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Norbert Elias

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Norbert Elias (* 22. Juni 1897 in Breslau; † 1. August 1990 in Amsterdam) war ein jüdischer Soziologe, Philosoph und Dichter deutscher Herkunft, der in der Emigration die britische Staatsbürgerschaft annahm.

Norbert Elias gilt heute als einer der einflussreichsten Soziologen des 20. Jahrhunderts. Obwohl er lange nicht beachtet wurde und erst sehr spät (1962-1964) eine Professur an der Legon University in Accra/Ghana bekam, wurde sein Werk während der 1970er Jahre zuerst in den Niederlanden, später aber auch in Deutschland und in anderen Ländern wiederentdeckt.

Seine bedeutendste Schrift ist "Über den Prozeß der Zivilisation". Dieses Werk, das Elias in England verfasste, wohin er 1933 emigriert war, und wo er bis Anfang der 1960er Jahre lebte, wurde 1939 veröffentlicht. Sein Gesamtwerk wird inzwischen weltweit von Soziologen wie von Historikern gleichermaßen rezipiert. Sein neu entwickeltes soziologisches Menschenbild führte dazu, dass Elias vom Außenseiter zu einer Hauptfigur der Sozialwissenschaften wurde.

Leben

Von 1903 bis 1915 besuchte Norbert Elias das Johannes-Gymnasium in Breslau. Er schloss die Schule mit dem Abitur ab und beteiligte sich im selben Jahr als Kriegsfreiwilliger am Ersten Weltkrieg, zunächst an die Ost-, später an der Westfront. Ab 1917 war er nicht mehr felddienstfähig und wurde Sanitätssoldat in Breslau.

1917 beginnt Elias ein Studium der Philosophie, der Psychologie und der Medizin, letzteres nur bis zum Physikum 1919, an der Universität Breslau. Er unterbrach sein Studium durch Studienaufenthalte an der Universität Heidelberg im Sommersemester 1919 und der Universität Freiburg im Breisgau im Sommersemester 1920. Während seiner gesamten Studienzeit, bis 1925, war Elias engagiertes Mitglied in der zionistischen Jugendbewegung "Blau-Weiß", zu dessen intellektuell tonangebenden Köpfen er seit 1920 gehörte. Elias war auch Mitglied in der zionistischen Studentenverbindung "Kartell Jüdischer Verbindungen" (K.J.V.). Bereits aus jenen Tagen kannte er viele gleichaltrige deutsch-jüdische Intellektuelle wie Erich Fromm, Leo Strauss oder Leo Löwenthal, von denen einige bereits Anfang der Zwanziger Jahre zu Rivalen (z.B. Fromm) oder Verbündeten (z.B. Strauss) in den weltanschaulichen und politischen Debatten innerhalb der zionistischen Bewegung geworden waren.

Ab 1922 arbeitet Elias in einer Fabrik zur Herstellung von Kleineisenteilen als Leiter der Exportabteilung, um dadurch sein Studium zu finanzieren. 1924 erfolgte seine Promotion zum Dr. phil. (Philosophie) an der Universität Breslau. Titel seiner Dissertation war Idee und Individuum. Sein Doktorvater war Prof. Richard Hönigswald (1875 - 1947).

Im Jahr 1924 zog Norbert Elias nach Heidelberg und setzte dort sein Studium der Soziologie fort. Von Alfred Weber (1868 - 1958), dem Bruder von Max Weber , wurde er für eine Habilitation akzeptiert. Die Arbeit über Die Bedeutung der Florentiner Gesellschaft und Kultur für die Entstehung der Wissenschaft galt der Entstehung der modernen Naturwissenschaften.

1930 brach Norbert Elias sein Habilitationsprojekt ab und folgte Karl Mannheim (1893 - 1947) nach Frankfurt am Main. Er arbeitete dort als dessen Assistent an der Universität Frankfurt am Main und begann seine Habilitation mit der Schrift Der höfische Mensch. Die Habilitationsschrift war bereits eingereicht und Karl Mannheim als Gutachter bestimmt.

Im März 1933 wurde - bereit zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft - das Institut für Soziologie geschlossen und damit das Habilitationsverfahren abgebrochen. Die Schrift erschien erst 1969 in veränderter Form unter dem Titel Die höfische Gesellschaft.

Im Jahr 1935 ging Norbert Elias ins Exil, zunächst nach Frankreich, später nach Großbritannien. Später nahm er die britische Staatsbürgerschaft an.

Von 1954 bis 1962 besetzte Elias eine Dozentenstelle am neugegründeten Department of Sociology der University of Leicester (Schüler waren u.a. Martin Albrow und Anthony Giddens).

Ab 1962 war Norbert Elias Professor für Soziologie an der University of Ghana in Accra. Seit 1975 hatte er seinen festen Wohnsitz in Amsterdam und Gastprofessuren in verschiedenen Städten Deutschlands. Erst jetzt wurde Elias' Arbeit in Deutschland wieder "entdeckt" und allgemein anerkannt.

1977 erhielt Elias den zum ersten Mal vergebenen Theodor-W.-Adorno-Preis.

Von 1978 bis 1984 arbeitete Norbert Elias u.a. an der Universität Bielefeld und lebte die meiste Zeit am ZiF.

Am 1. August 1990 starb Norbert Elias in Amsterdam.

Werk

Seine "Prozesssoziologie" bzw. Figurationssoziologie verfolgt in allen seinen Werken einen zentralen Ansatz: Um soziale Prozesse in wirklichkeitsgerechten Theorien abbilden zu können, müssen im Mittelpunkt jeder soziologischen Forschung die Menschen und die dynamischen gesellschaftlichen Verflechtungen stehen, die sie miteinander bilden:

„Die »Umstände«, die sich ändern, sind nichts, was gleichsam von »außen« an den Menschen herankommt; die »Umstände«, die sich ändern, sind die Beziehungen zwischen den Menschen selbst.“ (Elias in: Über den Prozess der Zivilisation, 2. Bd.).

Unter Figuration versteht Elias eine Verbindung zwischen Individuum und Gesellschaft, d.h. eine wechselseitige Interdependenz auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft, die in der Regel hierarchische Prozesse abbildet. Die selben Menschen können verschiedene Figurationen bilden. Beispielsweise erläutert er anhand der wechselseitigen Abhängigkeit zwischen Etablierten und Außenseitern eine Figuration, die noch weiter ausdifferenziert werden kann in das Verhältnis zwischen In- und Ausländern.

Norbert Elias bricht mit dieser Theorie mit der langen Denktradition, in der »die Gesellschaft« dem »als selbständig gedachten Individuum« gegenübergestellt wurde. Elias' Gedanken über das Verhältnis von »Gesellschaft« und »Individuum«, die sich in allen seinen Werken finden, führen in letzter Konsequenz zu einer Neudefinition von Begriffen wie »Identität« und »Selbstwert«, und zu einer in der Geschichte der Soziologie relativ neuartigen Sichtweise auf die Menschen als Akteure mit einem gewissen Freiheitsspielraum im Rahmen der Figurationen, die sie in sozialen Prozessen miteinander bilden. Zudem überwindet Elias damit auch die traditionelle wissenschaftliche Trennung zwischen Psychologie, Soziologie und Geschichtswissenschaft. Insbesondere der die Geschichtswissenschaft hat Elias in seinen Untersuchungen, vor allem in Über den Prozess der Zivilisation, wertvolle neue Perspektiven eröffnet: Die Entwicklung vom Feudalismus zur Territorialisierung in Deutschland, die Herausbildung des Königsmechanismus, die Erforschung von Mentalitäten, die die französische Historikerschule um Georges Duby und die Zeitschrift Annales ausgebaut hat, und viele weitere völlig neue und hellsichtige Erkenntnisse sind Norbert Elias zu verdanken.

Sein interdisziplinärer Wissenschaftsansatz der »Menschenwissenschaften« ist auch heute noch aktuell und sehr produktiv.

Ausgewählte Schriften

Sekundärliteratur

  • Jörg Hackeschmidt: "The Torch Bearer: Norbert Elias as a Young Zionist", in: Leo Baeck Institute Year Book XLIX (2004), p. 59 - 74, Berghahn Books, Oxford, ISBN 1-84545-070-1
  • Michael Hinz: "Der Zivilisationsprozess: Mythos oder Realität? : Wissenschaftssoziologische Untersuchungen zur Elias-Duerr-Kontroverse". Opladen : Leske + Budrich, 2002. 430 S. ISBN 3-8100-3398-7
  • Annette Treibel (Hg.): "Elias Zivilisationstheorie in der Bilanz : Beiträge zum 100. Geburtstag von Norbert Elias (1897 - 1990)". Opladen : Leske und Budrich, 2000. 300 S. ISBN 3-8100-2038-9
  • Georg W. Oesterdiekhoff: "Zivilisation und Strukturgenese : Norbert Elias und Jean Piaget im Vergleich". Orig.-Ausg. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000. 406 S. ISBN 3-518-29061-4
  • Eberhard Firnhaber, Martin Löning (Hg.): "Norbert Elias - Bielefelder Begegnungen". Mit Beiträgen von Günter Albrecht, Artur Bogner, Dragica Evers, Peter Reinhart Gleichmann, Richard Grathoff, Wilhelm Hopf, Franz-Xaver Kaufmann, Hermann Korte, Reinhart Koselleck, Petra Kunze, Friedbert Penke, Theodor Schulze, Gerhard Sprenger, Wilhelm Voßkamp, Peter Weingart. (Reihe "Begegnungen mit" Bd. 1) 2003, 136 S., ISBN 3-8258-7298-X
  • Hermann Korte: "Über Norbert Elias. Das Werden eines Menschenwissenschaftlers", Leske + Budrich Verlag, 1997. ISBN 3-8100-1828-7
  • Michael Schröter: "Erfahrungen mit Norbert Elias : gesammelte Aufsätze". Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1997. 340 S. ISBN 3-518-28908-X
  • Nicola Ebers: "Individualisierung : Georg Simmel - Norbert Elias - Ulrich Beck". Königshausen & Neumann, Würzburg 1995. ISBN 3-8260-1029-9 (Hamburg, Univ., Dissertation 1994; Schriftenreihe: Epistemata Reihe Philosophie 169)
  • Ralf Baumgart/ Volker Eichener: Norbert Elias zur Einführung, Hamburg: Junius, 1997, 2. Auflage, ISBN 3885069504

Artur Bogner: Zivilisation und Rationalisierung: Die Zivilisationstheorien Max Webers, Norbert Elias' und der Frankfurter Schule im Vergleich, Opladen: Westdeutscher Verlag. ISBN 3-531-11898-6

Siehe auch

Wissenssoziologie, Zivilisationstheorie, Hans Peter Duerr