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Venus von Bierden

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Venus von Bierden, ausgestellt im Niedersächsischen Landesmuseum als Fund bei der NEL-Verlegung

Die Venus von Bierden ist ein frühmesolithisches Steingerät, das wegen seiner eingravierten anthropomorphen Darstellung eines Frauenkörpers als Venusdarstellung angesehen wird. Es handelte sich um einen etwa 5 × 7 cm großen Sandstein, der im Jahre 2011 bei Bierden im Landkreis Verden bei baubegleitenden archäeologischen Prospektionen vor der Verlegung der Nordeuropäischen Erdgasleitung (NEL) gefunden wurde. Die Entstehungszeit des Artefakts, das ursprünglich als Retuscheur für Steingeräte diente, lässt sich anhand der Fundsituation auf etwa 9.000 v. Chr. datieren. Der Stein stellt die bisher älteste Frauendarstellung in Norddeutschland dar.

Entdeckung

Klaus Gerken entdeckte als Grabungsleiter in Bierden das Steingerät mit der Venus von Bierden

Vor der Verlegung der NEL-Pipeline initiierte das Niedersächsische Landesamt für Denkmalpflege (NLD) auf der Erdgastrasse umfangreiche archäologische Prospektionmaßnahmen; hierbei nahmen bis zu 13 Grabungsunternehmen Untersuchungen im Gelände vor. Dabei entdeckte im Sommer 2011 ein Grabungsteam Reste einer bronzezeitlichen Siedlung, die sich in der Nähe eines Bahndamms bei Bierden befand. Zum Erkennen von weiteren Befunden, wie Pfosteneintiefungen, wurden die jeweils etwa 25 cm starken Schichten des rezenten, mittelalterlichen und bronzezeitlichen Bodens bis auf den spätglazialen holozänen Sanduntergrund abgetragen. In diesem Bodenhorizont fand sich ein etwa 100 Quadratmeter großer Bereich mit einer breiten Streuung von Feuersteinartefakten, darunter Mikrolithen. Diese sind nicht im bronzezeitlichen Kontext zu sehen, sondern haben einen älteren, steinzeitlichen Entstehungshintergrund. Der Fundort liegt etwa 1.600 Meter vom heutigen Verlauf der Weser entfernt auf einem leicht erhöhten Schwemmsandrücken am Rande der Flussniederung. Die Stelle bot sich damals als Lagerplatz steinzeitlicher Jäger- und Sammlergruppen an. Sie war von im Laufe der Zeit aufgetragenem Eschboden vor einer Zerstörung durch die moderne Landwirtschaft geschützt. Im Fundareal fanden sich die Reste einer Feuerstelle mit verbrannten Tierknochen entdeckt, was die Annahme eines steinzeitlichen Lagerplatzs bestätigte. Zum Fundmaterial im Fundareal gehörten mehrere Steine, die als Retuscheur genutzt wurden. Darunter war ein quarzitischer Sandstein mit intentionell gesetzten Ritzlinien, die beim Grabungsteam den Eindruck eines stilisierten Frauenkörpers erweckten. In Anlehnung an das Pipelinekürzel NEL bekam dieses Fundobjekt zunächst den Spitznamen Nelly, der sich kurzfristig in die Bezeichnung Venus von Bierden änderte. Zum Teil wird auch der Begriff: "Nelly, die Venus von Bierden genannt.[1] Rund 50 Meter von der Fundstelle entfernt, wurde ein etwa gleichgroßes und gleichartiges Fundareal archäologisch untersucht. Beide Fundstellen stellen in Niedersachsen bedeutsame Fundorte des Mesolithikums dar.

Gravur

Gravur des Sandsteins

Die Gravur auf dem Sandstein besteht aus zwei konvergierenden Ritzlinien, die offenbar die Beinpartie und den Körper einer unbekleideten Frau darstellen sollen. Die linke Körperseite ist prononciert ausgebildet. Auf den ersten Blick scheint es sich um eine Frontalansicht auf eine Frau zu handeln. Ebenso könnte es sich um eine mehrdimensionale Ansicht handeln, bei der die betont gebogene Linie für eine Seitenansicht einer Frau mit ausgeprägtem Gesäß steht. Derartige gesäßbetonte Darstellungen sind vielfach aus der Steinzeit bekannt. Bei der Linienführung sehen heutige Kunstkenner wegen des minimalistischen Stils Ähnlichkeiten zu Picasso. [2] Die Frauendarstellung weist, wie andere steinzeitliche Darstellungen, weder Kopf noch Füße auf. Der Schambereich zwischen den Beinen ist als Kerbe angedeutet. Im Bereich des Bauchnabels befindet sich eine kleine Mulde, wobei bislang nicht sicher ist, ob sie absichtlich gesetzt ist oder ob es sich um eine Nutzungsspur am Retuscheur handelt. Die Nelly hat zwei verschiedene Körperseiten, die sich von ihrer rechten Seite und als dem Bauchnabel und der Scham von vorn zeigt. Die Ausbuchtung auf ihrer linken Seite ist vermutlich im Profil zu sehen und soll entweder das Gesäß oder den Bauch einer Schwangeren darstellen. Der Stein weist anhand seiner Ritz-, Schliff- und Politurspuren drei Aktivitätsphasen mit unterschiedlicher Nutzung auf. Nach der Gravur wurde er in seiner ursprünglichen Funktion als Retuscheur weniger genutzt wurde.

Datierung und Deutung

Der Sandstein mit der Gravur fand sich in einem präborealen Schichtzusammenhang im Bereich von Feuersteinartefakten, die sich der Kulturphase der Federmesser-Gruppen (12.000–10.800 v. Chr.) zuordnen lassen. Abweichend davon ergaben Datierungen mittels der C-14-Methode, die an Holzkohle- und Knochenresten der Feuerstelle vorgenommen wurden, eine Zeitstellung zwischen 9.200 und 8.800 v. Chr. Da der Sandstein stratigraphisch im Zusammenhang mit der Feuerstelle steht, ist seine Nutzungszeit im frühen Mesolithikum (ab 9.600 v. Chr.) anzusetzen. Ähnlich stilisierte Personendarstellungen sind bereits aus der Zeit des Magdalénien (18.000-12.000 v. Chr.) bekannt. Das könnte bedeuten, dass die Menschen des Mesolitikums über mehrere Jahrtausende hinweg die Tradition der figürlichen Darstellungsweise aus dem Magdalénien übernommen hätten.

Präsentation

Das Fundstück wurde erstmals öffentlich zwischen August 2013 und März 2014 im Niedersächsischen Landesmuseum ausgestellt. Dort ist es nicht als Venus von Bierden benannt, sondern wird als bei Bierden gefundenes Werkzeug mit eingravierten Linien bezeichnet, das analog zu altsteinzeitlichen Funden die älteste Frauendarstellung in Norddeutschland trägt. Das Fundstück gehört zur Sonderausstellung Im Goldenen Schnitt – Niedersachsens längste Ausgrabung. Thema sind die zwischen 2010 und 2013 vorgenommenen Ausgrabungen auf der Erdgastrasse der NEL. Die Grabungen stellten das bisher größte Archäologieprojekt in Niedersachsen dar und führten mit etwa 150 Fundstellen zur Entdeckung weitgehend unbekannter Siedlungsstellen sowie Gräberfelder. Da das Niedersächsische Landesamt für Denkmalpflege bestrebt ist, die Fundstücke von der NEL-Trasse örtlichen Museen zur Verfügung zu stellen, könnte die Venus von Bierden zukünftig ihren Verbleib im Domherrenhaus als historischem Museum in Verden finden. [3]

Kritik

Zweifel an der figürlichen Darstellung

Unter den Venusfigurinen gehört die Venus von Bierden zu den umstrittenen Darstellungen. Gesichert ist, dass der als Retuscheur genutzte Sandstein von Menschenhand modifiziert wurde und sich aufgrund der Fundsituation ins frühe Mesolithikum datieren lässt. Verschiedentlich werden Zweifel darüber geäußert, ob die aufgebrachten Ritzlinien als figürlich anzusehen sind, da im norddeutschen Tiefland aus dieser Zeitstellung bisher keine ähnlich geartete Darstellung bekannt ist. Das Fehlen entsprechender Funde kann aber auch durch die schlechten Erhaltungsbedingungen für Knochen-, Bernstein-, Leder- und Holzmaterialien, auf denen derartige Zeugnisse zu erwarten sind, im überwiegend sandigen Boden bedingt sein. Des Weiteren gibt es im Flachland kaum Höhlen mit entsprechend günstigen Erhaltungsbedingungen.

Umstrittene Venus-Bezeichnung

Eröffnung des Workshops zur figuralen Kunst vom mesolithischen Fundplatz Bierden durch den Prähistoriker Thomas Terberger

Bereits Anfang 2013 brachte die britische Kuratorin und Archäologin Jill Cook bei einer Ausstellung zur Eiszeitkunst im British Museum in London eine Diskussion um die Benennung von Venusfigurinen in Gang. Die dort gezeigte Venus von Willendorf wurde als „Skulptur einer Frau“ deklariert. [4] Ebenso kam wegen der im Jahr 2011 gefundenen Venus von Bierden unter Archäologen eine Diskussion zum eingebürgerten Terminus technicus Venus auf. In der Debatte tauchten Argumente auf, dass der Begriff nicht der Political Correctness entspräche, da er als kunstgeschichtlicher Genrebegriff des 19. Jahrhunderts vornehmlich das damalige Geschichtsbewusstsein ausdrücke. Auch sei nicht klar, ob es sich bei der Darstellung um Göttinnenverehrung handele, da die Gravur auch ein Fruchtbarkeitssymbol oder ein frühes Pin-up [2] eines steinzeitlichen Handwerkers darstelle könne. [5] Die Diskussion führte im Februar 2014 zu einem Workshop unter Beteiligung von Fachwissenschaftlern, wie den Prähistorikern Svend Hansen und Thomas Terberger sowie Vertretern des British Museum und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Die Veranstaltung unter dem Tenor „Neufund figuraler Kunst vom mesolithischen Fundplatz Bierden 31 im Kontext steinzeitlicher Frauendarstellungen“ wurde vom Niedersächsischen Landesmuseum und dem Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege in Hannover ausgerichtet. [6] Begleitend gab es dort zur Themenstellung „Steinzeit-Pin-ups oder Muttergottheit?“ eine Diskussionsveranstaltung zu Frauendarstellungen in der Eiszeitkunst, die von der NDR-Journalistin Margarete von Schwarzkopf moderiert wurde. [7]

Literatur

  • Klaus Gerken: Späte Altsteinzeit oder frühe Mittelsteinzeit – Die Venus von Bierden wirft viele Fragen auf, in: Berichte zur Denkmalpflege in Niedersachsen, 1/2012
  • Strichmädchen auf der Trasse in: Archäologie in Deutschland, 3/2012
  • Henning Haßmann: Niedersachsens längste Ausgrabung: Ein goldener Schnitt in: Im Goldenen Schnitt. Niedersachsen längste Ausgrabung, Hrsg. Babette Ludowici, Schrift zur Sonderausstellung im Niedersächsischen Landesmuseum Hannover Im Goldenen Schnitt – Niedersachsens längste Ausgrabung, 2013, Petersberg.

Einzelnachweise

  1. Nelly, die Venus von Bierden beim Landkreis Verden
  2. a b Venus von Bierden: Ein steinzeitliches Pin-up-Girl
  3. Anke Ullrich Der Steinzeitdame das Alter entlocken in Sonntags-Tipp vom 11. September 2011
  4. Julia Voss: Ganz alte Meister. Eiszeit in London in: FAZ vom 8. Februar 2014
  5. Tina Hayessen: Die Emanzipation der Venus in Weser-Kurier vom 10. Februar 2014
  6. Steinzeit-Pin-up oder Muttergottheit? in Archäologie in Deutschland vom 6. Februar 2014
  7. Veranstaltungen im Landesmuseum

Koordinaten: 53° 1′ 24,8″ N, 8° 59′ 48,2″ O