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Santanachelys

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Santanachelys gaffneyi ist das älteste bekannte Fossil einer Meeresschildkröte. Es stammt aus der frühen Kreide vor etwa 110 Millionen Jahren und stellt somit ein wichtiges Fossil zur Charakterisierung und Erforschung der frühen Evolution der Echten Meeresschildkröten und der Lederschildkröten dar. Santanachelys gaffneyi selbst wird vom Erstbeschreiber Ren Hirayama in eine heute nicht mehr existierende Familie platziert, die als Protostegidae benannt wird. Gefunden wurde Santanachelys gaffneyi in Ostbrasilien in der Santana-Formation, in der neben einer Vielzahl von Fischfossilien auch einige interessante Schildkröten gefunden wurden, neben Santanachelys gaffneyi etwa die dem Taxon Araripemydidae zugeordnete Art Araripemys barretoi (Meylan, 1996) und die in das Taxon Bothremydidae eingeordnete Cearachelys placidoi (2001, siehe Literatur). Der Holotyp (THUg1386), also das der Erstbeschreibung zugrunde liegende und auch einzige Exemplar dieser Art, befindet sich in der Teikyo Heisei Universität in Ichihara, Chiba, in Japan und stellt ein beinahe komplettes und gut erhaltenes Skelett dar.

Namensgebung

Den wissenschaftlichen Namen leitet der Autor der Erstbeschreibung von der Fundstelle Santana in Brasilien sowie der griechischen Bezeichnung chelys für Schildkröte ab. Das Epitheton gaffneyi stellt eine Ehrung für Eugene S. Gaffney dar, der auf dem Gebiet der Fossilforschung bei Schildkröten als Autorität angesehen wird.

Merkmale von Santanachelys gaffneyi

Als wichtigste Merkmale teilt Santanachelys gaffneyi die paddelartigen Gliedmaßen sowie den Aufbau des Schädels mit den heutigen Vertretern der Meeresschildkröten. Die Paddel sind dabei allerdings noch nicht so ausgeprägt und waren wahrscheinlich nur für kurze Schwimmstrecken dienlich. Der Schädel weist einige deutliche Gemeinsamkeiten mit denen heutiger Vertreter auf, etwa die großen interorbitalen Schädelfenster (eine Knochenlücke zwischen den Augen), die vermuten lassen, dass auch diese Art bereits ein Salzausscheidungssystem mit Salzdrüsen besaß. Vermutlich war diese Anpassung als Präadaptation, also als bereits ausgebildetes Merkmal ohne den späteren Selektionsdruck, bereits vorhanden, bevor die Schildkröten endgültig in den marinen Lebensraum gingen. Die Salzdrüsen könnten sich als nützlich in der Lagune erwiesen haben, die die Santana-Formation vor 110 Millionen Jahren wahrscheinlich war.

Von allen anderen bisher bekannten Vertretern der Meeresschildkröten unterscheidet sich Santanachelys gaffneyi durch die besondere, gebogene Form der ersten Rippe sowie durch die bewegliche Verbindung der Mittelhandknochen (Metacarpalia) und der Fingerknochen und eine deutlich andere Form des Oberarmknochens. Bei der offensichtlich sehr nah verwandten Gattung Rhinochelys, von der nur ein Schädel bekannt ist, sind es vor allem die deutlich schmaleren Nasenknochen, die sie von Santanachelys gaffneyi abgrenzt.

Bedeutung des Fossilfundes

Der Fund des Fossils in der Santana-Formation verschiebt den Fossilbefund für die Meeresschildkröten von der späten Kreidezeit, aus der bereits bekannte Fossilien der Gattungen Rhinochelys und Notochelone stammen, etwa um 10 Millionen Jahre in die frühe Kreidezeit. Die Merkmale von Santanachelys gaffneyi charakterisieren sie als den primitivsten Vertreter der bisher bekannten Protostegidae. Des weiteren kann durch diesen Fund nachgeweisen werden, dass eine Trennung der drei Meeresschildkrötenfamilien, den heute noch lebenden Echten Meeresschildkröten (Cheloniidae) und Lederschildkröten (Dermochelyidae) und den ausgestorbenen Protostegidae, bereits in der frühen Kreidezeit oder noch davor stattgefunden haben muss. Auch die Entstehung der Meeresschildkrötenverwandten (Chelonioidea) fand entsprechend wahrscheinlich weit früher statt, als bislang angenommen. Als dritte Besonderheit des Fossils kann herausgestellt werden, dass Santanachelys gaffneyi der erste Fund einer Protostegidae in Südamerika ist. Bei dem gefundenen Tier kann davon ausgegangen werden, dass es sich um ein ausgewachsenes Exemplar handelt; als Indizien dafür kann der hohe Grade der Verknöcherung des Skeletts, vor allem des Schädels und der Gliedmaßen, angesehen werden.

Eine der bedeutendsten Fragen über die Anpassung der meereslebenden Schildkröten ist die nach dem Zeitpunkt, zu dem sich die Gliedmassen zu paddelartigen Schwimmbeinen entwickelt haben, die eine getrennte Bewegung der Finger nicht mehr ermöglicht. Eine primitivere Form der Paddelgliedmaßen mit noch beweglichen Einzelfingern fand man etwa bei den Vertretern der Gattungen Toxochelys und Tasbacka innerhalb der Echten Meeresschildkröten aus dem späten Paläozän. Die Entdeckung der relativ primitiven paddelartigen Gliedmaßen bei Santanachelys gaffneyi bedeutet, dass sich die Paddel bei den drei Gruppen der Meresschildkröten wahrscheinlich unabhängig voneinander entwickelt haben.

Auch die Evolution der bei den heute lebenden Vertretern der meeresbewohnenden Schildkröten wichtigen Salzdrüsen stellt eine wichtige Frage zur Entwicklungsgeschichte der Meeresschildkröten dar. Diese Drüsen helfen den Schildkröten, überschüssiges Salz, welches durch Osmose in den Körper gelangt, auszuscheiden, da die Nieren allein dieser Aufgabe nicht gewachsen sind. Die Salzdrüsen selbst stellen große Drüsen am Innenrand der Augen dar (sie sind größer als das Gehirn der Tiere) und nehmen entsprechend Platz im Schildkrötenschädel ein. Aus diesem Grunde besitzen die Meeresschildkröten ein großes Schädelfenster, das als Foramen interorbitale bezeichnet wird, das durch eine Knochenspange (Processus inferior parietalis) begrenzt wird. Bei den Lederschildkröten fehlt diese Spange vollständig, entsprechend große Salzdrüsen besitzen die Tiere. Die Echten Meeresschildkröten sowie Santanachelys gaffneyi und auch andere Vertreter der Meeresschildkrötenverwandten (Toxochelys, Corsochelys) besitzen diesen Processus noch, jedoch als schmale Spange, während dieser bei noch weiter zurückliegenden Arten breiter ist. Es wird angenommen, dass die Arten mit einer schmalen Knochenspange entsprechend bereits gut ausgebildete Salzdrüsen besessen haben und auch schon in einem marinen Lebensraum gelebt haben müssen; sie haben diesen somit bereits weit vor der Entwicklung der Schwimmpaddel genutzt.

Systematische Position

Aufgrund eines Vergleiches von insgesamt 104 Merkmalen der Skelette verschiedener ausgestorbener und heute noch lebender Meeresschildkrötenverwandter und einiger Arten außerhalb dieses Taxons (Außengruppenvergleich) wurde eine kladistische Stammbaumanalyse durchgeführt, um Santanachelys gaffneyi innerhalb des Systems der Meeresschildkröten einzuordnen. Die Analyse wurde unter Zuhilfenahme der als PAUP (phylogenetic analysis using parsimony) bekannten Software durchgeführt und kam zu dem folgenden Ergebnis (vereinfacht):

|-- Außengruppenvertreter (Chelomacryptodira, Chelydridae und andere)
|-- Meeresschildkrötenverwandte (Chelonioidea)
    |-- Echte Meeresschildkröten (Cheloniidae, heute lebende und fossile Arten)
    |-- Lederschildkrötenverwandte (Dermochelyoidea, heute lebende und fossile Arten)
        |-- Lederschildkröten (Dermochelyidae)
        |-- Protostegidae
            |-- Santanachelys gaffneyi 
            |-- andere Protostegidae (Notochelone, Desmatochelys)

Literatur

  • Ren Hirayama (1998): Oldest known sea turtle, Nature 392, 705 - 708
  • Gafney ES, Diogenes de Almeida Campos, Ren Hirayama (2001): Cearachelys, a New Side-Necked Turtle (Pelomedusoides: Bothremydidae) from the Early Cretaceous of Brazil, American Museum Novitates Number 3319 PDF
  • Maisey, J. G. (ed.) (1991): Santana fossils: an illustrated atlas. Neptune NJ: T.F.H. Publications.