rowohlts Enzyklopädie. Reinbek bei Hamburg, 13. Auflage 2004. ISBN 3-499-55476-3