Diatonik
Diatonik (von griech. διάτονος = durch Ganztöne gehend [1] [διά = durch, τόνος = Anspannung, Ton][2]) ist ein musiktheoretischer Begriff, der oft benutzt wird, um eine bezüglich Melodik und Harmonik eher einfache[3] musikalische Gestaltung zu kennzeichnen, die auf Chromatik und Enharmonik verzichtet.
Diatonische Tetrachorde sind Viertonfolgen, bestehend aus zwei Ganztonschritten und einem Halbtonschritt.
Diatonische Tonleitern sind meistens siebenstufige (heptatonische) Tonleitern, die den Oktavraum in fünf Ganz- und zwei Halbtonschritte aufteilen. Sie unterscheiden sich von nichtdiatonischen Leitern durch folgende notwendigen[4] Merkmale:
- Alle Tonleiterstufen sind von verschiedenen Stammtönen abgeleitet, was sich äußerlich darin spiegelt, dass ihre Bezeichnungen alle mit verschiedenen Buchstaben anfangen.
- Zwischen benachbarten Stufen treten keine übermäßigen oder verminderten Intervalle auf.
(Beispiele: C-D-E-F-G-A-H oder H-Cis-Dis-E-Fis-Gis-Ais oder Des-Es-Fes-Ges-As-B-C)
Die „klassischen“ diatonischen Tonleitern (Dur, Moll und die Kirchentonarten) erfüllen zusätzlich die Bedingung, dass sie sich (unter Hinzufügen eines weiteren Ganztonschritts) aus zwei diatonischen Tetrachorden zusammensetzen lassen. Auch lassen sich die Töne dieser Tonleitern durch Qintenschichtung (s. u.) gewinnen. In Erweiterung dieser ursprünglichen strengen Definition werden heute von einigen auch solche Tonleitern als diatonisch bezeichnet, die ausschließlich die Bedingung erfüllen, die Oktave in fünf Ganz- und zwei Halbtöne zu unterteilen. Beispiele hierfür sind die akustische und die alterierte Skala. Außerdem können nach heutigem Verständnis auch Tonleitern als diatonisch angesehen werden, die weniger als sieben Töne enthalten, wie z.B. die anhemitonisch-pentatonischen Leitern, welche den Otvavraum in drei Ganztonschritte und zwei Terzen aufteilen.[5]
Seit dem frühen Mittelalter[6] bildeten diatonische Tonleitern die Grundlage der abendländischen Musik, zunächst in Form der Kirchentonarten, später als Dur-Moll-System. Um die Wende zum 20. Jahrhundert löste sich ein Teil der Komponisten von der diatonischen Dur-Moll-Tonalität. [7]
Beispiele für diatonische und nicht (vollständig) diatonische Tonleitern
Die bekanntesten und wichtigsten diatonischen Tonleitern sind heute die Dur- und die (natürliche) Molltonleiter:
mit folgender Verteilung von Ganz- und Halbtonschritten:
C-Dur c' d' e' f' g' a' h' c" Tonschritt Ganzton Ganzton Halbton Ganzton Ganzton Ganzton Halbton c-Moll c' d' es' f' g' as' b' c" Tonschritt Ganzton Halbton Ganzton Ganzton Halbton Ganzton Ganzton
Weitere diatonische Tonleitern sind z.B.
- die melodische Molltonleiter
- die Kirchentöne und die heute auf sie zurückgreifenden modalen Tonleitern
- die vor allem im Jazz verwendete alterierte Skala
- die akustische Skala
- die anhemitonisch-pentatonischen Leitern
Nicht (vollständig) diatonisch sind:
- die harmonische Molltonleiter, da sie eine übermäßige Sekunde (Hiatus) enthält.
- die Zigeunertonleitern, da sie übermäßige Sekunden (Hiatus) enthalten.
- die Ganztonleiter, da der letzte, zum Erreichen der Oktave benötigte Ganztonschritt in Wahrheit eine verminderte Terz (bei von c ausgehender Notation ais-c) ist.
- die chromatische Tonleiter
- die Modi mit begrenzten Transpositionsmöglichkeiten von Olivier Messiaen
Diatonische und chromatische Tonstufen im Notenbild
→ Hauptartikel: Chromatik: Diatonische und chromatische Tonstufen im Notenbild
Diatonischer und chromatischer Halbton
→ Hauptartikel: Chromatik: Diatonische und chromatische Halbtöne
In alten und neueren Gesangsschulen wird wegen ihrer unterschiedlichen Größe zwischen diatonischem und chromatischem Halbton unterschieden.[8]
- Diatonische Halbtonschritte sind: c-des,cis-d,d-es,dis-e,e-f,f-ges,fis-g,g-as,gis-a,a-b,ais-h,h-c.
- Chromatische Halbtonschritte sind: c-cis, des-d, d-dis, es-e, e-eis, f-fis, ges-g, g-gis, as-a, a-ais, b-h.
Auf unser Notensystem übertragen gilt also:
Beispiel Passus duriusculus. Akkorde hier nach W.A. Mozart Misericordias Domini d-MollChromatic (KV 205 a).
Die Halbtonschritte im Bass sind
c → h: diatonisch
h → b chromatisch
b → a diatonisch
a → as chromatisch
as → g diatonisch
Herleitungsverfahren und Geschichtliches


Die Bezeichnung diatonisch stellt lediglich eine Abgrenzung zur Chromatik dar; wie die Tonleitern konstruiert sind, ist damit noch nicht bestimmt. Diese können distanziell, harmonisch oder melodisch hergeleitet werden. Eine genauere engere Begriffsabgrenzung ist abhängig von der Betrachtungsweise des jeweiligen Musiktheoretikers.
Eine der möglichen Herleitungen beruht auf Quintschritten (F-C-G-D-A-E-H[9]), eine weiter gängige distanzielle auf einer Folge von Ganz- und Halbtonschritten (Ganzton-Ganzton-Halbton-Ganzton-Ganzton-Ganzton-Halbton). Hermann Grabners (1886–1969)[10] Definition wie auch die Johann Georg Sulzers[11] (1771) sind wesentlich ausführlicher.
In der Musik des antiken Griechenlands traten als Tongeschlechter (wohl wegen der ausschließenden Einstimmigkeit) neben der Diatonik auch die Chromatik und die Enharmonik auf. Einige der ältesten Quellen über die Diatonik gehen auf griechische Philosophen und Mathematiker zurück. Mehr Aufschluss findet man bei den Beschreibungen der griechischen Philosophen und Mathematiker Philolaos (Abschnitt Musiktheorie), Archytas (Abschnitt Musik), Aristoxenos (Abschnitt Harmonik), Euklid (Abschnitt Musiktheorie).
In der Spätantike beschreibt Boëthius (um 500) die pythagoreische Tonfolge, bezeichnete aber noch oktavverwandte Töne mit verschiedenen Buchstaben. Odo von Cluny (878 bis 942) vereinfachte die Schreibweise. Guido von Arezzo (um 1025) schrieb diese folgendermaßen.[12]
Schreibweise nach Odo Γ A B C D E F G a ♭ ♮ c d e ... heutige Schreibweise G A H c d e f g a b h c' d' e' ...
Es handelt sich hier um die pythagoreische Tonfolge, bei welcher der (pythagoreische) Ganzton das Frequenzverhältnis 9:8 (204 Cent) hat und der Halbton (Quarte – 2*pyth. Ganzton), auch Leimma genannt, das Frequenzverhältnis von 256:243 (90 Cent).[13][14]
Die Kirchentonarten zum Beispiel dorisch: D E F G a h c umfassten dann sieben Töne einer Oktave. Guido von Arezzo (um 1025) legte dafür die Grundlage, indem er Notenlinien und die Solmisation einführte. Hauptartikel Guidonische Hand.
Diatonische Handzuginstrumente
Der Begriff „diatonisch“ wird oft auch auf Handzuginstrumente angewendet, die auf Zug und Druck unterschiedliche Töne wiedergeben. Präziser wäre in diesem Fall „wechseltönig“, da die Wechseltönigkeit nicht diatonisch sein muss.
Literatur
- Zsolt Gárdonyi, Hubert Nordhoff: Harmonik. Möseler, Wolfenbüttel 2002, ISBN 3-7877-3035-4, S. 242–243.
Bemerkungen – Einzelnachweise
- ↑ Nach Riemann Musiklexikon. Sachteil Schott, Mainz 1967, S. 224. Ergänzende Erläuterung: In der altgriechischen Musiktheorie wurde unter τόνος=Ton im engeren Sinne der Ganzton verstanden, deshalb διάτονος: durch Ganztöne (gehend). Letzteres bezieht sich auf das diatonische Tongeschlecht bzw. den dafür maßgeblichen diatonischen Tetrachord, der das Rahmenintervall einer reinen Quarte „durch Ganztöne gehend“ auszufüllen versucht, wobei aber ein Rest in Form eines Halbtons (Diesis, später Limma genannt) übrigbleibt.
- ↑ Interpretation kann variieren (von griech. δια- + acc. = durch, hindurch ; τείνω = spannen, an-, ausspannen. Wenn man unter „Spannen“ das Aufspannen und Stimmen von Saiten einer Lyra oder Kithara annimmt, so kann man διατείνω frei als „durch eine Stimmung“ bzw. „durch eine Tonart“ übersetzen.
- ↑ Die rhythmische Gestaltung kann gleichwohl kompliziert sein.
- ↑ Diese Kriterien sind nur dann auch hinreichend für das Vorliegen einer diatonischen Tonleiter, wenn man an eine solche Tonleiter keine weiteren Forderungen stellt als die, den Oktavraum (irgendwie!) in fünf Ganz- und zwei Halbtöne zu teilen.
- ↑ Marc Honegger, Günther Massenkeil (Hrsg.): Das große Lexikon der Musik. Band 2. Herder, Freiburg im Breisgau 1987, ISBN 3-451-20948-9, S. 312.
- ↑ Zum Beispiel von Guido von Arezzo (992–1050) beschrieben
- ↑ Im Gegensatz Brahms – Wagner wurde ein erbitterter Streit ausgetragen. Wagner behält die Diatonik im Volkstümlichen und Historischen bei, findet aber zum Beispiel im Tristan die ihm eigene chromatische Tonsprache. Die „Brahmsianer“ halten dagegen die Diatonik mit Rückgriff auf die Kirchentonarten und den Kontrapunkt bei. Die ab 1906 von Arnold Schönberg entwickelten Zwölftontechnik steht schließlich in völligem Gegensatz zur Diatonik.
- ↑ Hier eine von vielen alten Quellen: Maternus Beringer: Musicae, das ist der freyen lieblichen Singkunst. Nürnberg: Georg Leopold Fuhrmann, 1610 (Nachdruck: Bärenreiter, Kassel 1974). Hier eine neuere Quelle: Bettina Gratzki: Die reine Intonation im Chorgesang. Verlag für systematische Musikwissenschaft GmbH Bonn 1993 (Exzerpt).
- ↑ Auch Quintschichtung genannt, dies sind Ausschitte aus dem Quntenzirkel
- ↑ Hermann Grabner: Allgemeine Musiklehre. Bärenreiter, Kassel 2004, ISBN 3-7618-0061-4.
- ↑ Textlog: Johann Georg Sulzer: Diatonisch, gesehen 16. September 2010.
- ↑ Online Dokument micrologusguido
- ↑ | Online Zitat: "Aus diesen Längenmaßen ergeben sich für die in der Tonreihe eingeschlossenen Intervalle folgende Verhältnisse: Kleine Secunde B-C E-F = 243:256; Große Secunde Γ-A, A-B u.s.w. 8:9; kleine Terz A-C, D-F u.s.w. = 27:32; große Terz C-E, F-a = 64:81; reine Quart Γ-C, C-F u.s.w. = 3:4; reine Quinte Γ-D, C-G u.s.w. = 2:3; kleine Sexte E-C = 81:128; große Sexte Γ-E, C-a u.s.w. = 16:27; kleine Septime Γ-F =9:16; große Septime C-♮ =128:243; Oktav Γ-G = 1:2; große Quart F-♮ =512: 729; kleine Quinte (als Umkehrung des Tritonus) = 729:1024."
- ↑ Der Ton Γ – eine Oktave unter G – diente zur Bestimmung der Quarte von Γ nach C. Damit umging man die Konstruktion des praktisch unmöglich auszuführenden Verhältnisses c:A = 32:27 oder gar c:H = 256:243).