Jugendkultur in der DDR
Jugendkultur oder anders gesagt, die Kultur der Jugend, wird stets geprägt von den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen, in die die Jugend hineinwächst und mit der sie sich auseinanderzusetzen hat.
Wie sich Jugendkultur aber parallel nebeneinander in zwei verschiedenen Gesellschaftssystemen entwickelt, ist vor allem ein Phänomen der deutsch-deutschen Geschichte. Diese Entwicklung war von Anfang an von Abgrenzung und Austausch auf den verschiedensten Ebenen gekennzeichnet. Welches Gewicht dabei die ideologische, politische oder gesellschaftliche Abgrenzung für den Austausch untereinander hatte, ist bisher kaum systemübergreifend als Fragestellung aufgeworfen worden. Wenn wir etwas über die Jugend in Ost und West erfahren wollen oder lesen, dann zumeist subjektive Darbietungen, literarische Werke oder begrenzte Forschungsbeiträge. Mehr als einen Teilbereich zu betrachten, vermag dieser Beitrag in der Kürze aber auch nicht, wenn der Frage nachgegangen wird, ob und wie sich unter den Bedingungen der SED-Diktatur eine DDR-Jugendkultur herausbilden und entwickeln konnte und welcher Austausch mit der westlichen Jugend möglich war. Diese Fragestellung ergibt sich aus eigenen Erfahrungen, dass der Austauschversuch zumeist einseitig von Seiten der Jugendlichen der DDR gesucht und gebraucht wurde. Trotz vieler Unterschiede in Ost und West gab es aber auch immer Gemeinsamkeiten zwischen den Jugendlichen in beiden deutschen Staaten, was nicht zuletzt ein Produkt der Entwicklung der gesellschaftlichen Moderne war.
Verhältnis der SED zur Jugend
Das Verhältnis der SED-Strategen zur Jugend im eigenen Land war stets ein besonderes, getragen von der Ideologie des Klassenkampfes und der Unversöhnlichkeit mit dem Klassenfeind. Ihr Hintergrund war die eigene historische Erfahrung in der Jugendzeit der Weimarer Republik und während der Zeit des Nationalsozialismus. Diese Erfahrungen standen dem propagierten Ziel einer sozialen und gerechten Welt gegenüber. Angesichts der erlittenen Brutalität während der NS-Zeit und der konkreten politischen Verhältnisse nach dem zweiten Weltkrieg erstarrten diese Ziele schnell zu einer von Menschenverachtung geleiteten Ideologie der Angst vor dem, was nicht unter der eigenen Kontrolle stand. Eine zentrale Bedeutung hatte dabei die Tatsche zweier deutscher Staaten. „Es ist zu berücksichtigen, dass die sozialistische Erziehung der Jugend unter den Bedingungen der Existenz des westdeutschen staatsmonopolistischen Herrschaftssystems und der feindlichen Kräfte in Westberlin und Westdeutschland sowie einzelner negativ und feindlich eingestellter Personen im Gebiet der DDR erfolgt.“ Bis Mitte der sechziger Jahre ging man davon aus, die Jugend durch „geeignete Erziehungsmaßnahmen“ an die Ideale des Klassenkampfes heranführen zu können. Allerdings: „Die Entwicklung der jungen Menschen vollzieht sich [...] nicht ohne Konflikte und Schwierigkeiten.“ Wer diese Schwierigkeiten verursachte, war für die SED-Führung im Sinne ihrer Ideologie eindeutig, der Bonner Staatsapparat, die westlichen Geheimdienste, Agentenzentralen und Zentren der politischen und ideologischen Diversion, Film- und Starclubs, kirchliche Institutionen, Rundfunk, Presse und Fernsehen.
Verhältnis der Jugend zur SED
Eingezwängt in das politische Korsett der SED-Ideologie sollte sich eine staatstragende Jugend in der DDR als „Kampfreserve“ der SED herausbilden. Wie nun, wird zu fragen sein, gingen die Heranwachsenden mit den gesellschaftlichen und politischen Forderungen um? Passten sie sich vorbehaltlos an oder konnten sie sich dem ideologischen Zugriff der sogenannten „gesellschaftlichen Organe“ entziehen? Vermochten sie es, eine eigene Identität zu entwickeln, oder war der geforderte Anpassungsdruck so groß, dass ein Ausscheren aus der politisch-ideologischen Begrenzung nicht möglich war? Was bestimmte ihr Leben im Alltag und welchen Blick hatten sie dabei auf den anderen deutschen Staat, auf dessen Jugend und deren Möglichkeiten? Welchen Einfluss hatte dabei die deutsch-deutsche Konstellation auf die Entwicklung einer Jugendkultur in der DDR abseits der offiziellen Forderungen? Diesen Fragen möchte ich in aller Kürze nachgehen und versuchen, eine entwicklungs- und politikgeschichtliche Einordnung und Wertung des jugendkulturellen Milieus in der DDR anzubieten.
Jugend wird zunehmend sichtbarer
Die permanenten Kontroll- und Disziplinierungsversuche von SED und FDJ nötigten von Anfang an zunehmend und immer mehr Jugendliche zu einem Protestverhalten gegen den SED-Staat. Gleichzeitig unterlag die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung einem Modernisierungsprozess, geprägt durch neue Produktionstechnologien, Medien und Formen der Kommunikation. Vor allem die Medien nutzten die Genossen als modernes Mittel der ideologischen Propaganda. Die Medien bedeuteten aber zugleich eine Abgrenzungsmöglichkeit für Jugendliche, denn sie ermöglichten einen unkontrollierten Austausch mit dem Klassengegner, etwa wenn Radiostationen aus der Bundesrepublik gehört wurden. Obwohl es aus der Perspektive der Machthaber keine Spielräume für Andersdenkende geben sollte, änderten sich scheinbar seit Anfang der siebziger Jahre die Entfaltungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten im SED-Staat. Jugendliche kamen aus ihren Nischen heraus und waren zunehmend in den öffentlichen Räumen der Gesellschaft sichtbar. Demgegenüber standen von Anfang an die Bemühungen der SED, diese Entwicklung mit Hilfe des MfS einzudämmen und zu verhindern. Am Beispiel einer Jugendgruppe Jenas möchte ich den Entwicklungsprozess seit Beginn der siebziger Jahre darlegen und belegen, dass vor allem der permanente repressive Druck gegen die Jugendlichen oppositionelles Verhalten und widerständiges Handeln unumgänglich machten. Anders gesagt, so wie man hinein ruft, schallt es heraus.
Mauerbau
Ein wesentlicher Auslöser für den Rückgang an Zuspruch der SED-Ideologie unter der Jugend war der Bau der Mauer im August 1961 und der enorme Anstieg der Propaganda gegen den westdeutschen Klassenfeind. Viele Jugendliche, aber vor allem diejenigen, die in Ost-Berlin lebten, erfuhren den Bau der Mauer insbesondere als markanten Einschnitt in ihr Leben. Bisher gewohnte, wenn auch zunehmend schwierigere, Fahrten nach Westberlin waren nun nicht mehr möglich. Familiäre oder aufgebaute Kontakte und Beziehungen zu Westberliner Jugendlichen funktionierten nun über Nacht nicht mehr. Nach einer Phase der kompletten Abriegelung aller Kontaktmöglichkeiten zwischen Ost und West verstärkte das Regime im Zuge der schrittweisen Lockerung des Grenzverkehrs für Westbesucher immer mehr seine Kontrollen im grenzüberschreitenden Verkehr. Briefe, Päckchen und Reisende wurden über Gebühr kontrolliert und reglementiert. Da trauten sich nur noch wenige Westbesucher, das im Osten Begehrte und Verbotene, zumeist Schallplatten, in den Osten mitzubringen. Eine breite Aufnahme westdeutscher Jugendkultur konnte so nicht stattfinden, auch wenn die Kontakte und Beziehungen zwischen Ost und West nie vollständig unterbunden werden konnten.
Reaktion der Jugend auf den Mauerbau
Die Reaktionen der Jugendlichen auf den Bau der Mauer und die damit verbundenen Einschränkungen des Austausches waren unterschiedlich und zumeist abhängig von biographischen Hintergründen, sozialer Stellung und politischer Einstellung der Eltern. Gleichzeitig entwickelte sich trotz geschlossener Grenzen und verstärkter Propaganda in einzelnen Brennpunkten ein die westliche Jugendkultur nachahmendes Verhalten unter DDR-Jugendlichen. Empfangbare Radiosender der Bundesrepublik lieferten musikalische Neuentwicklungen und prägten das Lebensgefühl im Osten mit. Vor allem die Beat- Blues- und später die Rockmusik beeinflussten diese Entwicklung. Doch während im Westen hieraus ein neues Lebensgefühl und eine Protestbewegung erwuchsen, die sich in den Studentenrevolten und später im linken Terrorismus entluden, entdeckten im Osten vorerst nur wenige junge Menschen die mit dieser Entwicklung verbundene Suche und Chance nach einem Gegenentwurf zur bestehenden Lebenswelt. Das änderte sich, als Jugendgruppen in den Städten mit ihren „Kofferheulen“ unter freiem Himmel auftauchten. Die SED-Strategen bezeichneten die Jugendlichen stereotyp als Gammler und Asoziale, sie passten nicht ins ideologische Bild vom sozialistischen Jugendlichen. Diejenigen Jugendlichen, die sich den westlichen Trends nicht verschließen konnten und wollten, wurden zum Feind erklärt und unterlagen einer Reihe von politischen Verfolgungsmaßnahmen. Die gefürchteten neuen Gruppen tauchten trotzdem immer sichtbarer auf und gehörten bald zum allgemeinen Stadtbild in der ganzen DDR. Auch Kleidung und Haartracht nach westlichem Vorbild kamen jetzt immer mehr in der Breite auf, allerdings oft verbunden mit der Gefahr öffentlicher Ächtung oder gar Repressionen. Immer mehr Jugendliche ließen sich aber davon nicht mehr abschrecken. Die Entwicklung ist bekannt, westliche Musik, Kleidung und Mode setzten sich letztendlich in der DDR durch, wenn auch unter besonderen Bedingungen und Ausformungen. Während die „richtige“ Kleidung oft genug abhängig war von den „richtigen“ Kontakten, wurden die langen Haare zunehmend geduldet und zum Ausdruck freier Entscheidung jedes Einzelnen. Nur so ist wohl zu erklären, warum die langen Haare, abgesehen von der erhofften erfolgreichen Werbung um das andere Geschlecht, besonders unter den männlichen Jugendlichen so rasant an Beliebtheit zunahmen. Lange Haare drückten zugleich bewusst oder unbewusst Abgrenzung von der Elterngeneration, der herrschenden Ideologie und/oder das Bedürfnis nach freier Entfaltung und Emanzipation aus. Vor allem das Streben nach emotionaler, intellektueller und politischer Emanzipation prägte in den siebziger und achtziger Jahren die oppositionelle Jugendkultur eines Teils der Jugend in der DDR.
Verhältnis SED/Jugend am Ende der Ära Ulbricht
Ende der sechziger Jahre schienen die Fronten zwischen Jugend und SED-Staat zunächst geklärt. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns, so die einfachen Spielregeln. Die seit Anfang der siebziger Jahre zunehmende „Verwestlichung“ jugendlicher „Erscheinungsformen“ schien dagegen die These von der psychologischen Kriegsführung des Klassenfeindes neu zu bestätigen. Man unterstellte, der Klassenfeind versuche mit allen Mitteln, jedoch besonders über die zugänglichen Medien wie Fernsehen und Radio, ideologisch unsichere Jugendliche für seine politischen Ziele zu rekrutieren und zu missbrauchen. Ziel sei dabei die Unterwanderung der sozialistischen Gesellschaft und deren Sturz. Besonders die westlichen Radiosender untergruben das Nachrichten- und Informationsmonopol der SED. Von solchen staatstragenden Zusammenhängen hatten die meisten Jugendlichen allerdings wenig Ahnung trotz permanenter ideologischer Propaganda gegen den Klassenfeind. Sie interessierten sich für die westliche Jugendkultur vor allem deshalb, weil die Jugendpolitik in der DDR unflexibel, starr und zumeist lustlos vorgetragen war. Die Angebote hatten infolgedessen kaum Zugkraft und waren ideologisch völlig überfrachtet. Jugendliche spürten hingegen zunehmend die Auswirkungen des Misstrauens und die repressiven Maßnahmen, die sich gegen sie richteten. Die Methoden waren Disziplinierung, Isolierung, Zerrüttung und Kriminalisierung, und firmierten unter dem Begriff der „Zersetzung". Fruchtete keine der angewandten Methoden, und die Geduld der Genossen war schnell am Ende, blieben oft nur der Gang in das Gefängnis oder der Weg in den Westen. Für viele vor allem junge Menschen führte der Weg in die Bundesrepublik über den schmerzlichen Umweg ins Gefängnis in die Freiheit – willst Du raus, musst Du rein, so das Motto und die Erfahrung vieler. Die widersprüchliche Ausreisepolitik der SED seit Mitte der siebziger Jahre war vor allem der internationalen Anerkennungspolitik der SED geschuldet. Permanente „Störer“, „Unverbesserliche“ und „Feinde des Sozialismus“ wurden besonders im Interesse der außenpolitischen Beziehungen zur Bundesrepublik immer wieder in Wellen aus dem Land gejagt, darunter stets viele Jugendliche und seit Ende der siebziger Jahre zunehmend Künstler, Intellektuelle und beruflich Etablierte . Viele andere mussten dagegen um ihre Ausreise jahrelang kämpfen. Das trieb teilweise solche absurden Blüten, dass Ausreisewillige mutwillig VP-Angehörige beleidigten, angriffen oder andere öffentliche Aktionen durchführten, um „einzufahren“. Doch so einfach diese Variante zum Verlassen der DDR auch manchem erschienen sein mag, so willkürlich waren die genehmigten Ausreisen, zumeist abhängig von der politischen Großwetterlage und den Verhandlungen zum Freikauf politisch Verfolgter durch die Bundesrepublik, die damit ihrerseits politische Ziele verfolgte.
Nach dem Machtantritt Honeckers
Nachdem Honecker 1971 an die Macht gelangte, schien es für eine kurze Zeit so, als entspannte sich die geistige, kulturelle und politische Lage in der DDR. Honeckers Spruch, es komme nicht darauf an, was jemand auf dem Kopf trage, sondern was in ihm stecke, ermutigte viele Jugendliche zu eigener Kreativität und zum offenen Umgang mit westlich geprägten Jugendtrends. Die neue politische Ausrichtung versprach eine Liberalisierung der Gesellschaft. Besonders die langen Haare bestimmten nun den Modetrend vieler Jugendlicher. Auch in Kunst und Kultur schien sich Neues entfalten zu können. Jugendliche verließen vielerorts ihre bisherigen Nischen und versuchten, sich im öffentlichen Raum einzubringen. Ein Beispiel dafür ist der Arbeitskreis Literatur in Jena.
Beispiel Arbeitskreis Literatur Jena
Er entstand parallel zur neuen kirchlichen Jugendarbeit „Offene Arbeit“ [1]in Jena. Der Arbeitskreis Literatur wie der kirchliche Jugendkreis wurden maßgeblich von Jugendlichen ins Leben gerufen, die zu dieser Zeit die Abiturschule besuchten. Im weiteren Prozess vermischten sich diese Kreise mit Jugendlichen aus Real- und Berufsschulen sowie auszubildenden jungen Arbeitern und Studenten. Diese soziale Durchmischung ist ein für Jena typisches Phänomen, dessen Hintergrund die geographische Lage sowie die geistig-universitäre und industrielle Arbeitertradition der Stadt Jena bildete und bis heute eine einzigartige soziale Gemengelage erzeugt. Der Arbeitskreis Literatur um Lutz Rathenow, Bernd Markowsky, Wolfgang Hinkeldey, Udo Scheer und Siegfried Reiprich entstand in einer Phase zwischen Mitte 1973 und Anfang 1974. Ziel war die Schaffung eigener sowie die Ausnutzung vorhandener Freiräume. Ausgangspunkt war dabei die Vorstellung, gegen die allgemein wahrgenommene Gleichgültigkeit in der Gesellschaft anzukämpfen. Soziale Gemeinsamkeiten, sich überschneidende jugendgemäße Interessen und der Wille zur Individualität verbanden die Akteure zu einer Gruppe, die jedoch schnell ins Blickfeld von SED und MfS gerieten. Anfangs versuchte die SED noch über die FDJ, die Akteure und die Gruppe in die gesellschaftliche Kulturpolitik zu integrieren. Einzelne Akteure wurden mehrfach zu Literaturwettbewerben eingeladen. Lutz Rathenow wurde sogar angeboten, Mitglied der FDJ-Kreisleitung in Jena zu werden. Doch die Interessen der jungen Schriftsteller und Intellektuellen richteten sich vielmehr auf gesellschaftliche Probleme, die den Genossen zwar bekannt, aber weitgehend ignoriert wurden. Sie wollten die Welt, in der sie leben, begreifen, verstehen und mit ihrem jugendlichen Idealismus positiv verändern. Sie interessierten sich deshalb auch für Schriften von Philosophen wie Ernst Bloch, Herbert Marcuse und Robert Havemann. Jürgen Fuchs, der junge kritische Schriftsteller aus Greiz, der gerade in Jena Arbeitspsychologie studierte, inspirierte ihren Blick auf die politischen Verhältnisse in der DDR. Diese diskutierten sie in regelmäßigen Runden mit anderen Jugendlichen und schrieben Gedichte über ihre Erfahrungen, die sie dann den erstaunten Genossen unverhohlen präsentierten:
Betrachtung
Mond, du alter Spitzel: von oben
Wo man schwer hinkommt
Sieh Mond, meine Unschuld
Ich schwöre)
Ist so echt wie dein Leuchten
oder
BIERDECKELINSCHRIFT
schnöde ist die welt
die menschheit ist von grund auf schlecht.
darum studiert mathematik,
denn da ist noch alles in ordnung!
( Abdruck mit freundl. Genehmigung von Siegfried Reiprich)
Später fassten sie die damalige Suche als die Suche nach einem veränderbaren und demokratischen Sozialismus zusammen. Sie wollten kein Loblied auf die bestehenden Verhältnisse singen, sondern den Blick schärfen, richten auf bestehende Probleme, die aus ihrer Sicht zu verändern gewesen wären. Das glaubten sie jedenfalls. Die Illusion vom freien emanzipierten Aufbegehren hielt aber nicht lange an. Repressionsmaßnahmen gegen Jürgen Fuchs und die Mitglieder des Arbeitskreises Literatur schufen seit Mitte 1974 ein Klima der Unsicherheit und des Misstrauens. Trotzdem gaben die Initiatoren, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, nicht auf und führten den Kreis noch bis ins Jahr 1975 fort, bevor sie ihn selbst auflösen mussten. Es hatte sich als illusorisch erwiesen, unabhängig von staatlicher Kontrolle, Reglementierung und Repression Kreativität und geistig-intellektuell geprägte Individualität im Kollektiv zu entfalten. Für einige führte die Enttäuschung zum Rückzug ins Private, andere engagierten sich nun politisch noch gezielter, und wieder andere versuchten einen Weg zwischen Anpassung und Individualität zu finden. Das politische Engagement einiger von ihnen führte im Ergebnis zum Zusammengehen mit Akteuren aus der kirchlichen Jugendarbeit und mündete in einem erneuten Lesekreis, an dem sich verstärkt Jugendliche aus der Arbeiterschaft aktiv beteiligten. Das MfS führte hingegen über jede Bewegung der einzelnen Gruppen und nun über ihr Zusammengehen zahlreiche „Operative Kontrollen“ oder „Operative Vorgänge“. Als sich die für das MfS dennoch eher unüberschaubaren Gruppen 1976 gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann mit den protestierenden DDR-Schriftstellern solidarisierten, schlug das MfS zu, inhaftierte und vertrieb die vermeintlichen Rädelsführer in den Westen, unter ihnen Jürgen Fuchs und der damalige Jugenddiakon der Jungen Gemeinde Thomas Auerbach.
Das an westlicher Jugendkultur (Mode, Musik, Habitus) ausgerichtete und anfänglich idealistische Aufbegehren der Jugendlichen Anfang der siebziger Jahre war schon nach kurzer Zeit an der ideologischen Starre des SED-Regimes gescheitert und führte schließlich auf Grund der permanenten Repressionen zur Solidarisierung und Politisierung eines Teils der Jugend. Dabei spielte die zunehmende Hinwendung zur kirchlichen Jugendarbeit eine zentrale Rolle, weil man sich hier frei äußern und interessiertes Publikum finden konnte. Die anhaltenden Repressionen und der inhaltliche wie personelle Austausch führten schließlich zur Herausbildung oppositioneller Gruppierungen in der gesamten DDR. Damit hatten SED und MfS nicht nur nicht gerechnet, sondern sie hatten genau das Gegenteil erreicht von dem, was ihr eigenes ideologisches Ziel war, „der Kampf der jungen Generation für politische und soziale Rechte sowie das Recht auf Arbeit und auf politische Mitbestimmung.“
Der Prozess der Politisierung von Jugendlichen hin zu konkreter Opposition wiederholte sich deshalb vielfach in zahlreichen Orten der DDR in ähnlicher Art und Weise. Hieraus, vor allem aber aus der Hinwendung und Anlehnung an westliche Vorbilder in der Gesellschaft, bezog die sich seit Ende der siebziger Jahre entwickelnde Friedensbewegung der DDR ihre potentielle Kraft und politische Ausrichtung, wenn auch die Ziele im Wesentlichen auf die DDR selbst gerichtet waren.
Resümee: Jugend in der DDR
Die eingangs aufgeworfene Fragestellung, ob sich in der DDR eine eigenständige DDR-Jugendkultur herausgebildet und entwickelt hat, kann aus den vorausgegangenen Ausführungen nicht abgeleitet werden. Woran sich die Jugend in der DDR dagegen orientierte, kann sehr wohl beschrieben und eingeordnet werden. Es gab eine Vielzahl von spezifischen Jugendinteressen und Gruppen, die sich zumeist in ihren Bedürfnissen und ihrem Habitus an westlicher Jugendkultur und ihren Moden orientierten. Die Kultur der Ideologie der FDJ, mag sie auch in Einzelfällen positiv empfunden worden sein, war vor allem propagierte Kulisse einer mental und seelisch erstarrten Führung, die letztlich erfolglos ihre prägenden Erfahrungen aus den zwanziger und dreißiger Jahren der Jugend in der DDR zu oktroyieren versuchte. Die Jugend der DDR orientierte sich in ihren Bedürfnissen stets am Westen, dessen Präsenz allgegenwärtig in Zuwendung oder Ablehnung war. Umgekehrt bestand auf Seiten der westdeutschen Jugend insgesamt nur wenig Interesse am Osten und seiner Jugend. Bestenfalls kannte man bis Mitte der siebziger Jahre die Landkarte. Erst die Biermann-Ausbürgerung und die Medienarbeit über oppositionelle Gruppen der DDR schienen das Interesse sichtbar zu verstärken. Ein zusätzlicher Indikator war die Friedensbewegung in Westdeutschland. Trotzdem, ein wirklicher Austausch zwischen der Jugend in Ost- und Westdeutschland fand außerhalb vorhandener familiärer Kontakte oder politisch motivierter Informationsübertragung nur selten statt. Das zunehmende Interesse der Medien in der Bundesrepublik an der DDR beförderte jedoch die Beachtung von Kultur und Sport aus der DDR im westlichen Ausland. In den achtziger Jahren waren westdeutschen Jugendlichen die wenigen personalisierten DDR-Markenartikel zumindest bekannt. Sie repräsentierten zugleich die Jugend der DDR im Westen, so u. a. die Musikgruppen Puhdys, Karat und Pankow, der Sänger und Schauspieler Frank Schöbel sowie die Eiskunstsportlerin Kati Witt. Sie alle waren Aushängeschild einer vermeintlichen Jugend- und Sportkultur der DDR und ein Exportschlager. Darunter aber brodelte die Szene und setzte zu immer neuen Befreiungsschlägen an. Die von den ideologischen Strategen des SED-Regimes wortverdreht aufgeladene und gern verbreitete These, der Kapitalismus fresse seine Kinder, schlug nun in umgekehrte Richtung zurück. Die materielle und die integrative Kraft der bundesdeutschen Gesellschaft rollte 1989 über die ökonomischen Überreste der DDR hinweg wie ein Sturm. Übrig blieb die Ostalgie [2]. Sie allein generiert in ihrer verklärenden Erinnerung eine DDR-Jugendkultur, die im Gegenteil in sich und in der Ausrichtung ihrer Bedürfnisse in Abhängigkeit von der jeweiligen politischen Situation höchst unterschiedlich ausgerichtet war. Es gab also neben einer der SED Ideologie gemäßen Organisation der Kultur der Jugend stets auch eine subkulturelle Jugendkultur in der DDR in Anlehnung an westliche Vorbilder, die sich letztendlich durchsetzte. Eine eigenständige DDR-Jugendkultur gab es dagegen nicht.
Literatur
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- Lindner, Bernd: Das eigentliche Gestaltungsfeld. Kulturelle Prägungen der Jugendgenerationen in der DDR. In: Deutschlandarchiv Zeitschrift für das vereinte Deutschland, Heft 1/2005.
- Rohmannn, Gabriele: Are the kids allright? Jugendkulturen zwischen Politik, Kommerz und neuem Nationalbewußtsein. In: Deutschlandarchiv Zeitschrift für das vereinte Deutschland, Heft 1/2005.
- Siegfried, Detlef: Turn On, Tune In, Drop Out. Gegenkultur und Massenkultur in der westdeutschen Konsumgesellschaft der 60er Jahre. In: Deutschlandarchiv Zeitschrift für das vereinte Deutschland, Heft 1/2005.
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- Lehmann, Joachim: An der Weltwand. Hamburger Lyriktexte 13, Hamburg 1974.
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- Ohse, Marc-Dietrich: Jugend nach dem Mauerbau, Anpassung, Protest und Eigensinn (DDR 1961-1974), Berlin 2003.
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- Reiprich, Siegfried: Der verhinderte Dialog. Meine politische Exmatrikulation, Berlin 1996 / 2001 (erweiterte Auflage).
- Scheer, Udo: Vision und Wirklichkeit, Die Opposition in Jena in den siebziger und achtziger Jahren, Berlin 1999.
- Rauhut, Michael: Kleine Fluchten, Vom Blues einer unruhevollen Jugend. In: Rauhut, Michael, Thomas Kochan Hg.: „Bye Bye, Lübben City, Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR, Berlin 2004.
- Funk, Thomas P.: Unterm Asphalt, Die Kunden vom Lichtenberger Tunnel; In: Rauhut, Michael, Thomas Kochan Hg.: „Bye Bye, Lübben City, Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR, Berlin 2004.
- Suckow, Michael: Grün und blau schmückt die Sau, Der Stil der Szene, In: Rauhut, Michael, Thomas Kochan Hg.: „Bye Bye, Lübben City, Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR, Berlin 2004.
- Herz, Andrea: Bürger im Visier. Landesbeauftragte des Freistaates Thüringen Hg., Erfurt 1996.
- Pingel-Schliemann, Sandra: Observieren, zersetzen, liquidieren, Zersetzungsstrategien des Ministeriums für Staatssicherheit gegen „feindlich-negative“ Kräfte in der DDR, Dissertation, Hamburg 2000.
- Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde e.V., Berlin Hg.: Fluchtziel Berlin, Die Geschichte des Notaufnahmelagers Berlin-Marienfelde, Berlin 2000.
- Rathenow, Lutz: Zangengeburt, Gedichte, München 1982.
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- Ministerium für Volksbildung der DDR Hg.: Schulbuch der DDR für Geschichte 10. Klasse, Verlag Volk und Wissen, Berlin 1977, S. 62, Gründung der FDJ am 7. März 1946.
- Oschlies, Wolf: Jung sein in der DDR. In: Edition Deutschlandarchiv Hg.: Lebensbedingungen in der DDR. Siebzehnte Tagung zum Stand der DDR-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland 12.bis15. Juni 1984, Köln 1984.
- Rauhut, Michael, Thomas Kochan Hg.: „Bye Bye, Lübben City, Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR, Berlin 2004.
- Büscher, Wolfgang: Für manche leuchtet der Westen matter. Einstellungen kritischer DDR-Jugendlicher zum Westen am Beispiel der Zeitschrift „Temperamente“. In: Edition Deutschlandarchiv Hg.: Lebensbedingungen in der DDR. Siebzehnte Tagung zum Stand der DDR-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland 12.bis15. Juni 1984, Köln 1984.
- Leitner, Olaf: Ideologische Aspekte sozialistischer Unterhaltungskunst. Anspruch und Wirklichkeit einer Massenkultur in der DDR. In: Edition Deutschlandarchiv Hg.: Die DDR vor den Herausforderungen der achtziger Jahre. Sechzehnte Tagung zum Stand der DDR-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland 24.bis27. Mai 1983, Köln 1983.
- Fehr, Helmut: Sozialistische Lebensweise und gegenkulturelle Orientierungen. In: Edition Deutschlandarchiv Hg.: Lebensbedingungen in der DDR. Siebzehnte Tagung zum Stand der DDR-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland 12.bis 15. Juni 1984, Köln 1984, S. 77. „Eine eigenständige Jugendkultur wird für die DDR als Randphänomen aufgefasst; die Rolle nichtorganisierter Bezugsgruppen Jugendlicher wird auf den Freizeitbereich beschränkt oder als Ausdruck eines unpolitischen Generationskonfliktes klassifiziert.