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Gabriel Narutowicz

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Gabriel Narutowicz

Gabriel Narutowicz (* 17. März 1865 in Telšiai (Gouvernement Kowno, heutiges Litauen); † 16. Dezember 1922 in Warschau) war ein Wasserbauingenieur und Politiker. Er war der erste Präsident der Zweiten Polnischen Republik[1] und wurde fünf Tage nach seinem Amtsantritt bei einem politisch motivierten Attentat ermordet.

Jugend

Narutowicz wurde in eine polnische Kleinadelsfamilie (Szlachta), die im heutigen Litauen ansässig war, geboren. Zu seiner Geburtszeit gehörte Litauen und der größte Teil Polens zum Russischen Reich. Sein Vater hatte sich am Januaraufstand 1863 gegen die russische Herrschaft beteiligt und war danach zu einem Jahr Haft verurteilt worden. Er starb, als Narutowicz ein Jahr alt war. Die Mutter zog 1873 mit den Kindern nach Libau im Gouvernement Kurland (heute Liepāja in Lettland), wo Narutowicz das Gymnasium besuchte.

Studium und Übersiedlung in die Schweiz

Narutowicz musste sein Studium der Mathematik und Physik 1886 in St. Petersburg wegen einer Lungentuberkulose abbrechen und die Erkrankung in einer einjährigen Kur in Davos behandeln. Anschließend studierte er 1887–1891 Bauwesen am Eidgenössischen Polytechnikum (heute Eidgenössische Technische Hochschule, ETH) in Zürich, wo er als Diplom-Ingenieur graduierte.

Wasserbauingenieur

Kraftwerk Kubel1903

Narutowicz fand seine erste Beschäftigung nach dem Studium beim Bau der Eisenbahnstrecke nach St. Gallen. [2] Dann arbeitete er als Bauingenieur drei Jahre im Baubüro für Wasserversorgung und Kanalisation der Stadt St. Gallen und war anschließend ein Jahr lang Sektionsingenieur des Kantons St. Gallen beim Bau des rheintalischen Binnenkanals (Teil der österreichisch-schweizerischen Rheinregulierung). Seine Arbeiten erhielten 1896 Auszeichnungen auf der Internationalen Ausstellung in Paris.[2]

Nun begann für Narutowicz, der 1896 in der Nachbargemeinde Untereggen das Schweizer Bürgerrecht erhalten hatte, eine erfolgreiche Schaffensperiode bei dem in der Schweiz im Wasserbau führenden St. Gallener Ingenieurbüro von Louis Kürsteiner. Narutowicz Arbeiten an den Kraftwerkbauten Kubel bei St. Gallen (1898-1901 und vier Erweiterungen bis 1907), Le Refrain am Fluss Doubs im Jura (Inbetriebnahme 1909) und Monthey im Wallis sowie an mehreren bedeutenden Wasserversorgungs- und Kanalisationsanlagen brachten im hohes Ansehen. Auch innerhalb des Unternehmens machte er in kurzer Zeit Karriere und stieg vom Ingenieur zum Bürochef und schließlich zum Teilhaber auf.[1]

Wasserkraftwerk Andelsbuch bei Bregenz, Vorarlberg

Unter seiner Leitung entstand in Vorarlberg zwischen 1906 und 1908 als eines der damals größten und modernsten Kraftwerke der Monarchie Österreich-Ungarn das Wasserkraftwerk Adelsbuch [3].

Nach einem Lehrauftrag für Wasserversorgung und Kanalisation der ETH Zürich im Jahr 1906 ernannte ihn 1907 der Schweizerische Bundesrat zum ordentlichen Professor für Wasserbau. Narutowicz verließ 1908 das Ingenieurbüro Kürsteiner, zog mit seiner Familie nach Zürich und trat sein Amt an. Gegenüber der reinen Forschung stellte er seine praxisnahe Lehre in den Vordergrund und führte mit großem Einsatz nebenher ein eigenes Ingenieurbüro für Wasserbau. [1] Er erhielt Aufträge aus der Schweiz (Etzelwerk bei Einsiedeln), Italien (Montjovet auf dem Fluss Dora Baltea im Aostatal Italien) und Spanien (Buitreras auf dem Rio Guadiaro in der Provinz Malaga).[2]

Wasserkraftwerk Mühleberg bei Bern, Schweiz

Von 1913 bis 1920 war Narutowicz Dekan der Fakultät für Wasserbau an der ETH in Zürich. Er war ständiges Mitglied des Baureferats der Stadt Zürich, Mitglied des Ausschusses für Wasserwirtschaft des Eidgenössischen Departements des Innern und Delegierter der Schweizer Regierung in der Internationalen Kommission zur Rheinregulierung. Bei seiner Rückkehr nach Polen trat er von all diesen Ämtern zurück.[4]

Als Krönung seiner Ingenieurlaufbahn gilt das Aarekraftwerk Mühleberg unterhalb von Bern. Es wurde unter seiner Projekt- und Bauleitung 1917-1920 erstellt und fand damals als eines der modernsten und größten Mitteldruck-Speicherkraftwerke europaweit Beachtung. Die damit verbundene berufliche Belastung zwang ihn 1919, seine Professur an der ETH Zürich aufzugeben.[1]

Beziehung zu Polen

Schon während seiner Studienzeit half er Polen, die aus dem russischen Machtbereich geflüchtet waren. Er hielt auch Kontakt zu polnischen Exil-Organisationen wie der sozialistischen Partei im Exil, die sich Proletariat nannte. Dafür stellten ihm die russischen Behörden einen Haftbefehl aus und forderten seine Rückkehr. Da Narutowicz 1886 Schweizer Bürgerrecht erhalten hatte, konnte er mit dieser Bedrohung leben. Gabriel Narutowicz versuchte, nicht Partei zu ergreifen, sondern zwischen den zerstrittenen Flügeln zu vermitteln und den Opfern des Ersten Weltkriegs zu helfen.[1] Bei Kriegsausbruch unterstützte er die Politik Józef Piłsudskis, der die Wiederherstellung eines unabhängigen polnischen Staates anstrebte.

Bruder Stanisław Narutowicz

Sein älterer Bruder Stanisław, ein Rechtsanwalt, blieb in seiner Heimatstadt Telšiai und wurde nach dem Ende des ersten Weltkriegs Staatsbürger des nun ebenfalls unabhängigen Litauens. Er engagierte sich politisch und sprach sich für eine enge Allianz zwischen Polen und Litauen aus. Er wurde dabei von Piłsudski unterstützt, der auf ihn als künftigen Regierungschef Litauens setzte. Doch konnten sich die Befürworter eines propolnischen Kurses in Litauen nicht durchsetzen. [5]

In der Zweiten Polnischen Republik

Narutowicz im Gespräch mit Marschall Piłsudski, 1922

Nachdem Polen seine Unabhängigkeit wiedererlangt hatte, rief Piłsudski Gabriel Narutowicz in die Heimat zurück. Narutowicz wurde 1920 Verkehrsminister (Öffentliche Angelegenheiten) und 1922 Außenminister. Als Verkehrsminister bemühte er sich vor allem um den Aufbau der kriegszerstörten Infrastruktur. Er beteiligte sich persönlich an Bauentwürfen für Brücken, Straßen, einem Wasserkraftwerk in den Beskiden und der Regulierung der Weichsel. Als Außenminister war es ganz wesentlich seinem internationalen Ansehen und geschickten Auftreten (er sprach fließend Deutsch und Französisch) zu verdanken, dass die polnischen Interessen z. B. auf der Konferenz von Genua 1922 Gehör fanden. Die ersten Nachkriegsjahre in der Zweiten Polnischen Republik waren von großer politischer Instabilität geprägt, vergleichbar zu den ersten Jahren der Weimarer Republik.

Die Regierungen waren wegen fehlender stabiler parlamentarischer Mehrheiten nur kurz im Amt und die politischen Lager unversöhnlich verfeindet. Das Land litt unter einer Wirtschaftskrise und Inflation. Es gab schwerwiegende Grenzstreitigkeiten mit fast allen Nachbarstaaten (Deutsches Reich, Litauen, Tschechoslowakei, Sowjetunion) außer Rumänien und Lettland. Die aufgeheizte Stimmung der polnischen öffentlichen Meinung äußerte sich in weiten Teilen nationalistisch und ausgeprägt anti-russisch und anti-deutsch. Ein Drittel der Bevölkerung Polens gehörte zu nationalen Minderheiten (Ukrainer, Weißrussen, Deutsche, Litauer, Juden), denen jedoch keine oder nur eine sehr beschränkte kulturelle Autonomie zugestanden wurde und die im Sejm unterrepräsentiert waren (weniger als 5-10 % der Abgeordneten).

Auf Vorschlag Piłsudskis wurde Narutowicz schließlich mit den Stimmen der Linken, der Bauernpartei und der nationalen Minderheiten am 9. Dezember 1922 von der Nationalversammlung zum ersten verfassungsmäßigen Staatspräsidenten gewählt und am 11. Dezember vereidigt. Sein Vorgänger Józef Piłsudski hatte den Titel eines Staatschefs geführt und war eine Art Interims-Staatsoberhaupt gewesen. Narutowicz, aufgrund seiner gemäßigten und ausgleichenden Politik schon länger Zielscheibe nationalistischer Hetze, wurde daraufhin von polnischen Nationalisten scharf angegriffen, da er mit den Stimmen der Abgeordneten der nationalen Minderheiten gewählt worden war.

Ermordung

Die radikale Rechte sah ihn als "Verräter an der polnischen nationalen Sache". Narutowicz bemühte sich in den wenigen Tagen seiner Amtszeit um den Ausgleich und eine Regierungsbildung auf breiter parlamentarischer Basis, indem er z. B. seinem politischen Gegenkandidaten Maurycy Zamoyski das Amt des Außenministers anbot. Er wurde wenige Tage nach seiner Wahl auf dem Weg zu einer Kunstausstellung auf der Treppe der Kunsthalle Zachęta in Warschau von Eligiusz Niewiadomski, einem Kunstmaler und Fanatiker mit Verbindungen zur Narodowa Demokracja, ermordet. Möglicherweise hatte sich der Attentäter vom wenige Monate zuvor erfolgten Mord am deutschen Reichsaußenminister Walther Rathenau, der ebenfalls Opfer von nationalistischen Fanatikern geworden war, inspirieren lassen. Der Attentäter wurde gefasst, zum Tode verurteilt und hingerichtet, von Teilen der Rechten aber als Held und nationaler Märtyrer gefeiert.

Das Grab von Narutowicz befindet sich in der Johanneskathedrale in Warschau.

Ehrenwache an Narutowiczs aufgebahrten Sarg

Die fünf Tage der Präsidentschaft Narutowiczs und der Prozess um den Attentäter wurden vom polnischen Regisseur Jerzy Kawalerowicz 1977 in Der Tod des Präsidenten verfilmt.

Familie

Gabriels Vater Johannes Narutowicz war Bezirksrichter und Gutsbesitzer in Telšiai, seine Mutter Viktoria eine geborene Szezpowska. Sein Bruder Stanislaw Narutowicz (1862–1930) wurde Jurist und ging mit Selbstmord aus dem Leben. Über ihn bestand eine verwandtschaftliche Beziehung zur Familie Piłsudski, denn seine Frau Joanna Billewiczówna war eine Cousine von Marschall Józef Piłsudski (1867-1935).[1]

Schriften

Literatur

Commons: Gabriel Narutowicz – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. a b c d e f siehe Literatur NDB Daniel Vischer: Narutowicz, Gabriel
  2. a b c Janusz Pajewski, Waldemar Łazuga: Gabriel Narutowicz. Pierwszy Prezydent Rzeczypospolitej. Warszawa: Książka i Wiedza, 1993, s. 45-47. ISBN 8305126242.
  3. Beschreibung des Kraftwerks auf der Webseite der VKW
  4. Tagesanzeiger: Dieses Kraftwerk baute ein Präsident, 26.Juli 2009, gesehen 26. Juli 2009
  5. siehe Weblink Andrzej Pukszto: Litewski brat polskiego prezydenta, Stanislaw Narutowicz