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Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der Europäischen Union

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Flagge der EU und der Türkei
Dunkelgrün: derzeitige EU-Mitglieder; Hellgrün: Beitritt beschlossen noch keine Mitgliedsländer; Orange: Beitrittsverhandlungen laufen

Seit dem 3. Oktober 2005 laufen die Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der Europäischen Union. Obwohl alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union allen bisherigen Stadien des Beitrittsprozesses zugestimmt haben, ist ein Beitritt der Türkei umstritten. Ein möglicher EU-Beitritt ist bereits seit Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) in der politischen Diskussion. Neben den Befürwortern (zum Beispiel der britischen Regierung unter Tony Blair) gibt es auch Regierungen, die einen türkischen EU-Beitritt skeptisch sehen (insbesondere die österreichische Regierung). Gerade für Deutschland ist diese Frage auch innenpolitisch zu betrachten, da in den Wirtschaftswunderjahren nach 1950 viele Gastarbeiter aus der Türkei ins Land gekommen sind. Auch die USA haben den Staaten der EU eine Aufnahme der Türkei mehrmals nahegelegt, weil sie einen geostrategischen Vorteil für die westliche Welt durch die Integration der Türkei in die EU sehen.

Verlauf der zukünftigen Beitrittsverhandlungen

Nach dem Beschluss des Rates der EU-Regierungen zur Aufnahme von Verhandlungen, wurde formal das Mandat an die Kommission übertragen, die die Verhandlungen führt. In den kommenden Jahren reisen EU-Beamte regelmäßig in die Türkei, um die Fortschritte bei der Anpassung der politischen, ökonomischen und rechtlichen Standards an das EU-Regelwerk zu überprüfen. Die Türkei muss in den nächsten Jahren den kompletten rechtlichen Besitzstand der EU übernehmen. Das Regelwerk umfasst 35 Kapitel. Darin sind alle Rechtsakte (Europäisches Recht) wie z.B. Verträge der Europäischen Union, die Verordnungen und Richtlinien enthalten (Siehe auch: Acquis communautaire).

Die Ergebnisse dieses Monitorings fließen in einen Bericht über den Stand der Reformen ein, den die Kommission jeweils im Herbst veröffentlicht. Die Kommission stellt schließlich fest, ob und wann die rund 35 Beitrittskapitel abgeschlossen sind. Nach Anhörung der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlamentes erklärt der Rat der EU-Regierungen die Beitrittsverhandlungen für abgeschlossen und setzt ein Datum für den formalen Beitritt fest.

Als „Notbremse“ wird der Brüsseler Gipfelbeschluss eine Ausstiegsklausel enthalten: Wenn ein Drittel der EU-Mitgliedsstaaten es fordert oder wenn der Reformprozess in der Türkei in den Kernbereichen Menschenrechte, Minderheitenschutz und Meinungsfreiheit ins Stocken gerät, können die Verhandlungen ausgesetzt werden.

Zweite Hürde ist die Ratifizierung des Beitrittsvertrages in allen EU-Mitgliedsländern, per Parlamentsentscheid oder Referendum: Scheitert sie in nur einem Land, findet der Beitritt nicht statt. Als dritte Hürde wurde auf Druck Österreichs im Rahmentext der Beitrittsverhandlung am 3. Oktober 2005 festgelegt, dass auch die wirtschaftliche und politische Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union am Ende der Verhandlungen eine Rolle spielt.

Geschichte und jüngere Entwicklungen

Bereits 1959 bewarb sich die Türkei um eine Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). 1963 wurde zwischen der Türkei und der EWG ein Assoziierungsabkommen geschlossen. Im Rahmen dieses Vertrags stellte die EWG der Türkei eine Mitgliedschaft nach 17 Jahren in Aussicht. Dieser Status wurde jedoch nach dem Putsch des Generals Kenan Evren am 12. September 1980 eingefroren.

Am 1. Januar 1996 wurde zum ersten Mal zwischen der EU und einem Nichtmitglied der EU die Zollunion eingeführt. Seit diesem Datum gilt in der Türkei das europäische Wirtschaftsrecht, dem Ankara die eigenen Handelsbeziehungen mit Nicht-EU-Ländern – "Drittländern" – anzupassen hat. Da die Türkei kein Mitspracherecht in Brüssel hat – auch dann nicht, wenn es um Wirtschafts- und Handelsfragen geht – sieht sie sich bei diesem Abkommen als stark benachteiligt. "Die Türkei" so formuliert eine Untersuchung der Ebenhausener "Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), gibt "Teile ihrer nationalen Souveränität" ab, "ohne gleichzeitig wirklich Einfluss auf den multinationalen Entscheidungsprozess zu haben".

Nachdem die damalige EG 1989 einen Antrag der Türkei auf Vollmitgliedschaft noch abgelehnt hatte, wurde auf dem EU-Gipfel in Luxemburg im Dezember 1997 entschieden, dass sie für einen Beitritt in Frage käme. Da jedoch der Gipfel beschloss, für 1998 Beitrittsverhandlungen mit Zypern, Ungarn, Polen, Estland, der Tschechischen Republik und Slowenien aufzunehmen, fühlte sich die türkische Regierung brüskiert. Ministerpräsident Mesut Yılmaz verkündete daher verärgert den Abbruch der Gespräche mit der EU.

Am 11. Dezember 1999 erhielt die Türkei offiziell den Status als Beitrittskandidaten zuerkannt. Auf dem Gipfel von Kopenhagen 2002 beschloss die EU, im Dezember 2004 über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zu entscheiden, sobald die Türkei die Kopenhagener Kriterien erfülle.

Ein wichtiger Grund für diesen Sinneswandel der EU war der Beginn umfassender Reformen im Zivilrecht. Die Türkei stärkte damit die Menschen- und Freiheitsrechte (z.B. Versammlungs- und Demonstrationsrecht). Schon unter Ecevit (1999-2001) wurde eine Zivilrechtsreform durchgeführt, die vor allem die rechtliche Stellung der Frau verbesserte.

Die neue Regierung unter der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung legte 2001 bei ihrem Amtsantritt ein Paket von Gesetzesänderungen vor, das u.a. die Abschaffung der Todesstrafe auch in Kriegszeiten, ein Verbot der Folter, das Ende der Straffreiheit für Polizisten, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit und Maßnahmen gegen die Unterdrückung der kurdischen Minderheit ebenso vorsieht wie den freien Gebrauch der kurdischen Sprache, Kurdischunterricht und kurdische Radio- und Fernsehkanäle.

Obwohl diese gesetzlichen Grundlagen geschaffen wurden, gibt es Probleme bei der praktischen Umsetzung. Sie scheitert derzeit auch an den staatlichen Behörden und ihren Mitarbeitern. Zwar erteilte die Regulationsbehörde für Fernseh- und Radiosender (RTÜK) am 18. August 2004 drei Privatsendern im Südosten der Türkei die Lizenz, in kurdisch zu senden, auch der staatliche Sender TRT 3 darf Sendungen in Arabisch, Zazaki, Kumanci und anderen Sprachen ausstrahlen, doch ist etwa bei den Regionalsendern ein ungestörter Sendebetrieb kurdischer Radio- und Fernsehstationen auf Grund andauernder staatlicher Interventionen bisher nicht durchgängig möglich. Kurdischkurse sind lediglich für Erwachsene, aber eben nur für diese erlaubt. Auch forderte die Staatsanwaltschaft in Ankara das Verbot der Lehrergewerkschaft Egitim Sen, weil sie in ihrer Satzung die Forderung nach muttersprachlichem Unterricht für Minderheiten stellt. Daher spielen die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Zustände im Osten der Türkei bei den EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei eine Schlüsselrolle.

Im September 2004 stellte eine Expertengruppe der Europäischen Union fest, dass es in der Türkei heute keine staatlich geduldete systematische Folter mehr gebe, da nur einzelne Personen oder Personengruppen die Folter ausübten. Mit der gleichfalls im September 2004 anstehenden Verabschiedung einer weitgehenden Strafrechtsreform werde die Rechtsstaatlichkeit der Türkei gefestigt. Daraufhin empfahl am 6. Oktober 2004 die EU-Kommission die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen.

Am 17. Dezember 2004 entschieden die Staats- und Regierungschefs der EU in Brüssel, dass ab dem 3. Oktober 2005 mit der Türkei Verhandlungen über den EU-Beitritt aufgenommen werden. Voraussetzungen dafür sind jedoch die Fortsetzung der begonnenen Reformen, eine weitere Verbesserung der Menschenrechtssituation und insbesondere die Unterzeichnung eines Abkommens über eine Zollunion mit den 10 neuen EU-Mitgliedsstaaten (darunter auch Zypern) noch vor Beginn dieser Verhandlungen.

Problematisch ist weiterhin der Umgang der Türkei mit religiösen Gruppen, die nicht offiziell als Minderheit im Sinne des Lausanner Abkommens von 1923 anerkannt werden (so werden die Griechen, Armenier und Juden anerkannt). Die EU sieht neben den türkischen Christen vor allem die Aleviten (immerhin ca. ein Drittel der Türken) als nicht ausreichend gleichgestellt. So kritisierte die Europäische Kommission in ihrer „Empfehlung zu den Fortschritten der Türkei auf dem Weg zum Beitritt“ vom 4. Oktober 2004 ausdrücklich, dass die Aleviten nach wie vor nicht als muslimische Minderheit anerkannt sind.

Am 29. September 2005 trafen sich die 25 Botschafter der EU-Staaten in Brüssel, um Verhandlungsziele für die Beitrittsverhandlungen am 3. Oktober festzulegen. Österreich blockierte eine Einigung und forderte als einziges Mitgliedsland, der Türkei neben einer Vollmitgliedschaft auch eine Alternative anzubieten. Auch EVP-Abgeordnete im EU-Parlament traten für eine Alternative zur Vollmitgliedschaft der Türkei ein und am 27.September wiederholte der dänische Premier Rasmussen die schon auf früheren EU-Gipfeln geäußerten Bedenken, ob die EU einen Türkei-Beitritt verkraften könne.

Am 3. Oktober 2005 konnten sich alle 25 europäischen Außenminister in Luxemburg auf einen gemeinsamen Rahmentext einigen. Österreich verzichtete auf seine Forderung, der Türkei als Alternative zur Vollmitgliedschaft ein anderes Modell anzubieten, was die Türkei vehement abgelehnt hatte. Letztlich blieb es bei dem Satz: "Gemeinsames Ziel der Verhandlungen ist die Mitgliedschaft". Als Kompromiss wird nun am Ende der Beitrittsverhandlungen, nach 10 bis 15 Jahren, nicht nur geprüft, ob die Türkei die Beitrittskriterien erfüllt, sondern auch ob die Europäische Union deren Aufnahme wirtschaftlich und politisch verkraften kann. Damit sind die Hürden für die Aufnahme so hoch wie noch nie zuvor für einen Kandidaten. Da die Türkei diesen Bedingungen umgehend zustimmte, konnten die Beitrittsverhandlungen wie vorgesehen formell noch am 3. Oktober beginnen. Gleichzeitig wurden zur Überraschung vieler Beobachter auch die Verhandlungen mit Kroatien wieder aufgenommen. Für diesen Schritt hatte sich die österreichische Regierung stark gemacht, sie dementierte jedoch zugleich offiziell, diese Entscheidung mit der Türkei-Frage verknüpft zu haben.

Am 9. November 2005 veröffentlichte der Erweiterungskommissar Olli Rehn die jährliche Beurteilung. Darin werden der Türkei Fortschritte im politischen und wirtschaftlichen Gebiet attestiert. Kritisiert wird vor allem die Lage der Menschenrechte, Meinungsfreiheit und der Schutz von Minderheiten. Exemplarisch kritisiert der Bericht den später eingestellten Prozess gegen Orhan Pamuk wegen seiner Äußerungen zum Völkermord an den Armeniern.

"Der Wandel geht in diesem Jahr langsamer voran. Die Umsetzung der Reformen ist nicht ausgewogen. Deshalb sind große Anstrengungen nötig auf dem Feld der Meinungsfreiheit, bei den Frauenrechten, bei den Gewerkschaften und den Rechten der nicht-muslimischen Religionsgemeinschaften." (Olli Rehn, Erweiterungskommissar der EU)

Geopolitische Aspekte eines EU-Beitritts der Türkei

Die geopolitische Bedeutung der Türkei ist zwar erheblich (sei es in Zentralasien wie dem Nahen Osten), doch ergibt sich daraus eine schwer kalkulierbare Situation mit positiven wie negativen Aspekten. Während die USA lange Zeit vor allem nur die positiven Seiten sahen, sind viele europäische Staaten derzeit skeptisch.

Ein Beitritt der Türkei würde viele noch zu lösende Konflikte in den Aufgabenbereich der EU-Politik stellen. Die Konflikte in den Nachbarstaaten der Türkei, auf die die EU derzeit wenig Einfluss nimmt, könnten im europäischen Tagesgeschäft eine stärkere Rolle spielen. Dies bringt die notwendige Absicherung der Grenzen vor einem Übergreifen der Krisen in den europäischen Raum mit sich. Diese Absicherung wird aber jetzt schon über die Mitgliedschaft der Türkei in der NATO gewährleistet.

Die EU-Mitgliedschaft bringt für die Türkei auf der militärischen Ebene einen Autonomieverlust mit sich. Mit einem von der EU abhängigen Militär wäre es ihr nicht mehr möglich, die regionalen Begebenheiten selbst zu interpretieren und sich beispielsweise autonom für eine Aktivität zu entscheiden oder dagegen. So würde sie Souveränität abgeben müssen. Eine militärisch enger an Europa gebundene Türkei würde evtl. für die USA weiter an Attraktivität gegenüber Irak verlieren.

Die EU müsste ihre Interessen neu abwägen und in den Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien eingreifen, in dessen Zuge sie auf Russland Rücksicht nehmen muss. Damit würde sie jedoch letztendlich auf eine Ebene mit den USA steigen, da ihr Einfluss bis in den Mittleren Osten reichen würde. Dies ist auch der Grund, warum die USA einen Türkeibeitritt befürworten. Sie könnten von den guten Beziehungen zur EU und von deren Lage profitieren, ob im militärischen oder im energiepolitischen Sinne.

Der Einfluss, den ein Türkeibeitritt auf die Energiepolitik der EU nehmen könnte, lässt sich nicht abschätzen. Die Energieprobleme in Europa, z.B. in Italien oder Griechenland, ließen sich unter einer Türkeimitgliedschaft leichter lösen. Gelder aus dem Strukturfonds der EU könnten die Infrastruktur der Pipelines verbessern und Unternehmen aus dem ganzen Kontinent könnten dort investieren. Der enorme Wasservorrat der Türkei wäre bedeutend für die Union. Allerdings würde die EU im selben Moment mit Irak und Syrien über die Lösung des Euphrat-Tigris-Streitpunktes verhandelt müssen. Der Bau von Staudämmen im Rahmen des Südostanatolien-Projekts führt auf Seiten Syriens zu der Befürchtung, dass die Türkei eines Tages die Wasserversorgung als politisches Druckmittel einsetzen könnte.

Pro und Contra eines EU-Beitritts

Die Kontroverse um den Beitritt der Türkei in die Europäische Union berührt viele Themenkreise. Einerseits führt die Türkei immer wieder die Versprechen und vertraglichen Zusagen der Europäischen Union an. Beitrittsgegner hingegen zweifeln an der politischen und gesellschaftlichen Reife der Türkei und heben die kulturellen Unterschiede hervor.

Politische Zusagen

Seit 40 Jahren bestehen politische Zusagen an die Türkei für die Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft. Diese langjährigen Zusagen könnten nicht revidiert werden, ohne dass die EU an Glaubwürdigkeit verliert.

Jedoch besteht die EU als politische Union noch nicht lange. Die alten Zusagen bezogen sich auf die europäische Gemeinschaft und nicht zwangsläufig auch auf ihren Nachfolger, die heutige EU. Auch wurde bis 1989 wiederholt das Ansuchen der Türkei auf Mitgliedschaft zurückgewiesen.

Ab 1997 wurden hingegen die Zusagen mehrfach erneuert. Somit beziehen sie sich nunmehr explizit auf eine EU-Mitgliedschaft. Seit 1999 ist die Türkei zudem offizieller Beitrittskandidat. Seit 2005 laufen die Verhandlungen mit dem Ziel eines Beitritts.

Religion

Ein weiterer Grund für die ablehnende Haltung ist die Frage nach der Identität der EU: Manche Beitrittsgegner befürchten, dass durch den Beitritt der "islamischen Türkei" die Identität der EU als Gemeinschaft, die durch christlich-abendländische Traditionen geprägt sei, schwinden könne und sich die gemeinsame Basis für eine weitergehende politische Integration auflöse.

Befürworter des türkischen EU-Beitritts führen ins Feld, dass die EU vor allem eine Wertegemeinschaft sei, nicht eine Gemeinschaft, die sich auf den christlichen Glauben bezieht. Demnach spiele für die Aufnahme der Türkei einzig und allein die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien eine Rolle. Somit könne der islamische Glaube kein Ablehnungskriterium gegen den Beitritt sein. Entscheidend sei allein, dass die Türkei rechtlich und gesellschaftlich die Werte, die in den Kopenhagener Kriterien festgeschrieben sind, umsetzt.

Zudem habe die Türkei im Gegensatz zu vielen "islamischen" Staaten eine längere Tradition der Westorientierung. Sie habe schon im Osmanischen Reich angefangen und sich verstärkt durch die Reformen in der Zeit der Republikgründung durch Atatürk fortgesetzt. Seit 2001 führe die Türkei weitgehende gesetzliche Reformen durch, um den europäischen Normen gerecht zu werden.

Menschenrechte

Ein weiteres Argument der Befürworter ist, dass ein Beitritt zur EU die Demokratie und die Lage der Menschenrechte in der Türkei weiter stärken werde. Sie sehen darin ein wirksames Mittel, den islamischen Fundamentalismus weiter zurückzudrängen. Die erfolgreiche Integration der Türkei in die EU und die damit einhergehende Wohlstandssteigerung werde für viele islamisch geprägte Länder eine Vorbildfunktion haben. Eine demokratische und stabile Türkei würde beweisen, dass Islam und Demokratie kein Widerspruch sind.

Kritiker eines Beitritts räumen zwar positive Schritte von Seiten der Türkei ein, sie argumentieren aber, dass nicht nur das kurzfristige Verhalten eines Landes Maßstab sein dürfe. Selbst wenn Kultur als etwas Veränderliches verstanden werde, ist die Stabilität der gegenwärtigen Reformschritte in der Türkei umstritten, auf der einen Seite wegen starker islamistischer Kräfte und auf der anderen Seite wegen des Militärs. Auch wenn diese Gefahren für die Türkei durch einen Beitritt vermindert werden könnte, scheinen sie manchen als zu groß um damit das Projekt der EU in den nächsten Jahrzehnten zu belasten. Außerdem bestünden immer noch weitgehende Defizite hinsichtlich der Verwirklichung der Menschenrechte sowie der Erfüllung der weiteren Kopenhagener Kriterien.

Die kurdischen Regionen litten immer noch an den Folgen des Krieges der PKK mit der Türkei. Laut Aussagen der Gesellschaft für bedrohte Völker sind 2,4 Millionen Kurden zwischen 1980 und 1999 von der türkischen Armee aus ihren mehr als 3.400 zerstörten Dörfern vertrieben worden (diese Zahlen sind jedoch stark umstritten, da hier Wirtschafts- und Armutsflüchtlinge inbegriffen sind).

Die Türkei leugne auch heute noch, dass ein Völkermord an den Armeniern stattgefunden habe. Der türkische Staat verweigere christlichen Kirchen wie auch den Aleviten die Gleichberechtigung mit dem sunnitischen Islam. So werde diesen Religionsgemeinschaften zum Beispiel der öffentlich-rechtliche Status vorenthalten.

Sicherheit

Ohne die Aufnahme der Türkei sei es fraglich, ob die EU die weltpolitische Rolle spielen kann, die sie anstrebt. Erst durch die Aufnahme der Türkei erhalte die EU die "kritische" Größe, um auch zukünftig wirtschaftlich eine wichtige Rolle auf der Welt gegenüber Regionen wie Asien, Nord- und Südamerika zu spielen.

Die türkische Regierung zeige sich für die Lösung des "Zypernkonflikts" offen. Sie habe den Annan-Plan unterstützt, der eine Neuorganisation des zypriotischen Staates unter Einbeziehung von Griechen und Türken vorsah. Der Zypernkonflikt sei noch nicht gelöst worden. Die Türkei erkennt das EU-Mitglied Zypern (griechisches Südzypern) bis heute nicht als Repräsentant der gesamten Insel an. Die Türkei verweigert zudem, trotz Ausdehnung der Zollunion auf Zypern, griechisch-zypriotischen Schiffen den Zugang zu türkischen Häfen. Allerdings kommt auch die EU ihren Zusagen aus 2004 nicht nach, die wirtschaftliche Isloation Nordzyperns zu beenden.

In Zeiten des internationalen islamistischen Terrorismus sei die Aufnahme eines islamisch geprägten Staates in die EU auch ein geostrategischer Vorteil. Die geografische Lage der Türkei inmitten arabischer Staaten im Westen und weiterer islamischer Staaten im Osten biete der EU die Möglichkeit, die Türkei als vermittelnden Brückenstaat in der islamischen Welt zu nutzen. Auf diese Weise diene die Türkei dem Dialog und schwäche zudem einen potenziellen islamischen Block, da die Türkei fortan nur mehr dem laizistisch-westlichen Weltbild zur Verfügung stehen werde.

Das Argument, ein Beitritt der Türkei sei Vorbild für andere "islamische" Staaten und ein Zeichen der Kooperationsbereitschaft des Westens mit diesen, ist nach Ansicht vieler Beitrittsgegner nicht schlüssig, weil die Türkei nach Eigendefinition ein laizistischer Staat sei und zudem in der arabisch-islamischen Welt aus historischen (osmanischer Imperialismus), ethnischen (hier Türken, dort Araber) und religiösen Gründen (Türken werden wegen ihrer relativen Liberalität oft nicht als "echte Muslime" bzw. Sunniten angesehen, und auch mit den Schiiten verbindet sie nichts) isoliert sei.

Wirtschaftliche Auswirkungen

Gegner des EU-Beitritts wie Befürworter verweisen auf die wirtschaftliche Lage in der Türkei. Das neue Beitrittsland sei relativ arm und würde Netto-Empfänger von EU-Geldern, so die Beitritts-Gegner. Allerdings war auch Portugal zum Zeitpunkt seines Beitritts wirtschaftlich ähnlich schwach wie die Türkei und arbeitete sich durch neue Möglichkeiten von Transfer und Investition zu einem gleichberechtigtem Wirtschaftpartner hoch. Polen war 1997, als es die Beitrittsverhandlungen aufnahm, in einer vergleichbaren wirtschaftlichen Situation wie die Türkei heute.

Momentan liegt das Wirtschaftswachstum der Türkei deutlich über dem der Staaten der Europäischen Union. Bulgarien und Rumänien (BSP 2004: 2.248 € bzw. 2.100 € pro Person), deren Beitritt für 2007 schon beschlossen ist, sind wirtschaftlich deutlich schwächer als die Türkei (BSP 2004: 3.436 € p.P.).

Der Beitritt der Türkei würde den Europäischen Binnenmarkt um weitere 70 Millionen Konsumenten erweitern und so diesen gegenüber den Wirtschaftsräumen Nord-Amerika und Asien attraktiver machen. Mit dem erhofftem Anstieg des Wohlstandes in der Türkei könnten Länder wie Deutschland durch höhere Exporte in die Türkei wirtschaftlich von einem türkischen Beitritt profitieren.

Fraglich ist aber, ob für solch einen positiven Impuls nicht schon die bereits bestehenden, weit reichenden Handelsabkommen mit der Türkei ausreichen. Darüber hinaus ist der türkische Markt aufgrund seiner vergleichsweise geringen Kaufkraft für die EU nicht der wichtigste Absatzmarkt. Von Seiten der Türkei ist eine Ausdehnung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit nur logisch, denn die EU ist weithin der einzige große Absatzmarkt für türkische Produkte.

Auch im Hinblick auf die drohende Anspannung auf dem Energiemarkt, könnte die Türkei als EU-Mitglied eine wichtige Stellung einnehmen. Über die Türkei verliefen zukünftig wichtige Öl- und Gaspipelines aus dem Kaukasus und den zentralasiatischen Turkstaaten, was die Abhängigkeit Europas vom Öl und Gas aus dem Nahen Osten und Russland senken würde.

Kosten

Da die Kosten eines Türkeibeitritts stark von den künftigen finanziellen Möglichkeiten der EU und des Entwicklungsstandes der Türkei abhängen, variieren die Kosten und sind daher heute schwer prognostizierbar.

Laut einer Studie der EU-Kommission würde die Mitgliedschaft der Türkei jährlich zwischen 16,5 und 27,5 Milliarden Euro kosten. Das entspricht etwa den Kosten für die zehn neuen EU-Mitglieder, die zusammen etwa so viele Einwohner wie die Türkei haben oder 0,2 Prozent des EU-Bruttoinlandsproduktes (BIP). Diese Prognose beruht auf der Annahme, dass die derzeitige Praxis der Agrar- und Strukturpolitik der Europäischen Union bestehen bleibt.

Bei der Sorge um die von der EU dann zu zahlenden Agrarsubventionen in Höhe von jährlich 9 Mrd. € verweisen Befürworter des Beitritts hingegen auf die Sonderregelungen, die hier bereits gegenüber beigetretenen Ländern des ehemaligen Ostblocks bestünden. Zudem sei fraglich, ob die Agrarsubventionen in ihrer jetzigen Form in zehn Jahren noch existierten.

Die dann anstehenden Zahlungen aus den Strukturfonds zur Entwicklung des ländlichen Raums und Förderung armer Regionen (insgesamt 2,3 Mrd. € jährlich) führen nach Vorstellung von Befürwortern aber nicht zu Mehrausgaben, da sie andernfalls in ein anderes Land geflossen wären. Allerdings ist zu erwarten, dass sich die Bilanz zwischen Einzahlungen in den Haushalt der Europäischen Union und Erhalt von Geldern aus den europäischen Fonds für einige Mitgliedstaaten ändert, so dass ihre individuellen Kosten der EU-Mitgliedschaft als Nettozahler ansteigen.

Integration

Beitrittsgegner führen an, dass durch die Aufnahme der Türkei die Grenzen der EU verschwimmen würden, so dass es kein Argument mehr gebe, Staaten wie Russland, der Ukraine und Marokko die Aufnahme zu verweigern. Wie solle die EU ihre Grenzen definieren wenn nicht geographisch. Diesem Argument wird jedoch gegenüber gestellt, dass für diese Länder von der EU keine Versprechen für eine Aufnahme vorlägen, und bei jedem Beitrittsgesuch fallspezifisch entschieden werden könne. Ausserdem wurde mit Zypern bereits ein Land in die EU aufgenommen das zu 100% auf dem asiatischen Kontinent liegt und weiter von Zentraleuropa entfernt ist als die Türkei.

Die Türkei ist zwar geographisch eindeutig Asien zuzuordnen, aber betrachtet man Europa unter infrastrukturiellen Aspekt, ist die Türkei bereits Europa zugehörig. Die Türkei ist im europäischen Staatenverband fest integriert und ist beispielsweise aus den Zeiten der Gastarbeiter-Zuwanderung in Mitteleuropas zahlreich durch EU-Bürger vertreten. Die Türkei ist auch Mitglied aller wichtigen europaweiten Organisationen (OECD, OSCE, EBRD, Europarat u.a.) mit Ausnahme der EU.

Die Türkei wäre mit einer Bevölkerung von 70 Millionen Menschen nach Deutschland das zweitbevölkerungsreichste Land der EU und erhielte damit erhebliches Gewicht gegenüber Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Dazu kommt, dass die Bevölkerung in Westeuropa abnimmt, und Prognosen davon ausgehen, dass die Bevölkerung der Türkei im Jahr 2050 auf 90 Millionen angewachsen sein werde.

Für die politische Beweglichkeit der EU könnte es problematisch werden, die EU weiter zu erweitern, bevor nicht die inneren Probleme um die Abstimmungsmodi gelöst werden. Jedes Land bedeutet gegenwärtig eine weitere Vetomacht, auch in Bezug auf eine Reform der Abstimmungsmodi. Dieses Argument gilt zumindest solange, bis die Probleme mit der Ratifikation der EU Verfassung ausgeräumt worden sind.

Einwanderung

Einer Hochrechnung der Kommission zufolge könnten bis zu 2,7 Mio. Türken nach einem Beitritt ihr Land verlassen und in anderen EU-Ländern leben und arbeiten wollen. Das entspricht etwa 0,5 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU. Übergangsfristen für die volle Freizügigkeit könnten die Einwanderer aber - ähnlich wie bei der Osterweiterung - regulieren. Österreich hat angekündigt, die Freizügigkeit für türkische Arbeitnehmer permanent beschränken zu wollen. Das Osteuropa-Institut in München rechnet mit bis zu vier Millionen Zuwanderern.

Es sei aber auch fraglich, ob es zu dem befürchteten Zuwandererstrom aus der Türkei nach Westeuropa kommen würde. Der Zuwandererstrom, der nach der Aufnahme Spaniens erwartet wurde, sei damals nicht eingetreten. Zudem sei die Aufnahme der Türkei erst in 10 bis 15 Jahren, mit anschließendem langem Übergangszeitraum von bis zu 7 Jahren in Bezug auf die Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit, angedacht. Des Weiteren könne jeder EU-Mitgliedsstaat im Falle der Türkei die Freizügigkeit für immer ausschließen, wenn das vertraglich so vorgesehen werde. Bei so einem langen Zeitraum könne die Türkei bei einem weiterhin starken Wirtschaftswachstum die wirtschaftliche Kluft zu Westeuropa schließen. Mit dem steigenden Wohlstand werde auch der Immigrationsdruck nach Westeuropa sinken.

Zuwanderung aus der Türkei sei letztlich auch nicht zwangsläufig an eine EU-Mitgliedschaft gebunden. Sollte sie in Zukunft tatsächlich erwünscht sein, so seien die Steuerungsmöglichkeiten bei einem Nicht-EU-Mitglied größer als im Rahmen der (Personen-) Freizügigkeit. Dies gelte zumindest dann, wenn die EU von der derzeit diskutierten permanenten Beschränkung der Freizügigkeit für Türken keinen Gebrauch mache.

Bevölkerungspolitik

Durch die Aufnahme der Türkei werde den alternden Gesellschaften der EU-Länder eine "Verjüngung" zugeführt, was auch zu einer Dynamisierung der EU beitragen könne. Zudem verfüge die Türkei über eine hohe Zahl von gut ausgebildeten Akademikern (2004 waren 1,6 Mio. Türken an den Universitäten des Landes eingeschrieben). Mit ihnen ließe sich der in Deutschland und anderswo in der EU abzeichnende zukünftige Fachkräftemangel reduzieren.

Die Problematik einer "überalternden" Bevölkerung in Europa lasse sich durch den Beitritt auch nicht so einfach lösen, da es sich dabei um einen komplexen Sachverhalt handele. Beides - der Bevölkerungsrückgang wie die Zuwanderung - habe positive wie auch negative Aspekte und es sei fraglich, ob das erforderliche Ausmaß an Zuwanderung von der Bevölkerung überhaupt erwünscht wäre bzw. ob überhaupt die notwendigen Arbeitsplätze vorhanden wären, um das erforderliche Bruttosozialprodukt zu erwirtschaften.

Standpunkte der Bevölkerung

Türkei

Nach neuesten Umfragen steht die türkische Bevölkerung zu ca. 60% hinter einem EU-Beitritt. Viele Bürger der Türkei schätzen die Werte des freien Europa und sind bereit, für einen Beitritt Kompromisse einzugehen. Das sieht man schon allein daran, dass in der Türkei ein beeindruckender Wille zu Reformen und Europäisierung vorhanden ist, wie z. B. die Abschaffung von Todesstrafe und Folter, die Hinarbeitung zu einem Rechtsstaat oder der schrittweisen Entmachtung des Militärs zeigt.

Allerdings gibt es auch gesellschaftliche Gruppen, die gegen einen Beitritt opponieren. Beispielsweise versucht eine nationalistische Jursitenvereinigung mit Klagen die Liberalisierung der Türkei zu behindern. So hatte sie versucht, die erste offizielle Konferenz zum Völkermord an den Armeniern gerichtlich zu untersagen und zeichnet sich verantwortlich für medienwirksame Klagen gegen Journalisten und Schriftsteller wegen "Herabsetzung der türkischen Identität" nach §301/1 des neuen Strafgesetzbuchs.

Europäischen Union

Während die Regierungen der europäischen Staaten beschlossen haben, ab dem 3. Oktober 2005 mit der Türkei Verhandlungen über den EU-Beitritt aufzunehmen, befürworten nur 35% der EU-Bürger nach einer Frühjahrsumfrage des Eurobarometers den Beitritt. Laut der Herbstumfrage 2005 sank die Zahl der Beführworter um 4 % auf 31 % und die Zahl der "Gegner" stieg um 3 % auf 55 %. Einem Eurobarometerbericht aus dem Jahr 2005 zufolge befürworten nur 10% der Österreicher und 21% der Deutschen den Beitritt.

Diese gesamteuropäische Abneigung kommt daher, dass viele EU-Bürger beispielsweise eine Überfremdung und das Anwachsen nationalistischer und rechts-populistischer, ausländerfeindlicher Bewegungen in Europa befürchten. Das muss in den Staaten des Westens verhindert werden, denn geht die Identifikation der europäischen Bürger mit Europa verloren, so droht ein Desintegrationsprozess mit Bewegungen, die den EU-Ausstieg bereits jetzt mit fremdenfeindlicher Politik propagierten.

Eine Aufnahme der Türkei gegen den Willen der meisten EU-Bürger könnte den Unmut über die Europäische Union erhöhen. Gerade nach den Referenden gegen die Ratifikation der EU-Verfassung scheint dies problematisch. Es könnte sogar ein Desintegrationsprozess in Gang gesetzt werden, der viele Errungenschaften der heutigen Union in Frage stellen würde.

Von den "alten" EU-Ländern gibt es nur in Großbritannien eine relative Mehrheit von 45% für einen Beitritt, wobei man bedenken muss, daß Umfragen lediglich Momentaufnahmen sind und Stimmungen sich verändern können. So ist nach neuester TNS Infratest-Umfrage eine Mehrheit der Deutschen für einen Beitritt der Türkei.

Sobald in Frankreich oder Österreich die zugesagten Referenden über eine Aufnahme der Türkei in die EU stattfinden und sich eine Mehrheit gegen einen Beitritt der Türkei ausspricht, wäre der Beitritt gescheitert. Weil die Referenden wahrscheinlich am Ende der Beitrittsverhandlungen stehen - so sie dann noch stattfinden oder notwendig sind - sind schon deshalb Aussagen über deren möglichen Ausgang spekulativ.

Die Standpunkte der Bevölkerung in den größten EU-Staaten:

Gründe für einen Beitritt der Türkei Gründe gegen einen Beitritt der Türkei

Alternative Konzepte zum Beitritt

Jenseits einer Vollmitgliedschaft der Türkei wurden aus verschiedenen Seiten alternative Modelle zur Diskussion gestellt. Prominenteste Beispiele hierfür sind die von der CDU/CSU vorgestellte Privilegierte Partnerschaft.

Siehe auch

Literatur