Phaedrus
Phaedrus, eingedeutscht Phaeder (* um 15 v. Chr. † um 50 n. Chr.) war ein römischer Fabeldichter in der Regierungszeit der Kaiser Augustus, Tiberius, Caligula und Claudius.
Nach seinen eigenen Angaben (Prolog zu Buch iii.), die aber nicht zu wörtlich zu nehmen sind, wurde auf dem Berg Pieros geboren, war also von Geburt Mazedonier, scheint aber in frühen Jahren nach Italien gekommen zu sein, da er berichtet, als Schüler die Verse des Ennius gelesen zu haben. Der Überschrift zu seinem Hauptwerk folgend, war er ein von Augustus freigelassener Sklave. Er zog sich den Zorn des Sejanus, Tiberius’ mächtigem Minister, wegen einiger angeblicher Anspielungen in seinen Fabeln zu, wurde vor Gericht gebracht und verurteilt – dies erfahren wir ebenfalls aus dem Prolog zu Buch iii., das Eutychus gewidmet ist, dem berühmten Wagenlenker und Günstling des Caligula.
Das vierte Buch ist Particulo gewidmet, der literarisch dilettiert zu haben scheint. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung ist unbekannt, aber Seneca, der zwischen 41 und 43 schrieb (Consol. ad Polyb. 27), kennt nichts von Phaedrus, und es ist wahrscheinlich, dass er in dieser Zeit nichts veröffentlich hat.
Seine Arbeit weist wenig bis gar keine Originalität auf, er bringt lediglich – unter dem Namen Äsop – die zu seiner Zeit aktuellen Fabeln in jambische Trimeter, zwischen die er Anekdoten aus dem täglichen Leben, Geschichte und Mythologie einstreut. Er erzählt seine Fabel und zieht die Moral mit geschäftsmäßiger Direktheit und Schlichtheit, seine Sprache ist knapp und klar, aber durch und durch prosaisch, obwohl sie gelegentlich eine Erhabenheit erreicht, die an Beredsamkeit grenzt. Sein Latein ist korrekt, und, ausgenommen bei einem exzessiven und eigentümlichen Gebrauch abstrakter Begriffe, zeigt kaum etwas, was in der Zeit des Augustus nicht auch von jedem anderen hätte geschrieben werden können. Vom literarischen Standpunkt aus gesehen, ist Phaedrus geringwertiger als Babrios und seinem eigenen Imitator Jean de La Fontaine; ihm fehlt die ruhige Malerhaftigkeit und das Pathos seiner Vorgänger, aber auch die übermäßige Lebhaftigkeit und der Humor der Nachfolger. Obwohl er oft auf den Neid und die Herabsetzung verweist, mit denen er verfolgt werde, scheint Phaedrus wenig Aufmerksamkeit in der Antike auf sich gezogen zu haben. Er wird erwähnt von Martial (iii. 20, 5), der einige seiner Verse imitiert, und die Avianus. Prudentius muss ihn gelesen haben, da er einige seiner Strophen nachahmt (Prud. Cath. vii. 115; ci. Phaedrus, iv. 6, 10).
Die erste Ausgabe der fünf Bücher des Phaedrus wurde von Pierre Pithou in Troyes 1596 nach einem Manuskript veröffentlicht, das jetzt im Besitz der Marquis von Rosanbo ist. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde in Parma ein Manuskript von Perotti (1430-1480), Erzbischof von Siponto, entdeckt, das 64 Fabeln des Phaedrus enthielt, von denen mehr als 30 neu waren. Diese neuen Fabeln wurden 1808 in Neapel von Cassitto erstveröffentlicht, ein Jahr später (wesentlich korrekter) von Jannehli. Beide Ausgaben wurden verdrängt durch die Entdeckung eines wesentlich besser erhaltenen Perotti-Manuskripts im Vatikan, das Angelo Mai 1831 publizierte. Eine Zeit lang wurde die Authentizität dieser neuen Fabeln in Frage gestellt, aber jetzt sind sie mit Recht allgemein als echte Fabeln des Phaedrus akzeptiert. Sie bilden kein sechstes Buch, zumal wir von Avianus wissen, dass Phaedrus nur fünf Bücher schrieb, aber es ist auch unmöglich, ihnen ihre ursprünglichen Plätze in den fünf Büchern zuzuordnen. Sie werden üblicherweise als Anhang gedruckt.
Im Mittelalter übte Phaedrus durch die Prosaversion seiner Fabeln einen erheblichen Einfluss aus, wobei seine eigene Arbeit und sein Name allerdings vergessen waren. Von diesen Prosaversionen scheint die älteste existierende die als Anonymus Nilanti bekannte zu sein, benannt nach Nilant, der sie in Leiden 1709 nach einem Manuskript aus dem 13. Jahrhunderts erstmals herausgab. Sie nähert sich dem Text des Phaedrus so nahe, dass sie vermutlich sogar direkt von ihm angefertigt wurde. Von den enthaltenen 67 Fabeln sind 30 von verlorenen Fabeln des Phaedrus abgeleitet.
Der größte Einfluss der Prosaversionen der Phaedrus-Fabeln ist hingegen mit dem Namen Romulus verbunden, einer Person, über die ansonsten nichts bekannt ist: Die Fabelsammlung Aesopus Latinus Romulus enthält 83 Fabeln, stammt aus dem 10. Jahrhundert, und basiert auf einer noch früheren Prosaversion, die, adressiert an einen Rufus, etwa um das Jahr 400 nach einer damals noch vollständigeren Ausgabe des Phaedrus geschrieben wurde.
Die Fabelsammlung im Weissenburg-Manuskript (jetzt Wolfenbütteler Manuskript) geht auf die gleiche Version wie Romulus zurück. Diese drei Prosaversionen enthalten zusammen 100 verschiedene Fabeln, von denen 56 von den existierenden und die übrigen 44 vermutlich von den verlorenen Fabeln des Phaedrus abgeleitet sind. Einige Gelehrte, wie Pieter Burmann, Dressier und Lucian Müller, haben versucht, die verlorenen Fabeln wiederherzustellen, indem sie sie in Verse gebracht haben.
Die Sammlung, die den Namen Romulus trägt, wurde die Quelle, aus der in der zweite Hälfte des Mittelalters fast alle Sammlungen lateinischer Fabeln in Prosa und Versen ganz oder teilweise geschöpft wurden. Eine Version der ersten drei Bücher des Romulus aus dem 12. Jahrhundert in elegischen Versen errang eine große Volkstümlichkeit bis in die Renaissance hinein. Ihr Autor (im allgemeinen seit der Ausgabe von Isaac Nicholas Nevelet von 1610 Anonymus Neveleti genannt) war lange Zeit unbekannt, aber Hervieux hat Gründe aufgezeigt, ihn mit Walther von England zu identifizieren, dem Kaplan des englischen Königs Heinrich II. und späteren Erzbischof von Palermo.
Eine andere Version des Romulus in lateinischen elegischen Versen wurde von Alexander Neckam erstellt, geboren in St Albans im Jahr 1157. Unter den Sammlungen, die teilweise auf Romulus zurückgehen, ist die vermutlich berühmteste die in französischen Versen der Marie de France. Um 1200 wurde eine Fabelsammlung in lateinischer Prosa, teilweise auf Romulus basierend, vom Zisterziensermönch Odo von Sherrington in einem streng mittelalterlichen und klerikalen Ton zusammengestellt. Im Jahr 1370 schrieb Gerhard von Minden eine poetische Version des Romulus in niederdeutscher Sprache.
Ausgaben
- Pithou (1596)
- Burmann (1718 und 1727)
- Bentley (1726)
- Schwabe (1806)
- Berger de Xivrey (1830)
- Orelli (1832)
- Eyssenhardt (1867)
- Lucian Müller (1877)
- Rica (1885)
- L. Havet (Paris, 1895)
- A. Guaglianone (Hg., 1969): Liber fabularum
- F. F. Rückert u.a. (1982): Liber fabularum. Fabelbuch
- V. Riedel (1989): Der Wolf und das Lamm. Fabeln, Latein und deutsch
Literatur
- L. Roth, in Philologus, i. 523 seq.;
- E. Grosse, in Jahrb. f. class. Philol., cv. (1872);
- Hervieux, Les Fabulistes latins depuis le siecle d'Auguste jusqu'a la fin du moyen Age (Paris, 1884) – hier werden die lateinischen Texte aller mittelalterlichen Nachahmer (direkt und indirekt), einige davon zum ersten Mal, abgedruckt.
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Phaedrus spielt auch eine wichtige Rolle in dem Buch Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten von Robert M. Pirsig.