Sudetenland
Das Sudetenland war ein Gebiet im heutigen Tschechien, in dem überwiegend Deutsche nach Sprache und Herkunft lebten. Diese erst im 20. Jahrhundert als "Sudetenland" bezeichneten Regionen umfassten rd. 28.943 km².
Abgrenzungen
Die Sudetenländer sind nicht identisch mit dem Sudetenland, sie orientieren sich also an den Sudeti montes der Antike, die – vielleicht irrig – mit dem Bereich vom Isergebirge bis zum Adlergebirge identifiziert wurden. Der Terminus umfaßte die Gesamtheit der historischen Länder Böhmen, Mähren, Schlesien. Diese Bedeutung von Sudetenländer findet sich heute beispielsweise noch im Namen der Historischen Kommission der Sudetenländer, dort mit dem bei einer Satzungsänderung 1981 zur Verhinderung von Mißdeutungen als notwendig befundenen Erklärung „Sudetenländer im Sinne der Gesamtheit der böhmischen Länder". (Zitat Hans Lemberg, Collegium Carolinum, München)
Man kann das Sudetenland auf verschiedene Arten definieren:
A. In ethnischer Hinsicht
In ethnischer Hinsicht war das "Sudetenland" seit 1918 die zusammenfassende Bezeichnung für die Gebiete Böhmens, Mährens und Mährisch-Schlesiens, in denen Einwohner deutscher Nation und Muttersprache wohnten (eigene Bezeichnung: Deutschböhmen, später Sudetendeutsche benannt).
B. Als Provinz Sudetenland
Die Deutschen in den nördlichen Gebieten von Österreichisch-Schlesien, Nordmähren und Nordostböhmen riefen im Oktober 1918 die deutschösterreichische Provinz Sudetenland aus. Diese trat noch im November 1918 der Republik Deutschösterreich bei. Der Beitritt wurde durch den Vertrag von St. Germain unwirksam.
C. Als Reichsgau Sudetenland
Der Reichsgau Sudetenland wurde nach dem Münchener Abkommen durch Gesetz vom 15. April 1939 mit der Hauptstadt Reichenberg geschaffen und bestand nur bis zum Kriegsende 1945.
Geschichte
Das Gebiet hat dieselbe Geschichte wie Böhmen und Mähren (sowie Schlesien). Das so genannte Sudetenland als ganzes stellte bis zum Zweiten Weltkrieg nie eine separate Verwaltungseinheit dar. Jedoch existierte im November und Dezember 1918 für wenige Wochen eine Provinz dieses Namens, die Nordmähren und Sudetenschlesien umfasste (mit der Hauptstadt Troppau). Auch der Begriff Sudetenland entstand erst in an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, schon ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden allerdings die böhmischen Länder gelegentlich als "Sudetenländer" bezeichnet, beispielsweise in der Formulierung die Deutschen der Sudetenländer (s.o).
Geschichte bis 1919
Im 12. und 13. Jahrhundert wurde das Gebiet, das zusammen mit dem Rest der böhmischen Länder zum Heiligen Römischen Reich gehörte, von Deutschen besiedelt. Bis 1806 gehörte ganz Böhmen, Mähren und Schlesien dem Römisch-Deutschen Reich an. Österreich (seit 1867 Österreich-Ungarn) war ein Vielvölkerstaat. Wenige Tage nach dessen faktischer Auflösung Anfang November 1918 schlossen sich deutschprachige Grenzgebiete Böhmens, Mährens und Mährisch-Schlesiens der neu gegründeten Republik Deutsch-Österreich(später Republik Österreich) an. Die Besetzung des Landes durch tschechische Truppen vor allem ab Ende November 1918 verhinderte die volle Etablierung der deutsch-österreichischen Verwaltung im Sudetenland, im Dezember mussten die Regionalregierungen der Provinzen Deutschböhmen und Sudetenland (= Nordmähren und Sudetenschlesien) vor den anrückenden tschechischen Truppen ins Exil ausweichen, um eine Gefangennahme zu vermeiden.
Durch den Vertrag von Saint-Germain wurde das Gebiet schließlich im September 1919 der neu gegründeten Tschechoslowakei zugeschlagen. Die vorhandenen nationalen Gegensätze zwischen den (nun bestimmenden) Tschechen und den Deutschen, die sich benachteiligt fühlten, wurden größer. Der Versuch der Sudetendeutschen, die deutsprachigen Grenzgebiete im Jahre 1918 vom historichen Gebiet Böhmens abzutrennen, nicht der neu entstandenen Tschechoslowakei zuschlagen zu lassen, sondern es an die ebenfalls eben entstehende Republik Deutschösterreich anzuschließen, wurde von den Siegermächten des Ersten Weltkrieges verboten und von den Tschechen zunichtegemacht, teilweise mit Waffengewalt. Am 4. März 1919 wurden bei Demonstrationen der Deutschen in ihrem Siedlungsgebiet für ihr Selbstbestimmungsrecht und die Zugehörigkeit zu Deutsch-Österreich, die anlässlich der in Österreich stattfindenden Wahlen stattfanden, insgesamt 54 Deutsche und zwei Tschechen von tschechischen Soldaten erschossen.
Von 1919 bis zum Münchner Abkommen
1919 stellten die Sudetendeutschen (Deutschböhmen) die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe in der neu gegründeten "Tschecho-Slowakei" (CSR) nach den Tschechen und vor den Slowaken. Vor allem um die Mehrheit des "Staatsvolks" größer erscheinen zu lassen, aber auch in Übereinstimmung mit panslawistischen Gedanken (vergleiche ähnliche Auffassungen, bei der Gründung Jugoslawiens,) wurden die Tschechen und Slowaken ungeachtet ihrer nationalen Selbständigkeit als einheitliches Volk vorgestellt.
In einem Interview mit der damals führenden französischen Tageszeitung "Le Matin" vom 10. Januar 1919 erklärte der Gründungspräsident der CSR, Masarýk:
- Unsere geschichtlichen Grenzen stimmen mit den ethnographischen Grenzen ziemlich überein. Nur die Nord- und Westränder des böhmischen Vierecks haben infolge der starken Einwanderung während des letzten Jahrhunderts eine deutsche Mehrheit. Für diese Landesfremden wird man vielleicht einen gewissen modus vivendi schaffen, und wenn sie sich als loyale Bürger erweisen, ist es sogar möglich, daß ihnen unser Parlament [...] irgend eine Autonomie bewilligt. Im übrigen bin ich davon überzeugt, daß eine sehr rasche Entgermanisierung dieser Gebiete vor sich gehen wird.
Viele Sudetendeutsche lehnten eine Zugehörigkeit zur Tschechoslowakei ab, weil entgegen den von US-Präsident Wilson versprochenen Grundsätzen eine Volksabstimmung über die Staatszugehörigkeit ihrer seit fast sieben Jahrhunderten legal besiedelten Städte und Landschaften verweigert worden war.
Die Siegermächte haben in Versailles und Saint Germain entschieden, das historische Gebiet der böhmischen Kronländer nicht aufzuteilen. Ein Anschluss der (zumindest nördlichen und westlichen) böhmischen Grenzgebiete an Österreich wäre auch rein geografisch recht merkwürdig gewesen. Die Gebirge des "böhmischen Vierecks" bildeten ein militärisch nützliches Hindernis gegen Angriffe des Deutschen Reiches und Österreichs, deren Schuld am Ersten Weltkrieg kürzlich ultimativ festgeschrieben worden war.
Formal stets demokratischen Regeln folgend, hatten die von der tschechischen Mehrheit bestimmten Regierungen fünfzehn Jahre lang eine Politik betrieben, welche im Schul- und Sozialwesen, bei der Besetzung staatlicher Ämter, bei der Vergabe öffentlicher Aufträge usw. zugunsten tschechischer Staatsbürger die Minderheiten (nicht nur die deutsche) teilweise benachteiligte. Andererseits verfügten aber sämtliche Völker der Tschechoslowakei über eigene politische Parteien, eine ihrer Anzahl angemessene Vertretung im Parlament, über ein eigenes Schulsystem, und Abgeordnete im Parlament haben sogar ihre Vorträge in ihrer jeweiligen Muttersprache gehalten.
Deutsche Politiker, die als sogenannte "Aktivisten" zu demokratischer Zusammenarbeit bereitgewesen waren, hatten kein Gegengewicht bilden können. Um die politischen Kräfte der deutschen Minderheit zu bündeln, wurde am 1. Oktober 1933 um Konrad Henlein die Sudetendeutsche Partei (SdP) gegründet. Anfangs setzte sich die Partei nur für eine größere Autonomie des Sudetenlandes ein, gestützt auf vertragliche Zusicherungen der Tschechoslowakei. Nach Absprache mit Hitler orientierte sich die Partei später zunehmend an Hitler und den Nationalsozialisten (NSDAP) im benachbarten Deutschen Reich.
Abgeschirmt von der Öffentlichkeit erklärte Hitler im November 1937 den Oberbefehlshabern der Wehrmachtteile, dass der Anschluss Österreichs und die Niederwerfung der Tschechoslowakei die nächsten Schritte auf dem Weg zum Lebensraum im Osten seien. Im April 1938 bekräftigte Hitler gegenüber der Wehrmacht seinen Plan, "die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit durch eine Militäraktion zu zerschlagen". Auf diesem Weg zu der von ihm so proklamierten "Lösung der deutschen Raumfrage" war die SdP ein willfähriger Partner. Henlein wurde beauftragt, die tschechoslowakische Regierung mit Maximalforderungen der Sudetendeutschen zu konfrontieren, um die innenpolitische Krise anzuheizen.
Immer stärker unter Druck verkündete die Tschechoslowakei im Mai 1938 mit dem Hinweis auf Kenntnisse eines unmittelbar bevorstehenden deutschen Angriffs die Mobilmachung. Die Bündnispartner Frankreich und England waren im Zugzwang und bekundeten ihre Unterstützung. Deutschland seinerseits forcierte die Krise und versetzte die Wehrmacht in Bereitschaft. Unter Vermittlung Mussolinis gelang es England schließlich noch einmal, den von Hitler eigentlich angestrebten Waffengang zu verhindern.
Durch das Münchener Abkommen vom 29. September 1938 sah die deutsche Bevölkerung des Sudetenlandes ihre beim Zerfall der Monarchie Österreich-Ungarn 1918 angestrebte, aber durch den Vertrag von St. Germain verhinderte Selbstbestimmung mit zwanzig Jahren Verspätung nun doch endlich eingelöst. Die deutsch besiedelten Randgebiete Böhmens wurden dem Deutschen Reich als „Reichsgau Sudetenland“ angegliedert.
Besetzung der so genannten "Rest-Tschechei" und Zweiter Weltkrieg
Das Münchner Abkommen leitete das Ende der Tschechoslowakischen Republik ein. Am 9. März 1939 besetzte tschechisches Militär den Teilstaat Slowakei. Daraufhin erpresste Hitler vom abgesetzten slowakischen Premierminister Dr. Jozef Tiso die Erklärung einer selbständigen Slowakei (am 14. März 1939), die sich unter den Schutz des Deutschen Reiches stellte, sowie vom Präsidenten der CSR Emil Hácha dessen "Einverständnis" zur Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren. Mit dem Einmarsch der Wehrmacht am 15. März 1939 in Prag wurde die politische Umbildung vollzogen.
Die Grenze zwischen dem zu 96% von Tschechen bewohnten Protektorat und dem Sudetenland durfte nur mit staatlicher Genehmigung überschritten werden. Die Zollgrenze zum Protektorat wurde jedoch am 18. September 1940 aufgehoben.
Nachkriegszeit
Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieg war man aufgrund der Vergeltung von Verbrechen der Nationalsozialisten an Tschechen und der Ungarn an Tschechen und Slowaken bemüht, die Sudetendeutschen und anfangs auch die Ungarn vollständig zu vertreiben. Edvard Beneš verkündete die so genannten Beneš-Dekrete, die die Enteignung und Entrechtung der Sudetendeutschen und Ungarn anordneten (bei den Ungarn wurde die Entrechtung 1948 aufgehoben). Ziel und Ergebnis war die Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei nach Österreich und Deutschland. Deutsche, die ihre antifaschistische Gesinnung nicht zweifelsfrei nachweisen konnten, wurden mit einem "N" (für Nemec = Deutscher) gekennzeichnet und vertrieben ("zwangsausgesiedelt"). Sie wurden in Arbeitslager gebracht, um monatelang z.B. in Kohlegruben, Gradierwerken und auf Bauernhöfen unentgeltlich und bei minimalster Verpflegung zu arbeiten, und zwangsausgesiedelt. Bezüglich der Ungarn wurde schließlich lediglich ein teilweiser Bevölkerungsaustausch gegen Slowaken aus Ungarn durchgeführt.
Insgesamt wurden 3,0 Millionen der knapp über 3,2 Millionen Sudetendeutschen aus ihrer Heimat vertrieben. Bei diversen "Rache-Massakern" kamen viele Menschen um, über genaue Zahlen wird bis heute spekuliert. Etwas über 20.000 sind einzeln belegt und namentlich erfasst, weitere 62.000 werden bis heute von Angehörigen gesucht, die Zahl der insgesamt Vermissten ist noch weit höher. Nach verschiedenen Bevölkerungsbilanzen hat sich die Zahl der Sudetendeutschen zwischen Anfang Mai 1945 und den beiden Volkszählungen in der Bundesrepublik und der DDR vom August und September 1950 um über 200.000 vermindert.
In die gewaltsam geräumten Regionen zogen überwiegend Tschechen aus dem Landesinnern und auch Tschechen, die vorher von den "Deutschen" von dort vertrieben worden waren, sowie Slowaken, Roma und Ungarn. Die Meisten erhielten den Zuschlag auf die jeweilige zuvor von Sudetendeutschen oder Ungarn enteignete Immobilie unentgeltlich über ein Auslobungsverfahren, welches die Regierung unter der tschechischen und slowakischen Bevölkerung durchführte. Einzelne nahmen Häuser noch unter Anwesenheit der Vorbewohner gewaltsam in Besitz. Durch die Neuverteilung der geräumten Immobilien kam es bei vielen Tschechen "als Ausgleich für durch die Nationalsozialisten verübtes Unrecht" zu einem erheblichen Wohlstandszuwachs. Bis heute sorgt dieses Thema für Spannungen zwischen den Regierungen Österreichs, Deutschlands und Ungarns einerseits und der tschechischen Regierung andererseits. Man hat versucht, diese Spannungen mit der gemeinsamen Erklärung vom Januar 1997 zu entschärfen.
Sprache
Die verschiedenen sudetendeutschen Dialekte lassen sich in fünf Mundartlandschaften unterteilen:
- Mittelbairisch (Südmähren, unterer und mittlerer Böhmerwald, Schönhengst, die Sprachinseln von Budweis, Wischau, Brünn und Ölmütz).
- Nordbairisch oder Oberpfälzisch (Westböhmen, Iglauer Sprachinsel).
- Ostfränkisch (kleinste Sprachlandschaft; sie reicht von NW-Böhmen über das Erzgebirge bis in die Gegend von Bamberg und ist auch noch im Schönhengst und im mittleren Nordmähren vertreten).
- Schlesisch (Ostböhmen, Nordmähren).
- Obersächsisch (Nordböhmen und als Mischdialekt mit dem Nordbairischen in der Iglauer Sprachinsel)
Der Wortschatz wird beschrieben im Sudetendeutschen Wörterbuch. Die Sprachgeographie wird neuerdings erforscht vom Atlas der historischen deutschen Mundarten auf dem Gebiet der Tschechischen Republik.
Name
Siehe: Sudeten, Sudetendeutsche
Forschung
Das Sudetenland und war ein beliebtes Thema der Ostforschung. Zu den wichtigen Forschern zählten Karl Valentin Müller, Eugen Lemberg und der Historiker Hermann Aubin. Wichtige Forschungseinrichtungen waren die Karls-Universität Prag, die Reinhard Heydrich-Stiftung und das Collegium Carolinum.
Einige Städte im ehemaligen Sudetenland
- Asch (Aš)
- Aussig (Ústí nad Labem)
- Bischofteinitz (Horšovský Týn)
- Brüx (Most) - hatte seit ca. 1930 eine knappe tschechische Mehrheit. Sie entstand durch den Zuzug von Bergleuten seit etwa 1860.
- Eger (Cheb)
- Falkenau (Sokolov)
- Franzensbad (Františkovy Lázně)
- Freudenthal (Bruntál
- Gablonz (Jablonec nad Nisou
- Graslitz (Kraslice)
- Grulich (Králíky)
- Iglau (Jihlava) - mit tschechischer Minderheit; kam 1938 nicht zu Deutschland, da Sprachinsel im Landesinneren.
- Jägerndorf (Krnov)
- (Sankt) Joachimsthal (Jáchymov)
- Karlsbad (Karlovy Vary)
- Klattau (Klatovy)
- Komotau (Chomutov) - mit tschechischer Minderheit seit dem späten 19. Jahrhundert
- Leitmeritz (Litoměřice)
- Lundenburg (Břeclav) - kam 1938 zu Deutschland trotz knapper tschechischer Mehrheit seit ca. 1915 und großer tschechischer Mehrheit seit 1919
- Mährisch-Schönberg (Šumperk)
- Marienbad (Mariánské Lázně)
- Markt Eisenstein (Železná Ruda)
- Mies (Stříbro)
- Nesselsdorf (Kopřivnice)
- Oberleutensdorf (Litvínov)
- Olbersdorf (Město Albrechtice)
- Olmütz (Olomouc) - kam 1938 nicht zu Deutschland, da Sprachinsel im Landesinneren
- Prachatitz (Prachatice)
- Reichenberg (Liberec)
- Saaz (Žatec)
- Tetschen (Děčín)
- Troppau (Opava)
- Unterwielands (Gmünd III) (České Velenice)
Siehe auch: Liste deutscher Bezeichnungen tschechischer Orte
Literatur
- Rudolf Hemmerle (Hrsg.). Sudetenland-Lexikon. Mannheim: Adam Kraft, 2. Auflage 1985. ISBN 3-8083-1163-0. Rechte jetzt beim Verlag Flechsig, Beethovenstraße 5 in 97080 Würzburg